Bernhard, Lars, Falsche Verdächtigung (§§ 164, 165 StGB) und Vortäuschen einer Straftat (§145d StGB). Reformdiskussion und die Gesetzgebung seit 1870 (= Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 3 Beiträge zur modernen deutschen Strafgesetzgebung – Materialien zu einem historischen Kommentar 11). Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2003. XVIII, 257 S. Besprochen von Georg Steinberg.

 

Bernhard leistet mit seiner Dissertation eine sorgfältige und gründliche Aufarbeitung des Wandels, dem die Straftatbestände der falschen Verdächtigung und des Vortäuschens einer Straftat (heute § 164 mit § 165 sowie § 145d StGB) in den letzten einhundertfünfzig Jahren unterworfen gewesen sind. Die Arbeit, die, worauf der Untertitel hinweist, weniger dogmengeschichtlich, als vielmehr gesetzgebungsgeschichtlich angelegt ist, zeichnet sich vor allem durch eine umfassende Auswertung des bestehenden Quellenmaterials aus: Neben den veröffentlichten Materialien zieht Bernhard insbesondere unveröffentliche Aktenbestände des Reichsjustizamts (für Kaiserreich und Weimarer Republik), des Reichsjustizministeriums und der Reichskanzlei (für die nationalsozialistische Zeit) sowie des Bundesjustizministeriums (für die Zeit nach 1945) heran.

 

Auf dieser Basis zeichnet Bernhard die gesetzgebungsgeschichtliche Entwicklung der betreffenden Tatbestände im Einzelnen nach, indem er zunächst die Diversität der deutschen Partikulargesetzgebung des 19. Jahrhunderts belegt, vor deren Hintergrund er sodann überzeugend die dogmatischen Fragestellungen, insbesondere die der systematischen Verortung der falschen Verdächtigung bei ihrer Einführung in das Reichsstrafgesetzbuch 1870 herausarbeitet. Die damit in Zusammenhang stehende Diskussion um das Schutzgut der Norm (Rechtspflege contra Individualrechte) spielt, wie Bernhard sorgfältig belegt, in den folgenden Jahren in Rechtsprechung und Wissenschaft und noch in den Reformdiskussionen der 1920er Jahre eine bedeutsame Rolle. Auch die Entwicklungen in der nationalsozialistischen Zeit, vor allem geprägt durch die tatbestandliche Ausweitung der falschen Verdächtigung im Jahr 1933 und Einführung des § 145d StGB im Jahr 1943, vollzieht Bernhard detailliert und mittels engen Quellenbezugs anschaulich nach. Für die Nachkriegszeit sind Reformdiskussionen seit den 1950er Jahren relevant; ihre heutige Fassung erhalten die Vorschriften 1975/1976.

 

Diese mustergültige Auswertung setzt den Verfasser in die Lage, charakteristische kontinuierliche Entwicklungslinien der untersuchten Straftatbestände auszumachen, insbesondere die schrittweise tatbestandliche Ausdifferenzierung, vor allem aber auch die tatbestandliche Ausweitung der Normen seit dem jeweiligen Einführungszeitpunkt; lediglich der Tatbestand der falschen Verdächtigung wird nach 1945 wieder verengt (indem er seit 1969 wieder dolus directus statt – seit 1933 ausreichender – Leichtfertigkeit voraussetzt).

 

Dieser Befund steht, so der Verfasser, in Zusammenhang mit der staatsideologischen „Instrumentalisierung“ der Normen (als weiterer Entwicklungslinie), deren Höhepunkt ebenfalls in nationalsozialistischer Zeit liege. Allerdings vermögen die Ausführungen hier nicht zu überzeugen, da die Instrumentalisierbarkeit nicht deutlich von der Problematik des „nationalsozialistischen Gedankenguts“ einer Norm abgegrenzt wird (S. 208-212). Darüber hinaus geht bereits aus den vom Verfasser selbst zitierten Stellungnahmen des Jahres 1933 (offizielle Gesetzesbegründung, Rundschreiben des Reichsministers des Innern; S. 99-101) deutlich hervor, dass die Tatbstandserweiterung gerade nicht den Schutz von Nationalsozialisten vor Denunziation, sondern allgemein die Eindämmung der Denunziation als aufkommenden gesellschaftlichen Massenphänomens bewirken sollte. Vor allem aber fehlt hier eine Berücksichtigung der durchaus vorhandenen Literatur zu diesem ambivalenten Phänomen (statt aller: Rüping, Hinrich: Denunziation und Strafjustiz im Führerstaat, in (Hg.): Jerouschek, Günter/Marßolek, Inge/Röckelein, Hedwig, Denunziation: historische, juristische und psychologische Aspekte, Tübingen 1997, S. 127ff.).

 

Im Übrigen aber sei es nicht als Vorwurf verstanden, dass der Verfasser eine vergleichsweise schmale Auswahl an Sekundärliteratur zitiert. Dies rechtfertigt sich vollauf durch die selbstständig für sich stehende Quellenauswertung, mit der der Autor seinen Anspruch, eine im Grundsatz auf die Gesetzgebungs- und Novellierungsgeschichte der Normen beschränkte Untersuchung vorzulegen, umfassend einlöst. Aufgrund ihrer Präsizion auch im Detail wird sie für künftige historische Untersuchungen zu den §§ 164, 165; 145d StGB eine überaus nützliche, wenn nicht unverzichtbare Grundlage bilden.

 

Hannover                                                                                                       Georg Steinberg