Senn, Marcel/Thier, Andreas, Rechtsgeschichte III. Textinterpretationen. Schulthess, Zürich 2005. XV, 237 S.

 

Marcel Senns „Rechtsgeschichte - ein kulturhistorischer Grundriss“ ist bereits nach sechs Jahren in dritter, erweiterter Auflage erschienen (Zürich 2003). Diesem als Lehrbuch konzipierten Werk tritt die gemeinsam mit Lukas Gschwend verfasste „Rechtsgeschichte II - Juristische Zeitgeschichte“ zur Seite (2. Auflage, Zürich 2004). Eine gewisse Ergänzung bildet nun die zusammen mit Andreas Thier verfasste „Rechtsgeschichte III“, die - so der Untertitel - den „Textinterpretationen“ gewidmet ist. Darin behandeln die Autoren anhand von zwanzig Quellentexten jeweils ein zentrales, prüfungsrelevantes Thema: „Stammesrechte und Regulierung von Unrecht“, „Königsrecht und Stadtrecht“, „Gott und das Recht“, „Theologische Rechtstheorie und Eigentum“, „Wucher und Ketzerei“, „Dorforganisation im späten Mittelalter“, „Die Kurfürsten und das Reich“, „Religionsfrieden und Wirtschaftsförderung im Reich der Frühen Neuzeit“, „Staatsmacht und Souveränität als Problem“, „Hexenverfolgung“, „Vernunftgesetz und Staat“, „Naturrecht und Gesellschaft“, „Fürstenstaat und Rechtsstaatlichkeit“, „Herrscher und Kodifikation im aufgeklärten Absolutismus“, „Verfassung, Politik und Rasse“, „Sozialversicherung im Kaiserreich“, „Strafrecht und Sicherungsverwahrung“, „Rassenlehre und Rechtswissenschaft“, „Völkisches Privatrecht und subjektives Recht“.

 

Die Quellentexte, deren Interpretationen in Kapitellänge abwechselnd aus der Feder Marcel Senns und Andreas Thiers stammen, bieten eine gelungene Mischung aus mittelalterlichen, neuzeitlichen und zeitgeschichtlichen Texten. Sie behandeln Themen aus den Bereichen des öffentlichen Rechts, des Privatrechts und des Strafrechts. Nach den Aussagen der Verfasser sollen die Interpretationen zwar nicht an „fachwissenschaftlichen“ Maßstäben gemessen werden (S. V), doch reicht ihr Niveau stellenweise weit über das hinaus, was von Studierenden der Rechtswissenschaft in einer Klausursituation erwartet werden darf. Offenbar möchte die „Rechtsgeschichte III“ über den Charakter einer Bearbeitungsanleitung hinaus das Verständnis für den jeweilig behandelten Fragenkreis erweitern und vertiefen. Zu Recht findet sich daher einmal der Hinweis, dass auch Probleme behandelt werden, „deren Kenntnis im Rahmen einer Examensklausur nicht verlangt würde“ (S. 36 - bei Note 5). Zu fragen bleibt nur, ob nicht im Vorwort oder in der Einführung vorab klargestellt werden sollte, dass in den Interpretationen generell auch Informationen vermittelt werden, die über das rechtshistorische Prüfungswissen hinausreichen, damit die Adressaten nicht schon nach Lektüre der ersten Seiten den Mut verlieren und aufgeben. In Zeiten, in denen die Rechtshistoriker überall um die Existenz ihres Faches bangen und ihre Anforderungen weiter herabschrauben müssen, dürfte sich eine solche Frage mit besonderer Dringlichkeit stellen.

 

Von vergleichbaren Anleitungen zur Textinterpretation wie etwa „Rechtsgeschichte - Texte und Lösungen“ von Clausdieter Schott (8. Auflage, Zürich 2001) oder „Die rechtsgeschichtliche Exegese“ von Hans Schlosser, Fritz Sturm und Hermann Weber (2. Auflage, München 1993) unterscheidet sich die vorliegende Sammlung dadurch, dass die Quellen anonymisiert wurden: Autor, Werktitel und Entstehungszeit des Gegenstandes der Interpretation sind dem Bearbeiter der Aufgabe nicht bekannt, er muss anhand allgemeiner rechtshistorischer Kenntnisse den Autor selbst erschließen, muss also z. B. Thomas von Aquin anhand von dessen Stil und dem Inhalt seiner Aussagen „erraten“ (vgl. etwa den vierten Text, S. 43ff.). Eine weitere Besonderheit gegenüber Vergleichswerken besteht darin, dass mit Texten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der wachsenden Bedeutung der juristischen Zeitgeschichte Rechnung getragen wird. Auffällig ist, dass die Sammlung keinen gemeinrechtlichen Text enthält und Themen wie Rezeption, Usus modernus und Historische Schule eher unterbelichtet bleiben. Für eine künftige Auflage ist zu wünschen, dass die Studierenden mindestens auf eine Prüfungsaufgabe aus dem gemeinrechtlichen Bereich vorbereitet werden. Überhaupt wird die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, die für das Verständnis der heutigen Jurisprudenz und moderner Kodifikationen wie dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch oder dem Schweizer Zivilgesetzbuch doch nach wie vor zentrale Bedeutung hat, stiefmütterlich behandelt. So bleiben nach Lektüre einschlägiger Passagen vor allem begriffliche Verbindungen von „Volksgeist“, „Nationalismus“, „Historismus“ oder „Rassismus“ in Erinnerung (S. 188f., 192f., 233), die den Leistungen dieser Epoche sicher nicht gerecht werden. Besonders spannend und lehrreich ist dagegen so manche Ausführung zum Gegenwartsbezug einzelner Textstellen, in denen etwa eine Verbindung zwischen bestimmten historischen Sachverhalten und aktuell um Themen wie Steuerung, governance und private Rechtsetzung geführten Debatten hergestellt wird (S. 182, 204).

 

Den zwanzig Quellentexten sind im „Vorwort“ (S. V) und in einer „Einführung in die Textinterpretation“ (S. 1-5) allgemeine Bemerkungen und Hinweise zu Fragen der Methode und Auslegung vorangestellt. Im Vorwort wird betont, das Buch wolle „methodische Wege“ (sic!) zur Annäherung an einen unbekannten Text zeigen (S. V). „Komplexe Texte“ würden sich erst dann erschließen, „wenn sie methodisch angegangen“ werden (S. V). „Dieses methodische Verständnis“ sei auch „für die jeweilige Praxis vorteilhaft“ (S. V). Dabei bleibt offen, was mit ,Methode’ eigentlich gemeint sein und um welche ,Methode’ es sich handeln könnte. In der Einführung in die Textinterpretation begegnen in geraffter Form zunächst einige Bemerkungen zu Fragen, welche die juristische und philosophische Hermeneutik unter Stichworten wie „Abstand der Zeiten“, „Applikation“ oder „Rekonstruktion“ zu diskutieren pflegt (S. 1). Das Wort „Methode“ fällt nur einmal, und zwar auf S. 2, wo es heißt: „Die Methode, wie wir einen Text interpretieren können, besteht aus sechs Schritten“, und zwar: „Zusammenfassung“, „Sachliche Aussagen“, „Quellenbestimmung“, „Historische Verortung“, „Historischer Hintergrund“, „Wirkungsgeschichte und Gegenwartsbezug“ (S. 2ff.). Diese Schritte seien „wirklich notwendig“, um einen Text „vollständig zu erfassen“ (S. 2). ,Methode’ ist hier also nicht in dem Sinne zu begreifen, wie sie innerhalb der wissenschaftlichen Hermeneutik diskutiert wird, nämlich vor allem als Frage, ob sich die Interpretation von Texten überhaupt methodisieren lässt oder ob ein vollständiges Verständnis überhaupt möglich ist (dazu näher Stephan Meder, Mißverstehen und Verstehen, Tübingen 2004, S. 228ff., 112 ff.). ,Methode’ bedeutet für die Autoren vielmehr einheitliches Aufbauschema, genereller Gliederungsvorschlag oder Leitfaden, welcher dem Bearbeiter Anhaltspunkte zur Bewältigung einer bestimmten Prüfungssituation bietet. Solche Anhaltspunkte sind für den Bearbeiter rechtsgeschichtlicher Klausurtexte zweifellos sehr nützlich und werden auch sonst in Anleitungen zur Textinterpretation gegeben. Es ließe sich freilich darüber streiten, ob diese Art der Hilfestellung tatsächlich als ,Methode’ bezeichnet werden muss oder ob man mit dem überkommenen Sprachgebrauch nicht weiterhin von ,Technik’ oder ,Hinweisen’ sprechen sollte.

 

Alles in allem bringt das Buch nicht nur rechtshistorisches Wissen in Erinnerung, sondern regt auch zu selbständigem Denken unter gesellschaftskritischen und rechtspolitischen Gesichtspunkten an. Studierende, die sich den hohen Anforderungen der „Textinterpretationen“ aussetzen und bis zum Ende durchhalten, werden auf ihre Kosten kommen. Das Buch ist eine wertvolle Bereicherung des gegenwärtig doch sehr mageren Bestands an aktuellen Anleitungen zur Interpretation von Texten.

 

Hannover                                                                                                         Stephan Meder