Roos, Christoph, Die Grundlagen und die dogmatische Entwicklung der Vorschriften zur Einrede des nichterfüllten Vertrages im Bürgerlichen Gesetzbuch und in der Zivilprozessordnung im 19. Jahrhundert. Diss. jur. Bonn 2004. XLVIII, 254 S.
Jeder Jurist hat sich frühzeitig in seinem Studium mit den Bestimmungen für gegenseitige Verträge auseinanderzusetzen, die zahlreiche Besonderheiten für das Recht der Leistungsstörungen enthalten. Dazu gehört auch die wechselseitige Abhängigkeit der Hauptleistungspflichten aus einem gegenseitigen Vertrag in ihrer Durchsetzung, das sog. funktionelle Synallagma. Angesichts der Bedeutung dieser Regelungsmaterie ist es verdienstvoll, dass sich der Verfasser mit der rechtshistorischen Entwicklung der Einrede des nichterfüllten Vertrages im 19. Jahrhundert auseinandergesetzt hat. Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Darlegung der Grundlagen und der dogmatischen Entwicklung der §§ 320-322 BGB von 1900 sowie der entsprechenden Vorschriften in der Zivilprozessordnung von 1877.
Eine rechtshistorische Untersuchung einzelner Bestimmungen des geltenden Rechts hat nicht nur nach der spezifischen Gesetzgebungsgeschichte zu fragen, sondern eine ganze Reihe weiterer Faktoren zu berücksichtigen. Dazu gehört zum einen die Frage nach der rechtswissenschaftlichen Diskussion und der Entwicklung in der Rechtspraxis insbesondere der Rechtsprechung. Zum anderen ist – folgt man der Lehre einer „integralen Rechtsgeschichte“ – nach den sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Ursachen und Zusammenhängen für die Entwicklung der Einrede des nichterfüllten Vertrages (exceptio non adimpleti contractus) zu fragen. Diesen methodischen Ansprüchen an die Rechtsgeschichte wird die Arbeit von Roos nur zum Teil gerecht. Roos stützt seine Untersuchung vor allem auf die Gesetzgebungsgeschichte seit den großen Kodifikationen um 1800. Auf dieser Grundlage entwickelte die juristische Literatur des 19. Jahrhunderts – die Roos allenfalls querschnitthaft untersucht – zwei Grundauffassungen zum „funktionellen Synallagma“: Während die einen der Ansicht waren, bei der Einrede des nichterfüllten Vertrages handele es sich um eine echte Einrede, vertraten die anderen den Standpunkt, die Erfüllung durch den Kläger oder doch wenigstens die Erklärung seiner Bereitschaft hierzu gehöre zum Klagegrund; berufe sich der Beklagte auf Nichterfüllung durch den Kläger oder dessen mangelnde Erfüllungsbereitschaft, liege eine Leugnung des Klagegrundes (sog. negative Litiskontestation) vor. Beide Auffassungen resultierten aus dem Streit um die Rechtsnatur des gegenseitigen Vertrages, den Roos nur äußerst knapp wiedergibt.
Ausgehend von dieser Erkenntnis verfolgt der Autor die Entwicklung der Einrede des nichterfüllten Vertrages vor allem in den Gesetzen und Gesetzentwürfen des 19. Jahrhunderts. Roos zeichnet dabei ein recht umfassendes und gründliches Bild der Gesetzgebungsgeschichte und bezieht dabei auch die Entwicklung in der Schweiz ein. Nahezu unberücksichtigt bleibt aber der Beitrag der Rechtsprechung, z. B. der Obergerichte der Einzelstaaten des Deutschen Bundes, des späteren obersten Bundes- bzw. Reichsoberhandelsgerichts sowie des Reichsgerichts. Auch fehlt in der ganzen Arbeit die Frage nach den sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Ursachen und Zusammenhängen der Diskussion im 19. Jahrhundert. Zwar bezieht der Verfasser – wenn auch nur am Rande – die rechtswissenschaftliche Diskussion mit ein; die Wechselbeziehungen mit der Gesetzgebung bzw. der Einfluss der Gesetzgebung auf die Ausgestaltung der dogmengeschichtlichen Entwicklung bleiben jedoch im Dunkeln. So bleibt die Frage unbeantwortet, warum in den Prozessordnungen des 19. Jahrhunderts die Zusammenhänge mit dem nichterfüllten Vertrag so lange ungeregelt blieben.
Trotz dieser Ungereimtheiten bleibt die Arbeit von Roos wegen ihrer gründlichen Recherche der Gesetzgebungsgeschichte einschließlich der Schweiz anerkennenswert; der Interessierte findet auf der normativen Ebene genügend Material und kann an die Ergebnisse von Roos anknüpfen. Eine präzise Kontextualisierung mit der Rechtsprechung, der Rechtswissenschaft und den wirtschaftsgeschichtlichen Hintergründen bedarf allerdings noch einer weiteren Untersuchung.
Bayreuth Louis Pahlow