Schneider, Ute, Hausväteridylle oder sozialistische Utopie? Die Familie im Recht der DDR. Böhlau, Köln u.a. 2004. VII, 389 S.

 

Bei Schneiders Untersuchung über die Familie im Recht der DDR handelt es sich um die überarbeitete Fassung ihrer 2002 angenommenen Habilitationsschrift. Punktuell konnte Literatur von 2003 noch mit aufgenommen werden, wenngleich die Schrift Großekathöfers keine Berücksichtigung mehr gefunden hat. Schneider betrachtet die Familienrechtsentwicklung in sowjetischer Besatzungszone und Deutscher Demokratischer Republik vom Ausgangspunkt 1945 bis zum Familiengesetzbuch (FamGB) von 1965 unter rechtshistorischen, sozialhistorischen und rechtsvergleichenden Gesichtspunkten. Sie schildert dabei zunächst Vorgeschichte und Voraussetzungen des neuen DDR-Familienrechts, dann Entstehung und Inhalt dieses Rechts. Da es im Gliederungsablauf zu einer Mischung aus zeitlichen, rechtssystematischen, rechtsvergleichenden, rechtssoziologischen und weiteren Elementen kommt, ist dem Aufbau (dieser wird erläutert auf S. 6f.) nicht ganz einfach zu folgen. Schneider formuliert einleitend mehrere Untersuchungsziele (S. 4-6), wie „Beziehungsgeschichte“ zwischen ost- und westdeutschem Familienrecht, auf der inhaltlichen Ebene der Gesetzesnormen die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität, besonders im Hinblick auf die spätestens seit Beginn der Weimarer Republik erhobenen Reformforderungen, die Frage nach Regelungsziel und sozialer Funktion der neuen Familiengesetze sowie nach der Rolle der Familienpolitik im Rahmen aktueller Debatten um Entwicklung und Ausprägung diktatorischer Herrschaft in der DDR.

 

Zu Beginn der Arbeit werden Begriffsbestimmungen und staatlich-soziale Funktionen von Ehe und Familie in unterschiedlichen Epochen und politischen Systemen behandelt. Dieser Abschnitt (S. 15-38) ist überschrieben „Die ,kleinste Zelle’ des Staates“. Nach Begriffsbestimmungen und Begriffsausfüllungen von Ehe und Familie in der bürgerlichen und sozialdemokratischen Familienpolitik bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts (S. 15-22) nebst kurzem Ausblick auf die DDR (S. 22-24) wird zunächst das Familienbild des Marxismus erläutert (S. 24-27). Beigefügt werden generelle Erwägungen zur Funktion des Privatrechts im Sozialismus östlicher Prägung (S. 27-30). Als Hintergrund der DDR-Entwicklung werden ferner die sowjetische Familienpolitik (S. 30-33) sowie das Eherecht des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches von 1896 nebst Reformforderungen geschildert (S. 33-38), mit guten Kurzdarstellungen zu Patriarchatskritik, älterer Frauenbewegung und Diskussionen der Weimarer Republik. Unter Umständen hätte ergänzend noch kurz auf die parlamentarischen Forderungen der Sozialdemokraten nach einem gleichberechtigten Familienrecht (zuletzt dokumentiert durch Plat) eingegangen werden können, da hier möglicherweise Wurzeln der späteren Reformansätze liegen könnten.

 

Im zweiten Teil werden Politik und Justiz in der sowjetischen Besatzungszone im Hinblick auf das Familienrecht untersucht (S. 39-95). Dabei wird vor allem auf die bereits im Sommer 1945 von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland eingesetzte Zentralverwaltung für Justiz (DJV) eingegangen, die hier eine zentrale Rolle übernahm. Der aus familienrechtshistorischer Sicht entscheidende Teilabschnitt „Reform der Familiengesetzgebung“ (S. 79-95) behandelt eine Vielzahl von Reformentwürfen dieser Zeit, so z. B. zum Abtreibungsrecht, Nichtehelichenrecht, zur Ehescheidung sowie zur Umsetzung der Gleichberechtigung nebst Berufstätigkeit der verheirateten Frauen und Mütter. Im Teilabschnitt „Juristen und Juristinnen“ (S. 49-73) werden einige führende Akteure der DDR-Rechtspolitik porträtiert, unter ihnen Hilde Benjamin, Ernst Melsheimer, Hans Nathan.

 

Der dritte Abschnitt (S. 99-174) ist mit „Etappen der Kodifizierung“ überschrieben. Er enthält nicht nur Ausführungen zur Gesetzgebungsgeschichte, sondern auch rechtsvergleichende und soziologische Exkurse. Zunächst wird, sehr gründlich mit einer Vielzahl von Archivnachweisen erarbeitet, die Vorgeschichte des Familiengesetzbuches und früherer Entwürfe von 1950 bis 1965 dargestellt (S. 99-119). Dies beinhaltet nicht nur eine exakte und detaillierte Beschreibung der Ereignisse, sondern auch deren Interpretation vor dem Hintergrund der allgemeinpolitischen Entwicklungen ihrer Zeit. Gesondert betrachtet werden sodann Zusammensetzung und Arbeit der für die Familienrechtsreform zuständigen Kommission(en) (S. 119-147), mit schönen biographischen Studien zu führenden DDR-Familienrechtlern (S. 131-137) und interessanten Interna über die vom Zentralkomitee gesteuerte Entwicklung der Gesetzessprache („tönender Zauber“; S. 144-147). Letztlich, so Schneider, hätten sich hinter der Fassade von bürokratischer Organisation und politischer Gleichheit informelle Strukturen etabliert, die in der offiziellen Rhetorik für überwunden erklärt worden seien (S. 147). Rechtsvergleichung (S. 148-167) und „soziologische Methode“ (S. 167-174) werden speziell in ihrer Funktion als „Arbeitstechnik“ der DDR-Gesetzgeber analysiert. So wird detailliert herausgearbeitet, an welchen Punkten skandinavisches, österreichisches, sowjetisches oder westdeutsches Familienrecht eine Rolle in der DDR-Diskussion spielten und welche Gruppen der DDR-Juristen durch die Reformdiskussionen der Weimarer Republik beeinflusst waren.

 

Der vierte Abschnitt „Das ,Ringen’ um das sozialistische Recht: Normen und Regelungen“ (S. 175-267) ist rechtssystematisch nach Regelungsgegenständen aufgebaut. Nach einer Einleitung („Recht und Normen“ generell, S. 175-181) wird auf den Begriff der Familie, denjenigen der Ehe, sodann auf Verlöbnis, Ehemündigkeit, Eheschließung, Eheverbote, Namensrecht, Schlüsselgewalt, eheliches Güterrecht, Ehescheidung und Nichtehelichenrecht eingegangen. Auch hier werden die Entwicklungen hervorragend mit einer Vielzahl von Archivnachweisen dokumentiert. Besondere Beachtung verdienen ferner die vorzüglichen und exakten Nachweise zu Teilen des älteren (Reform-)Schrifttums des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, exemplarisch wären hier Bebel, Kipp, Menger, Munk, Proelß/Raschke zu nennen. Schneider gelingt es hier sehr überzeugend, das DDR-Familienrecht als Teil der gesamtdeutschen Entwicklung zu schildern. Über weite Flächen nimmt sie eine Erstbearbeitung zentraler Fragen des Familienrechts unter dieser Fragestellung vor. Ihrer Untersuchung kommt damit nicht nur für die DDR-Familienrechtsgeschichte, sondern auch für die deutsche Familienrechtsentwicklung generell der Rang eines Standardwerks zu.

 

Der letzte Teil der Arbeit (S. 270-343) beschäftigt sich mit der „Normenimplementation“. Behandelt werden in erster Linie zwei zentral gelenkte Kampagnen der Jahre 1954 und 1965 mit dem Ziel der öffentlichen Vorstellung, Diskussion und Durchsetzung neuen Familienrechts. Die detailreiche Schilderung wird ergänzt durch einen Sonderteil über „Teilnehmer und Beobachter zwischen Ost und West“, nämlich Kirchen (S. 314-329) und Fachverbände (S. 329-343). Aus heutiger Sicht befremdlich erscheint, dass sich kirchliche Kreise in den 1950er Jahren explizit auch gegen die Gleichberechtigung gewandt hatten und dies mit einer quasi-naturrechtlichen Argumentation zu stützen suchten. Unter den Fachverbänden ist namentlich der - im Westen aktive - Deutsche Juristinnenbund (DJB; S. 339-342) hervorzuheben, der trotz sachlicher Berührungspunkte in den Reformzielen freilich keine institutionellen Kontakte in den Osten wünschte.

 

S. 353-386 enthalten die Übersicht über Quellen und Literatur. Vielleicht hätten hier noch eine Neuerscheinung von 2003 (Großekathöfer) sowie hinsichtlich der Entwicklungen in den 1950er Jahren der Aufsatz Ziegers (1981), in welchem dieser die damaligen Rechtsänderungen und Umsetzungsprobleme im Scheidungsrecht aus der Perspektive eines jungen DDR-Richters schildert, eingefügt werden können, doch sind dies nur Marginalien, die kaum ins Gewicht fallen. Insgesamt ist eine beeindruckende Fülle an zeitgenössischen Quellen - insbesondere vorzüglich recherchiertes Archivmaterial - sowie Literatur zusammengetragen worden. Beispielhaft für die hervorragende Auswertung und Nachweisführung mit Archivalien mag auf die Fußnotennachweise zu S. 151-167 verwiesen werden. Zur sehr erfreulichen Auswertung der zeitgenössischen Presse vgl. nur die Nachweisdichte in den Fußnoten auf S. 293f. Besonders hervorzuheben sind im übrigen die Interviews Schneiders mit Zeitzeugen der DDR-Familienrechtsgeschichte (wie Linda Ansorg, Anita Grandke). Hierdurch wird ein nachahmenswerter und nicht alltäglicher Zugang zur juristischen Zeitgeschichte eröffnet. Ergänzt wird die Arbeit durch ein umfassendes Personenverzeichnis (S. 387-389), ein Sachverzeichnis fehlt leider.

 

Insgesamt ist es Schneider gelungen, ein sehr schönes Grundlagenwerk zur Entwicklung des DDR-Familienrechts zu erstellen, das zur rechtshistorischen und familiensoziologischen Standardliteratur über diesen bedeutenden Abschnitt deutscher Zeitgeschichte zu rechnen ist und dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist. Über Archivstudien und Befragung von Zeitzeugen ist es der Autorin geglückt, eine detaillierte Innensicht der DDR-Famlienrechtsreform zu entwerfen, wie sie bisher noch nicht vorlag und qualitativ wohl kaum mehr überboten werden kann. Eine weitere Besonderheit liegt in der Erschließung rechtshistorischer Fragestellungen und älterer Rechtsnormen durch Methoden der Nachbarwissenschaften: Das Material wird also nicht nur unter Verwendung typischer juristischer Auslegungsmethoden interpretiert, sondern in erster Linie als Teil politischer, zeitgeschichtlicher und sozialer „Diskurse“ analysiert und in überzeugender Form in diese Diskurse integriert. In ihrer Schlussbetrachtung verweist Schneider zu Recht darauf, dass die DDR-Familiengesetze - namentlich zur Gleichberechtigung - paradoxerweise eine liberale und individualistische Tradition fortführten, die bei Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs gerade vor dem Familienrecht halt gemacht hatte (S. 348). Alles in allem fand der Abbau des familienrechtlichen Patriarchats - und damit gewissermaßen die Demokratisierung der Familie - im Osten einige Jahre früher statt als im Westen. So sei laut Schneider die Familie im DDR-Recht eben nicht nur Objekt eines „social engineering“ und Keimzelle des Staates, sondern in Teilbereichen eine autonome private Gesellschaftseinheit gewesen (S. 351f.), die, so lässt sich hinzufügen, in der Praxis (Bespitzelung von Familienmitgliedern, Zwangsadoptionen u. a.) aber nicht in jedem Fall respektiert wurde.

 

Hannover                                                                                                         Arne Duncker