Spendel,
Günther, Für Vernunft und Recht. Zwölf Studien. Mohr (Siebeck), Tübingen
2004. X, 265 S.
Wie sein Mentor,
der große Rechtsdenker Gustav Radbruch, verschafft der Gelehrte Günter Spendel
dem Strafrecht philosophische und historische Dimensionen. Das schön
ausgestattete und gedruckte Buch, das es hier anzuzeigen gilt, versammelt
bereits zuvor, in den Jahren 1948 bis 2000, publizierte Aufsätze, die an
verstreuten Orten, meist in Festschriften erschienen. Es geht um grundlegende
und dauerhafte Themen wie die Idee der Universität, die Goldene Regel, die
Tell- und die Shylock-Problematik und um die Verbrechen der beiden deutschen
Unrechtssysteme. Der historische Gehalt des gedankenreichen juristischen Sammelbandes
ist so gewichtig, daß das Buch in keiner rechtgeschichtlichen Bibliothek fehlen
sollte.
Durch
geschichtliche Erfahrungen beglaubigte, manchmal auf liebenswürdige Weise ein
wenig altmodisch eingekleidete Vernunft durchzieht den Band und rechtfertigt
dessen Titel. Der Autor erweist „eine rationalistische Geisteshaltung als
Voraussetzung der Jurisprudenz“, wobei er die Anerkennung allgemeingültiger und
verbindlicher Rechtssätze als Aufgabe erkennt. Seinen Essay „Wider das
Irrationale unserer Zeit“ aus dem Jahr 1973 kann auch der verständige heutige
Leser nur ein sehr notwendiges Wort zu rechter Zeit nennen.
Die Gründung der
katholischen Universität zu Würzburg 1582 durch den Fürstbischof Julius Echter
von Mespelbrunn und deren Geschichte bilden den Anlaß für ausgewogene Gedanken
über die durchaus auch kritisch zu sehende Forschungsfreiheit und die
Wahrheitssuche. Die ersten und letzten Probleme zu behandeln, seien Philosophie
und Theologie berufen. „Deshalb ist es ebenso einseitig und verfehlt, das
Denken und Forschen von weltanschaulichen Fragen ausschließen wie umgekehrt
durch religiöse Dogmen (Antworten) eingrenzen zu wollen“ (S. 63). – „Was man
selbst nicht erleiden will, soll man auch andern nicht zufügen“. Spendel
erörtert die Goldene Regel als Rechtsprinzip so scharfsinnig wie kritisch: ihre
kulturgeschichtliche Verbreitung, die Einwände, die negative und die positive
Fassung, um am Ende zu dem zitierten Satz zu finden. – Um das richtige Maß geht
es auch bei den Überlegungen zum Rechtsstaat, dessen beide Wirkungen im
Strafrecht zugleich gegeben sein müssen: „der hinreichende Schutz des einzelnen
vor dem Staat und, noch mehr, der genügende Schutz des Bürgers durch den Staat“
(S. 101). An Beispielen aus der Zeitgeschichte des Rechts zeigt der Autor, daß
unser Gemeinwesen, das als sozialer Rechtsstaat auch ein moderner
Wohlfahrtsstaat ist, „trotz aller gelegentlich übertriebenen Betonung des
rechtsstaatlichen Prinzips nicht völlig frei von einem gewissen Hang zu
polizeistaatlichem Denken“ bleibt (S. 123).
Juristen können
in der Dichtung ergiebigen Stoff für ihre Arbeit finden, wobei meist die
Rechtsgeschichte ins Spiel kommt. Schillers „Wilhelm Tell“ führt zu der
Dauerfrage nach der Existenz eines ungeschriebenen höheren Rechts und eines
Widerstandsrechts des einzelnen gegen den Gewaltherrscher. Der Tyrannenmord hat
schon dem Dichter selbst Skrupel bereitet. Intrikate strafrechtliche Probleme
gleichfalls über die Zeiten hinweg wirft Tells Apfelschuß auf. Zu den
Shylock-Rechtsfragen in Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ gelangt Spendel
über den Würzburger Strafrechtler und überzeugten Binding-Schüler Friedrich
Oetker (1854-1937). Im juristischen Für und Wider leuchtet hervor, was geniale
künstlerische Intuition gestaltete: „wie Licht und Schatten, Recht und Unrecht
nicht einseitig auf die einzelnen Personen zu verteilen sind, wie leicht beide
Gegensätze ineinander übergehen können und wie schwer es doch ist, rechtlich zu
handeln und richtig zu urteilen“ (S. 159).
Ein
politisch-juristisches Lehrstück bietet der Autor mit seinem Aufsatz über den
„Landesverrats“-Vorwurf gegen Friedrich Ebert. Auch bei dieser Fallanalyse
dringt der Verfasser zu Grunderfahrungen des Rechtslebens und ihrer bleibenden
Bedeutung vor. Die vier letzten Stücke führen den Leser durch die Abgründe des
Unrechts unserer jüngeren deutschen Geschichte und deren juristische Folgen. Es
geht um die Geisteskrankenmorde unter dem NS-Regime, um die Giftgaslieferungen
für die Auschwitzmorde, um Unrechtsurteile der NS-Zeit und um SED-Justizverbrechen.
Mit Beklemmung erfährt der Leser auf detaillierte Weise von Versagen
insbesondere auch der Justiz in den Diktaturen – und danach. Wie schon in
seinem Buch „Rechtsbeugung durch Rechtsprechung“ (1984) bleibt der Autor dabei
mit gutem Grund nicht bei wissenschaftlichem Gleichmut stehen.
Heidelberg Adolf Laufs