Wulff-Kuckelsberg, Susanne, Procureurs – Accusateurs – Commissaires. Die ursprünglichen Funktionsträger der Staatsanwaltschaft (= Europäische Hochschulschriften 2, 4092). Lang, Frankfurt am Main 2005. 463 S.

 

In der deutschen Literatur sei zwar allgemein anerkannt, so Wulff-Kuckelsberg, dass die Staatsanwaltschaft in Deutschland nach französischem Vorbild geschaffen worden sei und ihre Wurzeln folglich in Frankreich zu suchen seien. Gleichwohl werde dieser Gedanke nicht näher aufgegriffen und mit der französischen Entwicklung verknüpft: „Vielmehr bleiben die Entstehungsgeschichte der französischen und der deutschen Staatsanwaltschaften nebeneinander stehen, so als gäbe es keinen Zusammenhang“ (S. 34). Wie „selbstverständlich“ (S. 34) gelte die Institution der Staatsanwaltschaft als Errungenschaft der Aufklärung bzw. der Revolution (vgl. den Titel des Werkes von Hans Günther: Staatsanwaltschaft, Kind der Revolution, Frankfurt am Main 1973). Im Mittelpunkt der Darstellung der Verfasserin steht die Entwicklung der Staatsanwaltschaft zwischen 1789 bis zur Etablierung des napoleonischen ministère public 1800/01. Zunächst arbeitet sie heraus, dass die Staatsanwaltschaft auf die im 14. Jahrhundert geschaffene Institution der königlichen Prokuratoren zurückgeht. Ihre dominierende Stellung im Strafverfahren erlangten die Prokuratoren mit der ordonnance criminelle von 1670. Nach Meinung der Verfasserin handelte es sich bei dem Strafverfahren von 1670 um einen akkusatorisch beeinflussten Inquisitionsprozess, bei dem der Prokurator als Strafverfolgungs- und eigenständiges Prozessorgan eine dominierende Stellung einnahm. Darüber hinaus übte die Staatsanwaltschaft auch Kontrollfunktionen gegenüber den Richtern und deren korrekter Rechtsanwendung aus. Nach den Forderungen der Enzyklopädisten sollte statt eines geheimen schriftlichen Verfahrens ohne Verteidigungsmöglichkeiten für den Angeklagten ein Verfahren eingeführt werden, das die Rechte des Angeklagten gebührend beachtete und klaren, unveränderlichen Regeln folgte.

 

In den Beratungen der Constituante stieß die Doppelrolle der Staatsanwaltschaft als Gesetzeswächter und als Anklagevertreter (als öffentliche Partei) auf Widerstand, so dass es zu einer Funktionsteilung kam. Die Beamten der Staatsanwaltschaft (ministère public) wurden nach der Verfassung von 1791 Vertreter der Exekutive vor den Gerichtshöfen: „Ihre Funktion besteht darin, bei den zu fällenden Urteilen die Beachtung der Gesetze durchzusetzen, die die allgemeine Ordnung betreffen, und die Urteile vollstrecken zu lassen“ (S. 267). Sie trugen die Amtsbezeichnung commissaires de Roi und hatten auch im Untersuchungsverfahren dessen Gesetzmäßigkeit zu überwachen. Sie hatten jedoch nicht mehr die Funktion als öffentlicher Ankläger, die nach Meinung des Parlaments eine judikative Aufgabe darstellte, die entweder einem Mitglied des Gerichts auf Zeit oder einem vom Volk gewählten accusateur public übertragen werden sollte. Die Parlamentsmehrheit entschied sich in der neuen Strafprozessordnung vom September 1791 (loi sur la police de sûreté, la justice criminelle, et l’institution de jurés) für die letztere Variante. Der öffentliche Ankläger führte allerdings nicht die Ermittlungen, sondern trat erst in volle Funktion, wenn sie abgeschlossen waren. Die Anklage war nach englischem Vorbild von einer Anklagejury zuzulassen. Erst in der Hauptverhandlung vor der Jury trat der öffentliche Ankläger voll in Aktion, während er hinsichtlich der Strafhöhe kein Antragsrecht mehr hatte, das dem königlichen Kommissar zustand. Nach der Abschaffung der Monarchie wurde unter der Jakobinerherrschaft bereits im Oktober 1792 für die Kriminalgerichte die separate Institution der „Kommissare“ mit derjenigen des öffentlichen Anklägers vereinigt. Diese erfuhr mit dem Verzicht auf das Vorverfahren vor dem Revolutionstribunal und für bestimmte Strafverfahren an den Kriminalgerichtshöfen einen erheblichen Machtzuwachs. Auf das Konto des Anklägers beim Pariser Revolutionstribunal soll die Hinrichtung von 15.000 Personen gehen (S. 361). Unter dem Direktorium (1795-1799) wurde die Zweiteilung der Staatsanwaltschaft mit dem gleichen Aufgabenkreis wie vor der Schreckensherrschaft wieder hergestellt. Der Exekutivkommissar wurde vom Direktorium ernannt. Mit der Konsulatsverfassung vom Dezember 1799 wurde das Amt des öffentlichen Anklägers erneut abgeschafft und die Funktion der öffentlichen Anklage mit den Aufgaben der Kommissare in der Hand von Regierungskommissaren vereinigt (Detailregelung im Gesetz über die Organisation der Tribunale vom März 1800 und im Ergänzungsgesetz zur Strafprozessordnung von 1795). Die Befugnisse des Regierungskommissars bzw. dessen Stellvertreters im Vorverfahren wurden gegenüber dem bisherigen Recht ausgeweitet und die frühere Amtsbezeichnung procureur alsbald wieder hergestellt. Die alleinige Zuständigkeit des Regierungskommissars bedeutete nach Meinung der Verfasserin keine Rekonstituierung (Wiederherstellung) der Staatsanwaltschaft, sondern eine Refusionierung staatsanwaltschaftlicher Aufgaben. Mit der Abschaffung des öffentlichen Anklägers, so die Verfasserin, seien allerdings nicht die dogmatischen Probleme, derentwegen seinerzeit die Funktionstrennung vollzogen worden sei, nämlich die Vereinigung exekutiver und judikativer Aufgaben ein einem Amt, verschwunden, das – richtig eingesetzt – „zum effektiven Machtinstrument“ werden konnte (S. 395).

 

Mit der Vereinigung der beiden miteinander kollidierenden Funktionen des Staatsvertreters war die moderne Staatsanwaltschaft geboren, die Vorbild für die Rezeption dieser Institution in Deutschland in den rechtsrheinischen Gebieten – allerdings grundsätzlich beschränkt auf die Ermittlungs- und Anklagefunktion – war. Sowohl die Herausbildung der napoleonischen Staatsanwaltschaft als auch die Rezeptionsgeschichte sind nicht mehr Gegenstand der Arbeiten der Verfasserin. Die Darstellung hat ihren Schwerpunkt in der parlamentarischen Entstehungsgeschichte der Bestimmungen über die Staatsanwaltschaft in der Verfassung und im Gerichtsverfassungs- und Strafverfahrensgesetz von 1791. Die präzise Analyse der Gesetzestexte und der sich aus den Parlamentsprotokollen ergebenden Entwürfe und Debattenbeiträge, welche eine erstaunliche Meinungsvielfalt dokumentieren, finden auch in der französischen rechtshistorischen Literatur bisher kein Gegenstück. Die z. T. ausführlich zitierten Texte, die in den Fußnoten im Original mitgeteilt werden, sind zuverlässig übersetzt. Die Gesetzestexte von 1791 sowie Kurzbiographien der für die Strafrechtsreform maßgebenden Abgeordneten sind im Anhang enthalten. Nicht näher berücksichtigt hat die Verfasserin die zeitgenössische rechtspolitische Literatur sowie für die Zeit ab 1793 die parlamentarischen Quellen. Auch auf die Praxis der Strafverfolgung in der Revolutionszeit geht die Verfasserin nicht detailliert ein. Dies mindert jedoch in keiner Weise die Verdienste der Verfasserin, die präziser, als dies bisher in der umfangreichen deutschen Literatur zur Geschichte der Staatsanwaltschaft geschehen ist, herausgearbeitet hat, dass der Grundstein für die Staatsanwaltschaft in der Institution der Prokuratoren bereits im 14. Jahrhundert gelegt wurde. Die moderne Staatsanwaltschaft ist kein Kind der Aufklärung bzw. der Revolution. Letztere Bezeichnung verdient, so die Verfasserin mit Recht – nur das 1790/91 geschaffene, aber bereits nach zehn Jahren beseitigte selbstständige Amt des nicht von der Exekutive ernannten Anklägers. Mit ihrem auch für die deutsche Rechtsgeschichte bedeutsamem Werk hat Wulff-Kuckelsberg einen wichtigen Beitrag zur neueren europäischen strafrechtlichen Institutionengeschichte geleistet, auf dem eine Geschichte der napoleonischen Staatsanwaltschaft und ihrer Einflüsse auf die deutsche Rechtsentwicklung aufbauen kann.

 

Kiel

Werner Schubert