Adler, Sebastian, Das Verhältnis von Richter und Parteien in der preußischen und deutschen Zivilprozessgesetzgebung (= Rechtsgeschichtliche Studien 13). Kovač, Hamburg 2006. 421 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Adler geht davon aus, dass die preußische Allgemeine Gerichtsordnung von 1793/95 wie auch die Civilproceßordnung/Zivilprozessordnung von 1877/98 häufig „als Gegensätze, als Musterbeispiele für die Ausrichtung von Gesetzen an der einen oder anderen Maxime des Verfahrens“ gelten (S. 18). „Aber stimmt diese pauschale“, so fragt Adler, „oft nur oberflächlich begründete Aussage? Ein Blick auf die Gesetzgebungsgeschichte und die Betrachtung der Reformen beider Gesetze kann helfen, diese Frage zu beantworten“ (S. 18). Bei den angesprochenen Maximen handelt es sich um die Instruktions-/Inquisitionsmaxime, die nach überwiegender Meinung der AGO zugrunde liegt, und um die Verhandlungsmaxime (zu unterscheiden von der Dispositionsmaxime, die für beide Kodifikationen gilt), die der CPO zugrunde liegen soll. Die aufgeworfenen Fragen lassen sich nach Meinung von Adler am besten anhand des Verhältnisses von Richter und Parteien (Sammlung bzw. Ermittlung der Tatsachen, Beweisaufnahme, Einfluss des Eides, allgemeine Bedeutung der richterlichen Unterstützung der Partei) untersuchen. Allerdings überrascht es, dass in derselben Monographie die beiden sehr unterschiedlichen Zivilprozessformen Berücksichtigung finden. Jedoch erscheint dieses Vorgehen wohlbegründet, da sowohl die preußischen Prozessordnungen (Corpus Juris Fridericianum [CJF] und AGO) als auch die CPO „an ihrem Anspruch, den jeweils für richtig gehaltenen Grundgedanken bis ins Detail zu verfolgen und so der Theorie die Herrschaft über die Gesetzgebung einzuräumen, letztlich an der Rechtsanwendung in der Praxis gescheitert“ sind. Mit den Prozessrechtsreformen von 1833/46 für das preußische Recht und von 1924/33 für die ZPO haben sich beide Gesetze einander angenähert, von einem Gegensatz, wie er oft propagiert wird, könne nach den entsprechenden Novellen nicht mehr die Rede sein (S. 387). Adler geht von der Aufstellung von jeweils gegensätzlichen Prozessmaximen durch N. Th. v. Gönner in seinem „Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses“ (2. Aufl. 1804) aus, die jedoch in ihrer Reinform niemals Gesetz geworden sind, ein Umstand, den insbesondere die Kritik an der AGO nicht hinreichend berücksichtigt hat und welcher der AGO, als mit der Instruktions-/Inquisitionsmaxime verbunden, einen verhängnisvollen negativen Stempel aufgedrückt hat (S. 102).

 

Adler untersucht zunächst für das Verhältnis von Richter und Parteien die preußische Entwicklung (S. 23-153) und zwar vom CJF von 1781 an über die AGO bis zur Gesetzrevision, den Reformgesetzen von 1833 und 1846 sowie zum Entwurf von 1864. Für die CPO/ZPO geht Adler ein auf die CPO-Entwürfe des Deutschen Bundes und des Norddeutschen Bundes, den Entwurf von Leonhardt von 1871, die CPO selbst und auf die ZPO-Novellen von 1898, 1909, 1924 und 1933 sowie auf die zahlreichen Novellen der Bundesrepublik, insbesondere von 1976 und 2001 (S. 155-365). Sowohl die preußischen Gerichtsordnungen als auch die ZPO neigten anfangs zu theoretischen Extremen, die erst durch die Kritik der Praxis „im Laufe der Geltung auf ein handhabbares Maß zurückgeführt“ worden seien (S. 373). Als wichtigster Unterschied zwischen dem preußischen und dem deutschen Recht arbeitet Adler heraus, dass die preußischen Reformer den Richter in den Blickpunkt genommen und das Verfahren um die ihm aufzuerlegenden Pflichten herum konstruiert hätten. Bei der CPO stand nach Adler der einzelne Bürger im Mittelpunkt, das Verfahrensrecht sei ganz auf die Möglichkeit der Durchsetzung seines Willens ausgerichtet gewesen (S. 373). Allerdings war bereits in der AGO das Instruktions-/Inquisitionsprinzip nicht rein verwirklicht (S. 97ff.); ähnliches gilt auch für den Verhandlungsgrundsatz in der CPO von 1877 mit der noch in der Justizkommission des Reichstags erweiterten Fragepflicht des § 130 CPO (§ 139 ZPO). Unabhängig von dieser Feststellung folgt die ZPO spätestens seit der Novelle von 1924 keiner als theoretisches Extrem zu verstehenden Maxime mehr, weder in der einen noch in der anderen Richtung. Niemand propagiere, so Adler, die Verhandlungsmaxime heute noch in ihrer Reinform, ein Großteil der prozessrechtlichen Literatur unterwerfe sich ihr jedoch weiterhin (vgl. S. 378). Nach den Reformen von 1924/33 sei die ZPO entsprechend einer „gesetzestreuen und den gesetzgeberischen Intentionen gemäßen Lesart dem preußischen Recht näher als dem Charakter des Gesetzes von 1877 (vgl. S. 378). Für die ZPO-Reformen stellt Adler besonders die Verschärfung und stärkere Akzentuierung der Frage-, Aufklärungs- und Hinweispflichten in § 139 ZPO durch die Novellen von 1924 und 2001 heraus (S. 272f., 352f.).

 

Mit seinem Werk hat Adler wichtige Grundfragen der Geschichte des preußischen Zivilprozessrechts des 18. und 19. Jahrhunderts sowie Deutschlands von den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts bis in das beginnende 21. Jahrhundert hinein erschlossen. Insgesamt hätte die Darstellung an Präzision noch gewonnen, wenn Adler sich strikter auf die Kernaussagen der Gesetze zum Verhältnis Richter/Parteien (Rechtsanwälte) konzentriert hätte. Am besten gelungen ist die Darstellung für den CJF und die AGO sowie für die CPO von 1877 und die Novellen von 1924/33. Nützlich sind auch die Abschnitte über die zeitgenössischen Reaktionen auf die Prozessgesetze und deren Novellen (für die AGO S. 99ff., die CPO S. 210ff., die Novelle von 1924 S. 276ff.). Sehr instruktiv sind die drei Exkurse über die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Fragepflicht (S. 248ff. bis 1918; S. 293ff. für die Zeit zwischen 1920 und 1945; S. 338ff. zur eher restriktiven Handhabung des § 139 ZPO durch den Bundesgerichtshof). Abgewogen ist die Darstellung der Zivilprozessgesetzgebung und Ziviprozessrechtswissenschaft in der NS-Zeit, wenn auch die Reformdiskussion in der Akademie für Deutsches Recht und im Reichsjustizministerium in den Jahren 1941-1943 (hierzu die Quellen bei W. Schubert, Protokolle der Ausschüsse der Akademie für Deutsches Recht, Bd. VI, Frankfurt am Main 1997, S. 301ff.) unberücksichtigt geblieben ist. Insbesondere tragen die Vorschläge von Baumbach (1938) und Jonas (1941) einzelne Züge des preußischen Prozesses nach der AGO (S. 298f.), mit deren Propagierung in der NS-Zeit sich diese Autoren jedoch in ein schiefes Licht gebracht haben. Weniger gelungen sind demgegenüber die Abschnitte über die preußischen Reformgesetze von 1833 und 1846 sowie die ZPO-Novellen der Bundesrepublik, die auch nach Meinung Adlers für das Verhältnis Richter/Parteien keinen markanten Einschnitt, keinen Richtungswechsel (wie noch die Novelle von 1924) brachten. Auffallend ist allerdings, dass der Verfasser nur am Rande auf den französischen Zivilprozess eingeht, der für die deutsche Entwicklung im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt hat, wenn dieser auch eine dem § 139 ZPO entsprechende Norm nicht kennt (vgl. hierzu Bert-Hagen Strodthoff, Die richterliche Frage- und Erörterungspflicht im deutschen Zivilprozess in historischer Perspektive, Rechtshistorische Reihe, Bd. 295, Frankfurt am Main 2004, S. 58ff.). Schon F. Bomsdorf (Prozessmaximen und Rechtswirklichkeit, 1971) und J. Damrau (Die Entwicklung einzelner Prozessmaximen seit der Reichszivilprozessordnung von 1877, 1975) haben sich mit der Entwicklung der Prozessmaximen und ihrem Verhältnis zur Rechtswirklichkeit befasst. Adler bringt erstmals unter besonderer Berücksichtigung der Frage- und Aufklärungspflicht des Richters eine detaillierte Darstellung für die Instruktions-/Inquisitionsmaxime und die Verhandlungsmaxime im Zivilprozess. Ungeachtet einiger Längen bzw. wenig konzentriert geschriebener Abschnitte liegt mit dem Werk von Adler eine lesenswerte Darstellung der preußischen und deutschen Zivilprozessrechtsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte vor, die eine Abkehr von eingefahrenen „Zerrbildern“ (S. 387) insbesondere des preußischen Prozesses nahe legt.

 

Kiel

Werner Schubert