Baranowski, Günter, Die Russkaja Pravda – ein
mittelalterliches Rechtsdenkmal (= Rechtshistorische Reihe 321). Lang,
Frankfurt am Main 2005. 769 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Im Gegensatz zum Süden Europas, über den Schriftsteller fast
seit der Erfindung des Alphabets viele Einzelheiten berichten, ist der Osten
Europas deutlich unbekannter und das Interesse daran auch sichtbar geringer.
Umso notwendiger ist es, eine grundlegende Arbeit über das alte russische Recht
nicht nur, wie dies Hans Hattenhauer erfreulicherweise empfohlen hat, äußerlich
leicht zugänglich zu machen, sondern auch auf ihren Inhalt wenigstens kurz
hinzuweisen. Vielleicht kann dadurch das durchaus beachtliche Gewicht des
Ostens besser ersichtlich werden.
Was motiviert mich, so fragt der Verfasser seine Leser am
Beginn seiner Vorbemerkungen, die Texte und Interpretationen der Russkaja
Pravda dem deutschsprachigen Leserkreis vorzustellen? Es ist vor allem die
Tatsache, dass nach den umfassenden und tiefgründigen Arbeiten Leopold Karl
Goetz’ vor fast 100 Jahren im deutschsprachigen Raum sehr wenig getan wurde, um
dieses bedeutendste Denkmal des altrussischen Rechts weiter zu erschließen.
Lediglich die Namen Brinkmann, Kohler, Kadlec, Gitermann, Lothar Schultz, Otto
Kronsteiner, Otto Böss und Dieter Strauch ließen sich in diesem Zusammenhang
nennen.
Er selbst verfolge vornehmlich zwei Ziele. Erstens gehe es
ihm darum, deutsche Textfassungen der Russkaja Pravda zu gewinnen, welche unter
rechtsgeschichtlichem Aspekt die Qualität der bisherigen deutschen
Übersetzungen nach Möglichkeit übertreffen und die neueren und neuesten
wissenschaftlichen Klärungsbemühungen berücksichtigen. Zweitens wolle er den
Gang der wissenschaftlichen Diskussion zur Russkaja Pravda, zu ihren einzelnen
Redaktionen und Artikeln in möglichst chronologischer Ordnung aufzeigen.
Dabei müsse er einräumen, dass manche Werke trotz aller
Bemühungen außer seiner Reichweite geblieben seien, weil seit 1990 der Zustrom
russischer rechtsgeschichtlicher Literatur in den deutschen wissenschaftlichen
Bibliotheken merklich gedrosselt worden sei. Außerdem sei er weder Philologe
noch Russlandhistoriker, sondern Jurist und Rechtshistoriker. Deswegen könne
seine Arbeit der Erhellung der juristischen Substanz in den altrussischen
Texten und in den Werken der Kommentatoren bestimmte Grenzen
verständlicherweise nicht überwinden.
Unmittelbar im Anschluss an diese knappen Vorbemerkungen
schließt der Bearbeiter die altrussischen Texte der Russkaja Pravda in
modernisierter russischer Schreibweise an und übersetzt sie möglichst
wortgetreu unter Belassung altrussischer Termini technici. Nacheinander folgen kurze
Pravda nach der akademischen Handschrift (mit 43 Artikeln), erweiterte Pravda
nach der Troicahandschrift (mit 121 Artikeln) und verkürzte Pravda nach der
Tolstovskij IV-Handschrift (mit 50 Artikeln). Danach setzt er mit der und gegen
die sehr vielfältige Literatur – kaum irgendeine Meinung zu irgendeinem Aspekt
der kurzen Pravda werde nicht mit gleicher Leidenschaft von anderen Autoren
verworfen - den ersten Teil der kurzen Pravda bis Artikel 17 oder 18 in die
Jahre 1015/1016 oder um 1035, die weiteren sehr inhomogenen Artikel am ehesten
in das Jahr 1072, die Zusammenfassung beider Teile in die Zeit zwischen 1090
und 1100, die erweiterte Pravda in das erste Viertel des 12. Jahrhunderts und
nach Kiev, die verkürzte Pravda in die Mitte des 15. Jahrhunderts, das 16.
Jahrhundert oder das zweite Viertel des 17. Jahrhunderts. Die wissenschaftlichen
Streitigkeiten gründeten sich hauptsächlich auf das Fehlen der Überlieferung
einer amtlichen Form. Die Aufzeichnungen stammten überwiegend aus dem 13. bis
17. Jahrhundert und befänden sich in Chroniken und Sammlungen.
Danach beschreibt er die in einer Vielzahl von Werken
überkommenen Handschriften näher. Deren Kenntnis ging freilich in der frühen
Neuzeit weitgehend verloren. Eine Wiederentdeckung begann erst im Jahre 1738,
doch wurden am Ende des 18. Jahrhunderts kurze Pravda und erweiterte Pravda
einem größeren Leserkreis bekannt.
Hieran anschließend beschreibt Günter Baranowski in
Grundzügen die Erforschung und Publikation der Pravda im 19. und 20.
Jahrhundert mit sehr vielen Details. Auf dieser Grundlage versucht er eine
Bilanz. Sie nimmt zu allen streitigen Punkten Stellung.
Es folgen die sehr ausführlichen Kommentare zu den einzelnen
Fassungen und zu den einzelnen Artikeln. Sie nehmen mit mehr als 500 Seiten den
meisten Raum des Buches ein. Der verkürzten Pravda wird dabei entsprechend
ihrer späten Entstehung nur wenig Platz gewidmet.
In den anschließenden Schlussbemerkungen betont der
Bearbeiter, dass die Russkaja Pravda vom Inhalt her deshalb ein Rechtsdenkmal
ist, weil die Ostslaven-Russen mit ihr den Weg von der Unbestimmtheit der
Gewohnheit zur Bestimmtheit des Rechts, von der unbemessenen Rache zur
bemessenen Strafe und dem bemessenen Schadensersatz, von der Selbsthilfe zum
Schutz von Leben, Körper, Ehre und Gut gegangen seien. Sie stehe trotz der
unbefriedigenden Kenntnisse über ihre unmittelbare praktische Wirksamkeit am
Anfang der russischen rechtlichen Zivilisation. Die Regelungen seien
beispielhaft, nicht umfassend, die Einflüsse von außen begrenzt, aber noch
nicht hinreichend untersucht.
Am Ende bietet der Verfasser ein Glossar der unübersetzt
verwendeten Ausdrücke, sechs kurze Beilagen und ein umfangreiches
Literaturverzeichnis. Er rundet damit die sicher derzeit beste Behandlung
dieses wichtigen europäischen Rechtsdenkmals in schöner Weise ab. Jedermann,
dem an der Einbeziehung Russlands in die europäische Rechtsgeschichte gelegen
ist, kann dem Verfasser für die Vermittlung der sonst kaum zugänglichen
Ergebnisse der russischen Literatur nur bestens danken – eine wertvolle,
wichtige Leistung, die sehr viel mehr enthält, als an dieser Stelle summarisch
gezeigt werden kann.
Innsbruck Gerhard
Köbler