Schefold, Bertram, Beiträge zur ökonomischen Dogmengeschichte, ausgewählt und hg. v. Caspari, Volker. Verlag Wirtschaft und Finanzen, Düsseldorf 2004. X, 617 S.

 

Nahezu 2500 Jahre Geschichte der wissenschaftlichen Versuche zur Erklärung wirtschaftlichen Handelns sind in diesem Band vereint, von Xenophon (eigentlich Sokrates) bis Müller-Armack, von der griechischen Klassik bis zur deutschen Nachkriegswirtschaft reicht das Spektrum. Um die sich daraus ergebende Fülle des Materials bewältigen zu können, bedarf es nicht nur einer notwendigen Klassifizierung, sondern noch mehr eines Überblicks, der staunen macht. Das Werk ist in sechs große Abschnitte eingeteilt: die Darstellung beginnt im klassischen Altertum, wendet sich dem Mittelalter und der Scholastik zu, - Bereichen, die nicht unbedingt vorrangig mit ökonomischen Lehrmeinungen in Verbindung gebracht werden - , um dann zu bekannteren Erscheinungen überzugehen: dem Merkantilismus, der Neoklassik, der gerade im deutschen Bereich sehr starken Historischen Schule, um dann bei der Moderne zu enden. Um die Europa-Zentrierung (mit Ausnahme einiger Autoren aus den USA) zu überwinden, werden in einem siebenten Kapitel Aus- und Einblicke gegeben in chinesische, japanische, islamische Wirtschaftsauffassungen (sowie in eine vorrevolutionäre russische). Nicht nur das Gesamtwerk zeugt von einem umfassenden Überblick über die Ökonomie-Geschichte. Auch in den einzelnen Artikeln beschränkt sich der Verfasser nicht auf die Darstellung der jeweiligen Lehrmeinungen, sondern bettet sie ein sowohl in die wirtschaftlichen, geistesgeschichtlichen als auch wirtschaftwissenschaftlichen parallelen oder ergänzenden Lehrmeinungen, so dass die Lektüre dem Leser zeitweise einiges abverlangt. Die dargestellten Auffassungen zur Entwicklung der Wirtschaft lassen sich – ganz grob – in zwei Richtungen einteilen: die philosophisch-geisteswissenschaftlich und die mathematisch-naturwissenschaftlich geprägten Lehren. Auch wenn der Verfasser meint, die Ökonomen hätten nicht gelernt, geisteswissenschaftlich zu arbeiten (S. 506), können doch die Frühformen der Ökonomik in diese Kategorie eingeordnet werden, ebenso wie die Historische Schule. Mathematisierung taucht erst auf, als man glaubte, Wirtschaft von außen (d. h. überwiegend durch den Staat) lenken oder zumindest ordnen zu können, also mit dem Merkantilismus (so explizit Petty, S. 237ff.). Aber selbst in dieser beginnenden rationalistischen Epoche findet sich der  Konterpart (explizit wohl Justi, S. 251ff.). Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich – ebenfalls nur ganz grob qualifizierend – auch die Epoche der Neoklassik der der Historischen Schule entgegenstellen: den Formeln der Zinsbestimmung stehen die gedanklichen Bemühungen um die Erfassung von wirtschaftlichen Entwicklungen gegenüber. Der Rezensent will nicht verhehlen, dass er den „Formeln“ nicht viel Positives abgewinnen kann, schon gar nicht den Versuchen, die „Ideen älterer Autoren mit mathematischen Mitteln zu formalisieren“ (S. 422). Schaut man sich die Formeln zur Erläuterung von Wirtschaftsabläufen genauer an, so werden diese häufig von Annahmen geprägt (z. B. S. 352/353), die – mit Verlaub – richtig sein mögen, aber nicht sein müssen. Die mathematischen Herleitungen spiegeln – kritisch betrachtet – gerade wegen dieser angenommenen Voraussetzungen eine Sicherheit wieder, die nicht gegeben sein kann, weil die vorausgesetzten Annahmen nicht verifiziert werden. M. a. W. wenn ich eine bestimmte Annahme zur Grundlage einer Formel mache, dann muss notwendigerweise das (erwartete) Ergebnis herauskommen, ohne dass damit erkenntnistheoretisch ein Fortschritt vorliegt. Für die „Ökonomie als einer Wissenschaft vom menschlichen Handeln“ (S. 329) erscheint daher die geisteswissenschaftliche Methodik angemessener, die die Denkprozesse nachzeichnet, welche dem wirtschaftlichen Handeln zugrunde liegen. Trotz der zahlreichen Formeln scheint der Verfasser letztlich ebenfalls diesem Gedanken anzuhängen, wenn er anmerkt: „Die Aufstellung der Gleichungsbedingungen für ein langfristiges Gleichgewicht dient zunächst der wissenschaftlichen Kritik und beweist keineswegs, dass solche Zustände in einer unsicheren Welt auch erreicht werden. Sie liefert erst recht keinen Beweis, dass auf ihrer Grundlage effiziente Wirtschaftsplanung möglich wäre“ (S. 333 Fn. 24). Dieses Monitum scheinen die mathematischen Ökonomen manchmal zu vergessen. Die Anarchie der Wirtschaft (so Röpke, Die Lehre von der Wirtschaft10 S. 18) lässt sich nicht mit mathematischen Formeln fassen, sondern nur mit geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. Mit der Suche „in der Vergangenheit nach der auf die Gegenwart mündenden Vorgeschichte des von der Gegenwart aus in die Zukunft hinein Erstrebten“ (so Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart I S. 16) hat dieser Band viel zu tun: er zeigt uns die Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft in der spanischen Scholastik, die auf die katholische Soziallehre einwirkte (S. 127), und auf deren Erkenntnisse sich zurückzubesinnen bei den gegenwärtigen (vermeintlichen) wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht schaden dürfte. Kameralismus und europäische Einigung sind eine weiteres geisteswissenschaftliches Paar (S. 236), das heute nicht sofort ins Auge fällt, dem aber durchaus vergleichbare Problemlagen zugrunde liegen. Letztlich können sich geisteswissenschaftliche Ideen auch nicht gegen ihre Vereinnahmung durch politische Ideologen wehren, denen deren historische Grundlagen selbst fremd sind (S. 432/433 zu Adolph Wagner und der NS-Ideologie).

Das Werk enthält eine Fülle von Anregungen, mit denen auseinander zusetzen sich lohnt, auch wenn geschichtliches Denken (nicht nur in der Ökonomie) im Abnehmen begriffen ist.

 

Frankfurt am main                                                                                          Siegbert Lammel