Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur, hg. v. Gosewinkel, Dieter (= Das Europa der Diktatur 4, Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 180). Klostermann, Frankfurt am Main 2005. LIX, 427 S.

 

Der von Gosewinkel herausgegebene Band beruht auf einer von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt vom 14.-16. 6. 2001 veranstalteten Tagung im Rahmen des Forschungsprojekts: „Das Europa der Diktatur. Wirtschaftskontrolle und Recht“. Das Werk wird eingeleitet mit einem 51 Seiten umfassenden Aufsatz Gosewinkels über den Problemaufriss, die einzelnen Beiträge und über die Erträge einschließlich eines Forschungsausblicks (S. IX-LIX). In einem „Zeitalter der staatlichen Intervention, Organisation und Planung im Bereich der Wirtschaft“ (S. XI), so die Grundthese Gosewinkels, sei das Recht „ein tradiertes, in den Händen europäischer Diktatoren besonders wirksames Instrument der Kontrolle und Lenkung“ gewesen. Auf die mehrfache Krise des Liberalismus reagierte das politische System der europäischen Staaten mit verstärkter Intervention, wobei die diktatorischen Regime den Modellfall des reglementierenden und planenden Wirtschaftsstaats darstellten (S. X). Allerdings war die Kontrolle der Wirtschaft bereits seit der Entstehung des Interventionsstaates im ausgehenden 19. Jahrhundert in den Mittelpunkt der Steuerungsversuche gerückt. Als Grundhypothese setzt Gosewinkel die Möglichkeit voraus, „dass das Recht als eigenständige, der diktatorischen Politik nicht restlos verfügbare Institution jedenfalls in Teilen bestehen blieb“ (S. XXII). Dabei geht es um die grundsätzliche Frage „nach der Funktion des Rechts und den verschiedenen Rechtsformen in der Wirtschaft des Nationalsozialismus“, um die Frage, wie weit das Recht Sphären autonomer Wirtschaftgestaltung schützte, die für den kontrollierenden Wirtschaftsstaat unverfügbar waren, und inwieweit das Recht eine Stabilisierungs- und Lenkungswirkung für die nationalsozialistische Wirtschaft hatte (S. XXIIff.).

 

Der erste Teil der Beiträge „Steuerung und Rechtszerfall als Problem einer Rechts- und Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus“ (S. 3-132) behandelt grundsätzliche, auch theoretische und methodische Probleme der Steuerung im Bereich von Recht und Wirtschaft unter dem Nationalsozialismus. Der von der Systemtheorie ausgehende Beitrag Ludolf Herbsts erklärt die Steuerungserfolge der NS-Wirtschaft aus der Radikalität und den polykratischen Effekten direkter Steuerungsmaßnahmen in einem „ansonsten indifferenzierten System“ (Gosewinkel, S. XXVII). Nach W. Seibel setzte der Funktionsverlust der wirtschaftspolitischen Steuerung durch Rechtssetzung bereits mit der teilweisen Entmachtung von Schacht und der gleichzeitigen Ernennung Görings zum Beauftragten für den Vierjahresplan ein. Seit Kriegsbeginn habe das Recht als Steuerungsinstrument nur noch eine untergeordnete Rolle gespielt. Die Wirtschaftsrechtsnormen entfalteten nur dort ihre höchste Wirksamkeit, wo es um die Ausschaltung und Plünderung rechtloser Minderheiten, insbesondere der Juden, ging. Im Übrigen weist Seibel anhand der ökonomischen Dogmengeschichte darauf hin, dass in der Anfangszeit des Nationalsozialismus Kontinuitäten im antiliberalen und antiposivistischen Denken der Funktionseliten herrschaftsstabilisierend gewesen seien. H. Dreier stellt in seinem Beitrag der durchgreifenden Zerstörung des Staatsrechts die „signifikant höhere Beharrungskraft des Wirtschaftssystems und des Wirtschaftsrechts“ gegenüber (S. 39ff.). B. Rüthers erinnert daran, dass die rechtliche Steuerung der Wirtschaft nicht nur durch Rechtsauslegung, sondern in weitem Maße auch durch zahlreiche gesetzgeberische Maßnahmen erfolgt sei, die tief in die bisherigen Strukturen des überkommenen Wirtschaftssystems eingegriffen hätten. Wie auch R. Schröder, der sich auf die Frage nach der Steuerungskapazität des (Privat-)Rechts im Bereich der Wirtschaft auf die Rechtsauslegung durch die Rechtsprechung konzentriert (S. 91ff.), geht auch Rüthers auf die Rechtsentwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR ein. Nach C. Harth war bereits vor 1933 die Einsicht weit verbreitet, dass industrielle Revolution und Weltwirtschaftskrise den Wettbewerb und damit die Grundlage der Vertragsfreiheit nachhaltig gestört hätten und dass mit dem Wettbewerb die Vertragsgerechtigkeit erst wieder herzustellen sei. Harth stellt fest, dass der nationalsozialistischen Privatrechtswissenschaft, wie sie insbesondere in den Beratungen der Ausschüsse der Akademie für Deutsches Recht zum Ausdruck gekommen seien, wirtschaftliche Ordnungsvorstellungen zugrunde gelegen hätten, die eine Alternative zum klassischen Liberalismus darstellten und die sich mit ordoliberalem Gedankengut berührten (vgl. S. 132).

 

Der zweite Teil der Aufsatzsammlung befasst sich mit den „Intentionen und Wirkungen rechtlicher Regelung in Kernbereichen nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik“ (S. 135-316) und behandelt die rechtliche Regelung der Arbeitsbeziehungen (R. Hachtmann), das Agrarrecht (J. Weitzel), das Devisenrecht (M. Ebi), das Bankrecht (J. Bähr), das Wettbewerbs- und Kartellrecht (H. Freise), das Patent- und Urheberrecht (K. Gispen), das Versicherungswesen (G. D. Feldman) sowie Methoden der Verbrauchslenkung im Nationalsozialismus (H. Berghoff). Am innovativsten und detailliertesten sind die Beiträge von Weitzel, Ebi und Berghoff, die überkommene Meinungen in Frage stellen (so insbesondere Weitzel zur Wirksamkeit des Reichserbhofgesetzes) oder neue Forschungsbereiche erschließen. Die Beiträge von Gispen und Feldman decken demgegenüber nur Detailbereiche ab; so geht Feldman nicht auf die zahlreichen Initiativen zur Reform des Versicherungsrechts ein (z. B. 1939 Einführung der Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter; vgl. W. Schubert [Hrsg.], Akademie für Deutsches Recht, Ausschüsse für Versicherungswesen/-recht, Frankfurt am Main 2002). Die Wandlung der kartellrechtlichen Rechtsprechung von einer rechtlich gebundenen, gerichtlichen hin zu einer rein wirtschaftspolitischen Entscheidung verdeutlicht Freise, der mit der Sperrpräventionszensur allerdings auch nur einen Teilbereich des Kartellrechts im Nationalsozialismus behandelt.

 

Die Aufsätze über Recht und Wirtschaft des Nationalsozialismus in vergleichender und transnationaler Perspektive (S. 319ff.) wurden zusätzlich in die Veröffentlichung aufgenommen. Patel berichtet über den nationalsozialistischen Arbeitsdienst im Vergleich mit dem US-Arbeitsdienst, der deutlich unter dem deutschen Staatsinterventionismus blieb. Für die Mehrheit der anglo-amerikanischen Rechtswissenschaftler stellte sich bis 1940 nicht die Frage, inwieweit nationalsozialistisches Recht „Recht“ sei. Vielmehr weisen deren Schriften starke Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten zwischen den normativen Regeln und Rechtsdebatten in Deutschland und den englischsprachigen Ländern nach 1933 auf (vgl. S. Gosewinkel, S. XLI; Beitrag von Frazer, S. 341ff.). Dem leider wenig in die Einzelheiten gehenden Beitrag von O. Dard „Juristes et économistes français face à l’organisation juridique de l’économie et de la société du troisième Reich“ (S. 369ff.) ist zu entnehmen, dass die ökonomischen Neuerungen und Projekte des nationalsozialistischen Regimes als autokratisch eingestuft wurden. Dagegen stießen die Praktiken des Dirigismus und der staatlichen Wirtschaftslenkung bei jungen Reformern und Technologen bis in die Vichy- und Nachkriegszeit auf Sympathien. Ilse Staff arbeitet in ihrem umfassend dokumentierten Beitrag heraus (S. 383ff.), dass nach italienischer Sicht der im Nationalsozialismus zentrale Begriff der Volksgemeinschaft juristisch nicht hinreichend strukturiert gewesen sei, „um die Steuerungskompetenz des ,Führers’ abzusichern und das soziale Substrat eines Staates stabilisierend und verstärkend in die Entscheidungs- und Direktionsgewalt des ,Führers’ einzubinden und damit das Steuerungspotential zu erhöhen“ (S. 419). Diese Kritik verhüllte jedoch nach Staff, dass es in beiden Ländern gleichermaßen um die Konzentration der Steuerungskompetenz in der Person des Duce/Führers ging und dass lediglich die „Begründungsmodi“ ideologisch differierten. Die vom Nationalsozialismus entwickelten Großraum- und Lebensraumtheorien entsprachen der „imperialen Mission“ des faschistischen Italien. Wie die Beiträge zeigen, steht die vergleichende Rechtsgeschichte für die Zeit zwischen 1933 und 1945 sowie die Geschichte der zeitgenössischen Wahrnehmung des Rechts unter dem Nationalsozialismus von außen erst in den Anfängen.

 

Gosewinkel fasst die Erträge des Kolloquiums von 2001 dahin zusammen, dass im Bereich der nationalsozialistischen Wirtschaft keine Entrechtlichung im formalen Sinn stattgefunden habe, wobei die Verrechtlichung bestimmter Bevölkerungsgruppen ihrer Diskriminierung und damit ihrer Entrechtung gedient habe (S. XLVIII). Die Rechtssetzung als zentrales Instrument der gesamtwirtschaftlichen Rahmengesetzgebung diente in der Anfangs- und frühen Krisenphase des nationalsozialistischen Regimes der Stabilisierung des Regimes; allerdings waren rechtliche Steuerungserfolge nicht gleichbedeutend mit politischen Steuerungserfolgen. Nicht beseitigt, wenn auch teilweise erheblich eingeschränkt wurde die Sicherung privater, wirtschaftsgestaltender Autonomie gegenüber Zugriffen des intervenierenden und steuernden Staates. Auch wenn Bruchlinien und Elemente der Diskontinuität deutlich sichtbar sind, zeigen nach Gosewinkel einige Beiträge klare Linien rechtlicher Kontinuität mit der Weimarer Zeit auf (Bank-, Aktienrecht, Devisenbewirtschaftung, Kartellrecht). Zahlreiche Kontinuitäten lassen sich auch für die Zeit nach 1945 feststellen (Aktienrecht, GmbHG-Entwurf von 1939, Kreditrecht, Rechtsfigur des „richtigen“ Vertrags mit dem Primat des sozialen Denkens). Neben den antimodernen Zügen lassen sich insgesamt auch die in die Zukunft weisenden Tendenzen des nationalsozialistischen Wirtschaftsrechts nicht übersehen, wie insbesondere die zeitgenössische Außensicht des Rechts unter dem Nationalsozialismus zeigt.

 

Auch wenn der Band eine Geschichte des Wirtschafts- und Privatrechts unter dem Nationalsozialismus nicht ersetzen kann, so ist dessen Bedeutung für die deutsche Rechtsgeschichte im Schnittpunkt zwischen der Weimarer Zeit, der NS-Zeit und der Zeit nach 1945 nicht zu übersehen. Ohne dass die verbrecherischen Elemente der nationalsozialistischen Gesetzgebung vernachlässigt werden, stellt Gosewinkel auf breiterer Grundlage als bisher fest, dass „Rechtsdenken ,im Nationalsozialismus’ nicht gleichbedeutend mit ,nationalsozialistisch’ als qualitativer Kategorie“ sei. In diesem Zusammenhang bezeichnet Harth die „Feststellung von Parallelen zwischen ordoliberaler Wirtschaftsauffassung und Theorien, die mit nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik kompatibel waren“ als „Sakrileg“, denn „der Ordoliberalismus, auf dem die Idee der sozialen Marktwirtschaft u. a. basiert, wird überwiegend als aus der Opposition gegen den Nationalsozialismus geboren bzw. zumindest als nicht konform mit der herrschenden NS-Ideologie angesehen“ (S. 132). Mit einer solchen Kennzeichnung wird die Bedeutung des Ordoliberalismus jedoch keineswegs entwertet (vgl. Gosewinkel, S. LIX). Weitere, in die gleiche Richtung zielende Feststellungen wie diejenigen Harths dürften folgen, wobei die Kontinuitäts- und Modernisierungsfrage bei jeder Rechtsmaterie sich neu stellt und genauerer Untersuchungen bedarf. Insgesamt liegt mit dem Band, dessen Einleitung von Gosewinkel mit den die Referate weiterführenden Überlegungen besonders lesenswert ist, ein wichtiger Beitrag zur deutschen Rechtsgeschichte vor, der zahlreiche Kontinuitäten aufzeigt, welche die Rechtsentwicklung im 20. Jahrhundert trotz des starken Rechtsverfalls unter dem Nationalsozialismus aufweist.

 

Kiel

Werner Schubert