Unger, Dagmar, Adolf Wach (1843-1926) und das liberale Zivilprozessrecht (= Schriften zur Rechtsgeschichte 120). Duncker & Humblot, Berlin 2005. 394 S.
Adolf Wach ist der wohl einflussreichste und auch bedeutendste Zivilprozessrechtler des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Er führte mit seinen „Vorträgen zur Reichs-Zivilprozessordnung“ (1879, 2. Aufl. 1896) und seinen Vorlesungen eine ganze Generation von Juristen in das neue Zivilprozessrecht ein und verteidigte die Kodifikation, wenn auch nicht unkritisch, gegen die Angriffe Otto Bährs in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. In dem Werk Dagmar Ungers finden Leben und Werk Adolf Wachs erstmals eine umfassende Darstellung. Es gliedert sich in zwei Teile: Leben und zivilprozessuales Werk, das darüber hinaus Schriften und Aufsätze zum Strafrecht, zum Kirchenrecht und zu kirchlichen Fragen sowie zahlreiche Reden in der 1. Kammer des sächsischen Landtags (1900-1918) erschließt. Ein Teil dieser nicht zivilprozessualen Arbeiten ist im ersten Teil kurz behandelt. Wach (geb. 1843 in Kulm/ Westpreußen als Sohn des dortigen Stadtkämmerers) studierte Rechtswissenschaften in Berlin und in Heidelberg, wo er mit einer kirchenrechtlichen Arbeit promovierte. Nach der Habilitation in Göttingen unter Hans Karl Briegleb (gest. 1879) mit: „Der Arrestprocess in seiner geschichtlichen Entwicklung“ (Teil 1; 1868) und kurzer Lehrtätigkeit in Königsberg erlangte er 1869 eine ordentliche Professur in Rostock, 1871 in Tübingen und 1872 in Bonn. 1876 kam er an die Universität Leipzig, deren Juristenfakultät er bis zu seiner Emeritierung 1920 angehörte. Verheiratet war Wach mit Fanny Henriette Elisabeth Mendelssohn, der Tochter des Komponisten Mendelssohn Bartholdy. Eine von Wachs Töchtern war verheiratet mit ihrem Vetter, dem Völkerrechtler und Prozessualisten Albrecht Mendelssohn Bartholdy (gest. 1936 im englischen Exil). Unger beschreibt im Abschnitt über das Wirken Wachs in Leipzig, seine Tätigkeit als akademischer Lehrer (Vorlesungen; Prüfungen), als Direktor des Instituts für Rechtsgeschichte, in der akademischen Selbstverwaltung (u. a. Rektorat 1902/03; Mitglied der Jubiläumskommission anlässlich der Feier des 500jährigen Bestehens der Universität Leipzig 1909) und in der akademischen Vereinstätigkeit. Hinzu kommen noch zahlreiche gesellschaftliche, kirchliche und soziale Aktivitäten (S. 122ff.), seine Tätigkeit als Richter am Landgericht Leipzig und seine Stellungnahmen zu tagespolitischen Fragen während des Ersten Weltkriegs. In dem Abschnitt über „Wach als Strafrichter“ (S. 78-88) kennzeichnet ihn Unger als Vertreter der klassischen Richtung im Schulenstreit und als Mitbegründer der objektiven Auslegungstheorie. Auf die Tätigkeit Wachs in der Kommission für die Reform des Strafprozesses (1903-1905) geht die Verfasserin leider nicht näher ein (vgl. hierzu die Protokolle der Kommission für die Reform des Strafprozesses 1903-1905, 2. Bde., neu hrsg. und mit den Namen der Antragsteller versehen von W. Schubert, Frankfurt/Main 1991). Die „Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts“ stammt nicht von dieser Kommission (vgl. Verf. S. 83), sondern von einem durch das Reichsjustizamt eingesetzten besonderen Komitee, dem auch Wach angehörte (vgl. W. Schubert, in: Protokolle der Kommission für die Reform des Strafgesetzbuches [1911-1913], Bd. 1, Frankfurt/Main 1990, S. XVIII).
Im zivilprozessualen Teil ihres Werkes stellt die Verfasserin die meisten Arbeiten Wachs zur CPO von 1877 / ZPO von 1898 und zu den Reformen grundsätzlich chronologisch dar. Nach einem Überblick über die Vorgeschichte und das Prozesssystem der CPO geht die Verfasserin zunächst auf die Kritiken Wachs am Leonhardtschen CPO-Entwurf von 1871 und an der Bundesratsvorlage von 1872 näher ein. Wach stellte schon früh fest, dass er sich nicht mit einem Prozess befreunden könne, welcher „rand- und bandlos, weder in noch außer sich Schutzmittel gegen Missbrauch und Verschleppung hat. Geradezu unerträglich erscheint ein solches Verfahren, wenn es mündlich sein soll und seinem Grundprinzip nach die strengste Koncentration erfordert. Es muss Abhilfe geschaffen werden. Sie von der Solidität des Anwaltstandes erwarten zu wollen, ist sträflicher Leichtsinn“ (KritVjs., Bd. 15, S. 349; vgl. Unger, S. 161ff.). Nach Wach kam eine Präklusionszäsur mit Erlass des abänderbaren „Beweisproduktionsbescheides“ bzw. eine Präklusion aller nicht liquiden Angriffs- und Verteidigungsmittel in dem zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung nach beendigter Beweisaufnahme angesetzten Termin in Betracht. Nicht abfinden wollte er sich ferner mit dem späteren § 287 ZPO, soweit diese Norm auch eine Feststellung der Existenz eines Schadens ermöglichte, mit dem Versäumnisverfahren (statt dessen befürwortete er das gemeine Recht) und mit dem zweitinstanzlichen Rechtsmittel der „Revision“ gegen landgerichtliche Urteile, bei der grundsätzlich nur die „Verletzung eines Gesetzes“ gerügt werden konnte (§ 461 des Entwurfs von 1871). Im Folgenden bespricht Unger die beiden Auflagen der „Vorträge“, das Handbuch des Deutschen Civilprozessrechts von 1885, das noch 1977 in Argentinien zusammen mit der CPO von 1877 ins Spanische übersetzt wurde (vgl. Luis Loreto, ZZP 92 [1979], S. 110ff.), die Aufsätze über die zivilprozessuale Enquête von Bähr und die eigene Enquête (1886-1888) sowie die kleineren Schriften zur neuen CPO insbesondere in den 80er Jahren. Leider ist das Handbuch, dessen zweiter Teil das Verfahren erster Instanz und das Rechtsmittelsystem behandeln sollte, unvollendet geblieben. Ein eigener Abschnitt befasst sich mit der erstmals 1885 entwickelten Lehre vom Rechtsschutzanspruch (als prozessualem Gegenstück zu Windscheids materiellrechtlichem Anspruchsbegriff; vgl. G. Schmidt, ZZP 100 [1987], S. 7), der in letzter Zeit eine Renaissance erlebte (vgl. Unger, S. 240). Als eigenständige Erscheinungsform des Rechtsschutzanspruchs hat Wach den Feststellungsanspruch bzw. die Feststellungsklage endgültig herausgearbeitet sowie die Unterscheidung zwischen einem materiellrechtlichen und formellen Parteibegriff etabliert.
Grundlage seiner rechtspolitischen Arbeiten ist die Leitlinie, dass die Zivilprozessordnung „im Großen und Ganzen ein gutes Gesetz“ sei: „Auf gesunde Grundlagen folgerichtig aufgebaut, klar und durchdacht“ (DJZ 1908, S. 10). Zur österreichischen ZPO von 1895 äußert er sich sehr zurückhaltend (S. 269ff.). 1908 lehnt er die drastischen Beschränkungen der Berufung gegen die Urteile der Amtsgerichte (vorgesehen in der Amtsgerichtsnovelle von 1909) ebenso ab wie später das Prinzip der duae conformes für die Versagung der Revision. Eine Summe seiner rechtspolitischen Vorschläge enthält das Werk von 1914: „Grundlagen und Reform des Zivilprozesses“. Vernichtend fällt sein Urteil aus über die 1913 im Reichstag eingebrachten Vorschläge Bassermanns und Schiffers, nachdem er schon 1896 festgestellt hatte, die Wahrheitspflicht der Parteien sei „eine freie Erfindung ideologischer oder phraseologischer Theorie“ (S. 313). Wach strebte, wie die Verfasserin wiederholt herausarbeitet, „dem Ziel der ,goldenen Mitte’ zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu und verurteilte wiederholt ,Mündlichkeitsscholastik’ und ,doktrinäre Praxis’“ (S. 320). Im einzelnen trat Wach ein für die Beseitigung bzw. eine erhebliche Einschränkung des Parteibetriebs der Parteien, für eine Stärkung der prozessleitenden Gewalt des Gerichts (Zurückweisung verspäteten Vorbringens) sowie die Einführung eines Vortermins u. a. zur Erledigung einfacher Sachen. Noch als Einundachtzigjähriger nahm er zum Emminger-ZPO-Novelle vom Februar 1924 weitgehend ablehnend Stellung. Keine Gnade fanden bei ihm die Möglichkeiten zur Entscheidung nach Aktenlage (§§ 251 a, 331 a ZPO), die weitgehenden Entscheidungsrechte des Einzelrichters, das obligatorische Güteverfahren – er sprach in diesem Zusammenhang von einer „Gütepsychose“ – und die erst vom zuständigen Reichstagsausschuss abgelehnte Beseitigung des Novenrechts in der Berufungsinstanz (vgl. S. 330ff.).
Unger hat in ihrer Monographie über Wach, die Leben
und Werk miteinander verbindet, erstmals eine vollständige Bibliographie (einschließlich
der Rezensionen der Werke Wachs) und die ungedruckten Quellen (u. a. Briefe,
Universitäts- und Ministerialakten) zusammengestellt sowie sämtliche
Tätigkeitsbereiche Wachs und sein zivilprozessuales Werk auf fast 250 Seiten
erschlossen. Mit Recht hat sie dabei den Reformvorschlägen und der
rechtspolitischen Durchdringung der ZPO einen breiten Raum eingeräumt, die bis
heute auch im Hinblick auf die 2002 ergangenen und noch geplanten ZPO-Reformen von
unverminderter Aktualität sind. Allerdings hätte dieser Teil an Aussagekraft
und Eindringlichkeit noch gewonnen, wenn Unger statt rein chronologisch
vorzugehen, stärker themenbezogener gearbeitet hätte. Etwas mehr hätte man
gerne auch über die Schüler Wachs gelesen, insbesondere inwieweit sie sein Werk
weitergeführt haben. Wachs rechtsdogmatische Beiträge, die Unger behutsam
erschließt, haben zu wesentlichen Teilen zur Begründung der modernen deutschen
Prozessrechtswissenschaft und ihrer Begriffsbildung beigetragen. Mit der Arbeit
Dagmar Ungers über Wach liegt ein wichtiges Werk zur neueren Universitäts- und
Gelehrtengeschichte, vor allem aber zur deutschen Prozessrechtsgeschichte vor,
das zu weiterführenden dogmengeschichtlichen Untersuchungen Anregung geben
sollte.
Kiel |
Werner Schubert |