Weinreich, Othmar E., Der Zivilprozess nach der Münsterischen Landgerichtsordnung von 1571 sowie der Vechtischen Gerichtsordnung von 1578. Die Praxis des Gogerichts auf dem Desum im oldenburgischen Münsterland in den Jahren 1578-1652 (= Juristische Schriftenreihe 233). Lit-Verlag, Münster 2004. XXI, 215 S.

 

Seit dem Mittelalter gab es auf dem so genannten Desum bei Emstek ein Gogericht, das sich aus dem Vechtaer Gografen als Richter, dem Gografen von Wildeshausen, den etwa 24 Burgmannen von Vechta sowie 24 von den Burgmannen gewählten Geschworenen zusammensetzte. Johann von Hoya, Fürstbischof des Stifts Münster, dem die Herrschaft Vechta gehörte, erließ 1571 zur Abstellung von Mängeln im gerichtlichen Prozess die Münsterische Landgerichtsordnung, die sich an die Reichskammergerichtsordnung von 1555 anlehnte. Die Burgmannen im Desumer Gericht strebten demgegenüber an, bei ihren alten Gebräuchen zu bleiben, mussten aber schließlich im Wege eines Kompromisses mit dem Bischof die Vechtische Gerichtsordnung, wie vor dem Gogericht auf dem Desum zu prozedieren, akzeptieren. Sie ist als elfseitiges Konzept in einer Ausfertigung vom 26. Februar 1578 überliefert und regelt in einem ersten Teil die Gerichtsverfassung sowie in einem zweiten Teil das Prozessverfahren. Über die auf dem Desum geführten Verhandlungen liegt ein inzwischen transkribierter und edierter Protokollband für den Zeitraum 1578 bis 1652 vor, in dem sich 112 Rechtsfälle unterscheiden lassen.

 

Der Verfasser der von Götz Landwehr betreuten Hamburger Dissertation stellt sich die Aufgabe, anhand der Protokolle, insbesondere zu vier ausgewählten Fällen, zu überprüfen, wie sich Prozesswirklichkeit und Prozesspraxis im Vergleich zu den theoretischen Vorgaben und Zielen der Vechtischen Gerichtsordnung und der Münsterischen Landgerichtsordnung darstellen, inwieweit sich das Gericht und die gelehrten Prozessvertreter an die neuen prozessrechtlichen Vorgaben hielten und ob endlich eine Besserung oder Beseitigung prozessrechtlicher Missstände sichtbar wird. Dazu beschreibt der Autor nach einer Einführung zur Entstehung der beiden Gerichtsordnungen, zum Protokollmaterial und zur Auswahl der untersuchten Fälle in einem zweiten Teil den Prozess nach den Gerichtsordnungen. Die Landgerichtsordnung unterschied nach dem Vorbild der Reichskammergerichtsordnung von 1555 zwischen dem ordentlichen Verfahren, das schriftlich zu führen war und einer bestimmten Terminsabfolge unterlag, und einem außerordentlichen, summarischen Verfahren mit weniger Terminen und daher einfacherem und beschleunigtem Ablauf. Das ordentliche Verfahren sah grundsätzlich acht Termine vor, wobei die Termine sich über mehrere Verhandlungstage erstrecken konnten. Dabei verfuhr die Landgerichtsordnung nach der gemeinrechtlichen Eventualmaxime, so dass der Beklagte im zweiten Termin seine responsiones, defensionales oder peremptoriales auf die Klageartikel so viel er deren hette/auff einmal ubergeben solle, anschließend sollte der Beklagte mit solchem Verteidigungsvorbringen ausgeschlossen sein. Der Kläger konnte darauf im dritten Termin replizieren, eine Duplik des Beklagten war nicht vorgesehen. Nachdem in einem „3A-Termin“ die Zeugen durch das Gericht befragt worden waren, dienten die folgenden Termine der Beweiseröffnung sowie den Einreden der Parteien gegen die Beweismittel, bis im 8. Termin die Parteien ihre Schlussvorträge hielten und das Gericht die Akten schloss. Die weit weniger umfangreiche Vechtische Gerichtsordnung war zwar gegenüber der Landgerichtsordnung vorrangig, übernahm deren Regelungen jedoch weitgehend. Daneben wurden vom Desumgericht gemeines Recht, die Reichskammergerichtsordnungen, die Münsterische Landesordnung von 1571 und schließlich auch alter Gerichtsgebrauch angewendet.

 

Im 3. bis 5. Teil analysiert Weinreich vier Prozesse aus den im Protokollbuch verzeichneten Rechtsfällen, von denen hier aus Platzgründen nur der älteste und umfangreichste kurz (bei Weinreich auf 48 Seiten) dargestellt werden kann. Es handelt sich um Fall Nr. 11a, bei dem der Kläger ein Wegerecht über das Grundstück des Beklagten beanspruchte, um für eine zweite Mahd im Jahr (das Grummet) zu seiner Wiese zu gelangen. Der Autor findet zu diesem Prozess im Protokollbuch insgesamt 17 Verhandlungstage, die sich über die Jahre 1579 bis 1582 erstrecken. Er schildert dazu jeweils zuerst den Inhalt der Protokollierung und fügt sodann eigene Kommentare an, insbesondere zur Einordnung des Prozessgeschehens in das Terminsystem der Landgerichtsordnung. Dabei wird, wie nachfolgend skizziert, die Schwerfälligkeit des Verfahrens deutlich: Zur Vermeidung von Kosten wurde im Fall Nr. 11a mündlich gemäß dem summarischen Verfahren wie in einer kleinschätzigen Sache geklagt. Am zweiten Verhandlungstag erlegte das Gericht den Beweis des Wegerechts dem Kläger auf, dessen Anwalt darauf vier Zeugen benannte. Am folgenden Verhandlungstag verlangte der Anwalt des Beklagten eine Abschrift der Beweisartikel, wogegen der Anwalt des Klägers widersprach, weil nach dieser banck und geschaiffenheith in kleinschetzigen Sachen Schriftsätze unnötig seien. Gleichwohl legte der Klägeranwalt dieses Schriftstück anschließend vor. Zur Vernehmung von Zeugen kam es erst am fünften Verhandlungstag, den der Verfasser zutreffend als 3A-Termin im ordentlichen oder 2A-Termin im summarischen Verfahren einordnet. Am sechsten Verhandlungstag beantragte der Anwalt des Klägers die Ableistung des Kalumnieneides durch den Beklagten, was das Gericht jedoch zurückwies. Weinreich bemerkt hierzu, dass der Kalumieneid an sich nach der Landgerichtsordnung im zweiten Termin zu leisten war, jedoch wie in der Reichskammergerichtsordnung von 1555 auch noch später beantragt werden konnte. Am siebten Verhandlungstag (7. Juli 1580) verlangte der Beklagtenanwalt die Vernehmung von Gegenzeugen, während der Anwalt des Klägers wegen der Verderblichkeit des Grases eine Anordnung des Gerichts beantragte, dass sein Mandant die Wiese im laufenden Jahr ein zweites Mal mähen dürfe. Darauf ließ das Gericht – ohne Grundlage in der Landgerichtsordnung – die Vernehmung der gegenbeweislichen Zeugen zu und erkannte das streitige Grummet bis zum nächsten Gerichtstag in sequester und von beiden Parteien nicht anzugreifen. Der Verfasser sieht hier, dass die Vechtische Gerichtsordnung und die Landgerichtsordnung keine ausdrückliche Bestimmung über den beantragten vorläufigen Rechtsschutz trafen, nimmt aber an, dass das Gericht die Sequestration entweder auf die Reichskammergerichtsordnung, die Hofgerichtsordnung oder eigenen alten Gerichtsgebrauch gestützt haben könnte. Am achten Verhandlungstag waren die vom Beklagten gegenbeweislich benannten Zeugen, darunter der Anwalt des Klägers, zwar anwesend, wurden aber nicht vernommen. Stattdessen beantragte der Anwalt des Klägers eine Entscheidung, ob er trotz dieser Eigenschaft als Zeuge des Beklagten aussagen könne. Dies lehnte das Gericht am neunten Verhandlungstag ab, da dem Beklagten genug andere Zeugen zur Verfügung stünden, hielt ihm aber eine Möglichkeit offen, wenn der Kläger ihm das Zeugnis nicht verwehre. Am zehnten Verhandlungstag replizierte der Anwalt des Klägers mündlich auf die Einreden des Beklagten gegen seine Zeugen und beantragte eine gerichtliche Erkenntnis aufgrund der Beweisaufnahme über das Wegerecht. Das Gericht setzte hingegen einen Termin zum Verhör der Zeugen des Beklagten an. Die Zeugen wurden am elften Verhandlungstag jedoch lediglich vereidigt und am – nicht protokollierten – zwölften Verhandlungstag, den der Autor zu Recht als technischen 3A-Termin im ordentlichen und 2A-Termin im summarischen Verfahren qualifiziert, vernommen. Die Eröffnung der Zeugenaussagen fand am 13. Verhandlungstag statt. Beide Parteien behielten sich weiteren Zeugenbeweis vor, was ihnen das Gericht gestattete. Hierzu stellt Weinreich wiederum fest, dass auch dies nach keiner Verfahrensordnung eine Rechtsgrundlage hatte. Am 14. Verhandlungstag traten die Gutsherren des Beklagten dem Rechtsstreit auf Seiten ihres Eigenbehörigen bei und verlangten vom Gericht eine Erläuterung des Sequestrationsurteils vom siebten Verhandlungstag, die ihnen noch am selben Tag zuteil wurde. Die mündlich eingelegte Appellation der Intervenienten gegen das Urteil verwarf das Gericht sogleich, weil die Appellationsfrist verstrichen sei. Der Verfasser bemerkt, dass die weder in der Vechtischen Gerichtsordnung noch in der Landgerichtsordnung geregelte Intervention als Institut des römischen Rechts vom Richter zugelassen wurde und hier dazu führte, dass der Anwalt des Beklagten in dem Prozess anschließend nicht mehr auftrat. Am 15. Verhandlungstag übergab der Anwalt der Intervenienten seine Replik auf die Einreden des Klägeranwalts bezüglich der gegenbeweislichen Zeugen und nahm Bezug auf eine Supplikation zur Wiederholung des Zeugenverhörs. Dies veranlasste das Gericht, da der Prozess lang und zu schwierig sei, zu der Entscheidung, sich auf Kosten der Parteien zur Zulässigkeit dieser Verfahrensweise mit Rechtsgelehrten zu beraten, was Weinreich zutreffend als Auftrag zur Verfassung eines „Beiurteils“ deutet. Am 17. Verhandlungstag erfuhren die Parteien, dass die Sentenz der Rechtsgelehrten aus „besonderen Gründen“ nicht habe verfasst werden können und der Richter sich mit einem Rechtsgelehrten beraten wolle. Damit brechen die Protokolle dieses Rechtsstreits ab.

 

Nach der Analyse dreier weiterer Prozesse resümiert der Verfasser im 6. Teil seiner Arbeit unterschiedliche Probleme der untersuchten Verfahren. Dabei zeigt er, dass zum einen das Zusammenspiel der verschiedenen Rechtsquellen unklar war und dies von den Anwälten taktisch ausgenutzt wurde. Zum anderen sieht er als problematisch an, dass der etwa fünfzigköpfige Spruchkörper des Desumer Gerichts, der meist unvollständig zusammentrat, in sich bereits ein Gefälle der allgemeinen Bildung und der juristischen Urteilskompetenz aufwies. Dem gegenüber standen die im römischen Recht ausgebildeten Anwälte nebst den von ihnen bisweilen konsultierten Advokaten, von deren Sprachkompetenz und Argumentation sich das Gericht eingestandenermaßen wiederholt juristisch überfordert fühlte, so dass es sich der Hilfe von Rechtsgelehrten bediente (so auch  am 14. Verhandlungstag des zweiten untersuchten Falles). Ein weiteres Problem erkennt der Autor in der geringen Zahl von vier in der Vechtischen Gerichtsordnung vorgesehenen Gerichtstagen im Jahr, die teilweise nicht eingehalten wurden und auch nicht ausreichend waren. Durch häufig eingeschobene Sonder- und Ersatztermine konnte der Verschleppung der Verfahren allerdings teilweise abgeholfen werden, so dass der Verfasser zwei der untersuchten summarischen Prozesse mit einer Dauer von jeweils knapp zwei Jahren noch als zügig bezeichnet. Das Desum-Gericht hielt sich nach seinen Feststellungen zwar grundsätzlich an die Landgerichtsordnung und die Vechtische Gerichtsordnung, wich aber wiederholt aus unterschiedlichen Gründen vom vorgesehenen Terminsystem ab, ließ ohne Rechtsgrundlage Gegenbeweise, Tripliken und gar Quadrupliken zu und verhielt sich nach begründeter Auffassung des Autors in der Prozessleitung zu passiv. Dass die lückenhaften Regelungen des summarischen Verfahrens durch Rückgriffe auf Bestimmungen des ordentlichen Verfahrens ausgefüllt wurden, ist mit Weinreich als sinnvoll zu qualifizieren, führte jedoch zur Verlängerung des summarischen Prozesses. An mehreren Beispielen zeigt der Verfasser auf, dass mit mündlicher Klage begonnene summarische Verfahren teilweise schriftlich weitergeführt und dadurch ebenfalls verlängert wurden, was dem Interesse der Beklagtenseite entgegenkam. Unter 83 Prozessen ermittelt der Autor zwölf mit einer Dauer von mehr als drei Jahren. Insgesamt kommt die Arbeit zu dem Ergebnis, dass es seit der Einführung der Münsterischen Landgerichtsordnung und der Vechtischen Gerichtsordnung zu eindeutigen Fortschritten in der Anwendung ihrer Regelungen nicht gekommen war, was sich einerseits auf äußere Umstände wie die politischen und religiösen Umwälzungen dieser Epoche und vor allem die Kriegsereignisse, andererseits auf fehlende landesherrliche Kontrolle oder die mangelnde Qualifizierung des zahlenmäßig zu groß besetzten Desum-Gerichts zurückführen lässt. Dem Verfasser ist zu bescheinigen, dass er die vier ausgesuchten Fälle anhand der nicht vollständigen und oft unklaren Niederschriften mit der nötigen Vorsicht auswertet und prozessrechtlich einordnet. Seinen Ergebnissen ist deshalb durchwegs beizutreten.  Dankenswerterweise hat er die Protokolle der untersuchten Fälle auf etwa 30 Seiten der Arbeit angefügt. Ein ausführliches Stichwortregister mit nahezu 1.500 Begriffen erleichtert die Erschließung der Untersuchung.

 

BAd Nauheim                                                                                                Reinhard Schartl