Walter, Robert, Hans Kelsen als Verfassungsrichter (= Schriftenreihe des Hans Kelsen Instituts 27). Manz, Wien 2005. VIII, 92 S., Abb.
Hans Kelsen hat nicht nur maßgeblich an dem 1920–1934 und wieder seit 1945 in Österreich geltenden Bundes-Verfassungsgesetz, insbesondere an dessen Bestimmungen über die Verfassungsgerichtsbarkeit, mitgewirkt, sondern dem Verfassungsgerichtshof (Verfassungsgerichtshof) auch selbst durch mehr als zehn Jahre angehört. Der Autor der vorliegenden Arbeit, emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien sowie Geschäftsführer des Wiener Hans Kelsen-Instituts, will die Tätigkeit Kelsens im Verfassungsgerichtshof „vorwiegend beschreibend“ wiedergeben und weiterführende „dogmatische, rechtshistorische und politische Fragen … nicht eingehender“ verfolgen (aus dem Vorwort). Diese selbst auferlegte Beschränkung war wohl Voraussetzung dafür, dass die gegenständliche Thematik auf weniger als 100 Seiten abgehandelt werden konnte – es wäre mit Sicherheit auch möglich gewesen, anhand der hier zumeist sehr knapp wiedergegebenen Judikate eine nahezu komplette Verfassungsgeschichte der Ersten Republik zu erzählen.
Der Verfassungsgerichtshof ist älter als das Bundes-Verfassungsgesetz; er wurde, wenn auch mit vergleichsweise noch geringen Kompetenzen, bereits mit dem Gesetz vom 25. Jänner 1919 geschaffen. Kelsen, der bereits am Zustandekommen dieses Gesetzes beteiligt gewesen war, wurde am 3. 5. 1919 in den Verfassungsgerichtshof berufen, und zwar als Nachfolger des verstorbenen Edmund Bernatzik, dessen Nachfolge er auch als Ordinarius an der Universität Wien antrat. Der Vorschlag, Kelsen als neuen Verfassungsrichter zu nominieren, stammte vom (sozialdemokratischen) Staatskanzler Karl Renner persönlich. Als es im Juli 1921, nach Inkrafttreten des Bundes-Verfassungsgesetzes, zu einer Neuwahl der Mitglieder kam, vereinbarten die im Parlament vertretenen Parteien ein Proporzsystem, nach dem vier der Mitglieder christlichsozial, drei sozialdemokratisch und eines großdeutsch sein sollten; vier weitere Mitglieder jedoch, darunter Kelsen, wurden als „gewissermaßen neutral“ einvernehmlich nominiert (23).
Auch bei den meisten Erkenntnissen ist keine besondere (partei)politische Haltung Kelsens auszumachen: Er beteiligt sich aktiv an der Diskussion, jedoch durchaus auf sachlicher Ebene und bezieht dabei zumeist – jedoch nicht immer – eine eher formalistische Position, die ihn auch immer wieder in Auseinandersetzung mit dem sozialdemokratischen Verfassungsrichter Friedrich Austerlitz bringt, dessen Argumentation mitunter „starke sozialpolitische Züge“ trägt (27). Bemerkenswert ist etwa auch die Diskussion um das Wort „Zensur“ im Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung vom 30. 10. 1918 (der „lex Ofner“), in der der seinerzeitige Urheber dieser Bestimmung und nunmehrige Verfassungsrichter Julius Ofner meint, dass sich das durch diesen Beschluss ausgesprochene Zensurverbot nicht auf die Theaterzensur bezogen habe, Kelsen jedoch diese geradezu authentische Interpretation nicht gelten lassen will und strikt vom Wortlaut des Gesetzes ausgeht: Und da dieses von „jeder Zensur“ spricht, falle auch die Theaterzensur darunter (15).
Ausführlich geht der Autor auf die Judikatur des Verfassungsgerichtshofs zu den sog. Sever-Ehen ein, nicht zuletzt wohl deshalb, weil diese Judikatur auch politischer Hauptgrund für die Neuorganisierung des Verfassungsgerichtshofs war und damit Auswirkungen auf Kelsen selbst hatte (aufgrund eines speziellen Verfassungsgesetzes wurden sämtliche Richter mit 15. 2. 1930 ihrer Ämter enthoben; die ihm angebotene Möglichkeit einer Neubestellung lehnte Kelsen selbst ab). – Formaljuristisch betrachtet, handelte es sich bei der Frage der Sever-Ehen lediglich um einen Kompetenzkonflikt zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden, der vom Verfassungsgerichtshof zu lösen war, doch steckte dahinter nicht mehr und nicht weniger als die Frage der Zulässigkeit der nochmaligen Eheschließung für von Tisch und Bett geschiedene Katholiken. Der Autor vermerkt zum Weichen stellenden Erkenntnis Nr 878: „Die anschließende Diskussion verläuft nicht sehr spektakulär. Anscheinend sind sich weder Kelsen noch die übrigen Mitglieder des Gremiums vollständig klar darüber, welche Lawine von Fällen und welches Ausmaß an juristischer und schärfster politischer Diskussion dieses Erk(enntnis) auslösen wird“ (60). Robert Walter geht in einem besonderen Exkurs zu den Sever-Ehen hart mit Kelsen ins Gericht, insbesondere indem er darlegt, dass die von Kelsen vertretene dogmatische Position, der der Verfassungsgerichtshof folgte, unrichtig war und dieser „in großzügiger Weise über formale Bedenken hinweg geschritten ist und in freier Interpretation eine ‚schöpferische Tat’ gesetzt habe“ (67).
So fördert der Band, wiewohl die Darstellung über weite Strecken bewusst zurückhaltend ist, doch einen reichen Einblick in die praktische Tätigkeit des Verfassungsgerichtshofs und einen bislang viel zu wenig beachtenden Lebensaspekt Kelsens und ist damit für eine noch zu schreibende Biographie des Gelehrten sowie auch für die Geschichte der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit ein wesentlicher Beitrag. Ein Summe der Tätigkeit Kelsens im Verfassungsgerichtshof wird am Schluss gezogen: Er habe sich rege an der Diskussion beteiligt, in Interpretationsfragen eine gewisse Offenheit gezeigt und erkannte auch durchaus die „rechtsschöpferische Tätigkeit des Verfassungsgerichtshofs“ an (91). Gut versteckt in Fußnote 108 bemerkt der Autor aber auch, dass Kelsen mit der heutigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofs, die eine „weit reichende politische Kontrolle der Gesetze“ ermöglicht, nichts zu tun hatte.
Wien Thomas
Olechowski