Röben, Betsy, Johann Caspar Bluntschli, Francis Lieber und das moderne Völkerrecht 1861-1881 (= Studien zur Geschichte des Völkerrechts 4). Nomos, Baden-Baden 2003. XII, 356 S.

 

1. In der von Michael Stolleis ins Leben gerufenen Reihe der „Studien zur Geschichte des Völkerrechts“, die er jetzt gemeinsam mit Armin von Bogdandy und Wolfgang Graf Vitzthum herausgibt, ist mit dem hier vorzustellenden Band ein in mehrfacher Hinsicht bemerkenswertes Buch erschienen. Zunächst sticht ins Auge, dass eine amerikanische Völkerrechtlerin eine Monographie in deutscher Sprache veröffentlicht. Aus dem in Heidelberg geschriebenen Vorwort (XI/XII) erfährt der Leser dann von der Verbundenheit der Verfasserin mit Deutschland, wo sie in Kiel, betreut von Hans Hattenhauer, promoviert wurde. In einer Zeit, in der viele deutsche Wissenschaftler auch in der heutigen Weltsprache Englisch publizieren, sieht der Rezensent mit ausgesprochenem Vergnügen, dass die von manchen provinziellen Kultusbürokraten schon totgesagte Wissenschaftssprache Deutsch auch außerhalb der Altertumswissenschaften sich noch eines blühenden Lebens erfreut.

 

Die Verbindung zwischen dem zuletzt in Heidelberg lehrenden Schweizer Völkerrechtsklassiker Johann Caspar Bluntschli (1808-1881) und dem aus Deutschland stammenden, um das Kriegsvölkerrecht hochverdienten Nordamerikaner Francis Lieber (1798-1872) ist auch für den historisch nicht Versierten mit Händen zu greifen, wenn er die Erstausgabe des 1868 bei C. H. Beck in Nördlingen erschienenen Buches Bluntschlis, „Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten als Rechtsbuch dargestellt“, aufschlägt. Auf S. V bis VII steht nämlich „Anstatt des Vorworts ein Brief an Professor Dr.Franz Lieber in New-York“; als „Anhang“ (S. 467-505) hat Bluntschli „Amerikanische Kriegsartikel der Vereinigten Staten von 1863“ im englischen Original beigefügt („Instructions for the Government of Armies. of the United States in the field“), die wir noch heute als „Lieber-Code“ bezeichnen. In dem als Vorwort zu seinem Buch dienenden Brief an Lieber, den er als „Mein lieber Freund!“ anredet (vgl. auch die Verfasserin 271ff.), schreibt Bluntschli: „Ihr glücklicher Gedanke, der amerikanischen Armee ein kurz gefasstes Kriegsrecht als Instruction ins Feld mitzugeben, und mit den Mahnungen des Rechts die wilden Leidenschaften des Kriegs möglichst zu zähmen, hat mich zuerst zu dem Vorsatze angeregt, die Grundzüge des modernen Völkerrechts in Form eines Rechtsbuchs darzustellen und Ihre Briefe haben mich ermuthigt, dieses Wagniß durchzuführen.“ Schon diese 1868 gedruckte briefliche Äußerung des Schweizer Völkerrechtsklassikers sollten jeden Völkerrechtler und jeden an der Geschichte des Völkerrechts Interessierten voll Neugier zum Buch der Verfasserin greifen lassen. Die Lektüre wird jeden Leser reich belohnen.

2. Kapitel I (1-14) trägt die Überschrift „Transatlantische Anregung zur gemeinsamen ‚autoritativen Aussprache’ völkerrechtlicher Rechtsgrundsätze“ und enthält eine dicht geschriebene, anspruchsvolle Einleitung.. Die Verfasserin charakterisiert zunächst (A.) den „Gegenstand der Arbeit“ (1f.). Die zwei Jahrzehnte von 1861 bis 1881 werden durch den Beginn des amerikanischen Bürgerkrieges und durch Bluntschlis Todesjahr markiert. Die Untersuchung basiert aber auch auf 42 Briefen aus der Korrespondenz, die Lieber und Bluntschli zwischen 1865 und 1872 (dem Todesjahr Liebers) geführt haben und die von der Verfasserin ihrem Buch als Quellen-Anhang beigefügt sind (259-305). In Kapitel I folgen den Ausführungen über (B.) „Das Bedürfnis für die ‚autoritative Aussprache’ der ‚Grundsätze’ des Völkerrechts im Zeitalter der Nationalstaaten“ (2ff.), über den (C.) „Stand der Forschung“ (7ff.), (D.) „Die Quellen“ (9ff.) und – als biographischer Ausschnitt – über (E.) „Lieber und Bluntschli zur Zeit des Briefwechsels“ (11ff.).

 

3. „Biographien“ ist die kurze Überschrift des Kapitels II (15-81). Die Verfasserin untersucht zunächst (A., 15ff.) „Francis Liebers wissenschaftliches Leben (* 1798 in Berlin, † 1872 in New York)“. Wir erhalten hier auf 25 Seiten eine glänzend geschriebene, instruktive Darstellung von Leben und Werk des bei uns heute meist nur als Urheber des „Lieber-Code“ bekannten Deutschamerikaners Lieber, der schon als sechzehnjähriger Kriegsfreiwilliger bei Waterloo gegen Napoleon gekämpft hatte, aber in seiner preußischen Heimat als liberaler Student ab 1819 politisch schikaniert und verfolgt wurde (16ff.). Als „Freiheitskämpfer“ gegen die Türken in Griechenland, Hauslehrer in Rom und (nach zehnmonatiger Haft in Preußen) in Mecklenburg, entschloß sich Lieber 1826 zur Auswanderung in ein freies Land. Nach einem längeren Aufenthalt in England (wo er seine künftige Frau kennenlernte) erreichte Lieber 1827 Nordamerika. Bis 1835 lebte er in Boston (19ff.), wo er unter anderem die „Encyclopaedia Americana“ herausgab. Es folgte die über ein Vierteljahrhundert dauernde Tätigkeit als Professor für Staatsphilosophie, Geschichte und Staatshaushalt am South Carolina College (26ff.). Da Lieber für die Abschaffung der Sklaverei eintrat, gab er seine Professur im Süden der USA auf und zog 1857 in den Norden, nach New York (32ff.). Als Professor der Geschichte und der politischen Ökonomie am Columbia College in New York wurde Lieber auch politischer Berater der Bundesregierung in Washington. 1863 wurden die von Lieber verfassten Kriegsartikel für die Armee der Nordstaaten (der sogegannte Lieber-Code) von Präsident Lincoln in Kraft gesetzt. Als Publizist und politischer Berater war Lieber bis zu seinem Tode tätig.

 

Nach Lieber widmet sich die Verfasserin (B., 40ff.) „Johann Caspar Bluntschli (* 1808 in Zürich, † 1881 in Karlsruhe)“. Die Vita des Schweizer Völkerrechtsklassikers des 19. Jahrhunderts ist bekannter, was aber die Darstellung der Verfasserin nicht weniger lesenswert macht. Bluntschlis Tätigkeit in der Schweiz („Konservativer unter Revolutionären, Zürich 1829-1848“, 48ff.) wird ebenso treffend geschildert wie die Jahrzehnte in Deutschland („Reformer in der Restaurationszeit, München 1848-1861“, 49ff., und „Gemäßigter Liberaler in Baden, Heidelberg 1861-1881“, 52ff.).

 

In einem dritten Abschnitt (C.) würdigt die Verfasserin „Bluntschli und Lieber unter Völkerrechtlern“ (67ff.). Sie analysiert zum einen den „Kreis der Korrespondenten“ (67ff.). Hier ist der Gedankenaustausch zwischen Lieber und dem Berliner Professor für römisches Recht und Völkerrecht August Wilhelm Heffter († 1880) besonders hervorzuheben (68ff.). Es folgen Ausführungen über das erst nach Liebers Tod, aber aufgrund seiner Ideen von Bluntschli mitgestaltete, 1873 gegründete Institut de Droit International (78ff.).

 

4. In Kapitel III (83-104) zieht die Verfasserin „Zwischenbilanz: Wissenschaftliche Methoden und Rechtsbegriffe“. Sie würdigt zunächst Liebers Verhältnis zur historischen und der mehr philosophisch orientierten Rechtswissenschaft seiner Zeit (83ff.). Lieber selbst hatte von sich als „philosophischem Historiker“ (85) gesprochen. Die Verfasserin kennzeichnet sein Verständnis vom internationalen Recht treffend als „praktisches, unmethodisches Völkerrecht als historisch fundiertes System“ (84) und sieht diese gegründet in seiner „Lehre von Naturrecht und positivem Recht“ (87ff.). Lieber kommt mit seiner „jural nature“ des Menschen (89ff.) zu einer ähnlichen Begründung wie Bluntschli mit der „Menschennatur“ (vgl. nur Das moderne Völkerrecht, § 2: „Die gemeinsame Menschennatur ist das natürliche Band, welches alle Völker zur Einen Menschheit verbindet“ etc.). Der Einfluß Bluntschlis auf Lieber ist hier mit Händen zu greifen (91).

 

Bluntschlis Völkerrechtslehre wird von der Verfasserin dreifach beleuchtet: einmal als „Überwindung des Gegensatzes Naturrecht – positives Recht“ (93ff.), zum anderen als „Abkehr von Savignys Lehre vom positiven Völkerrecht“ (98ff.) und schließlich bezüglich der auf die Zukunft gerichteten Wertung des Völkerrechts als „wirkliches, werdendes Recht“ (102ff.).

 

5. Ihr Kapitel IV (105-132) überschreibt die Verfasserin „Der Geltungsgrund des Völkerrechts“. Sie beginnt mit einem Abschnitt (A.) über „Zweifel am Rechtscharakter des Völkerrechts im Zeitalter der Nationalstaaten“ (105ff.), in dem sie, namentlich anhand der Lehre Bluntschlis, das Spannungsverhältnis zwischen „Gleichgewicht und Rechtsgleichheit“ hervorhebt (106ff.), um anschließend das nicht minder gewichtige Problem von „Souveränität und Staatlichkeit“ zu diskutieren (112ff.). Nach dem „Streit um den Geltungsgrund des Völkerrechts: Staatswille oder Rechtsbewusstsein?“ (B., 114ff.), gelangt die Verfasserin zu dem für ihre Darstellung zentralen Abschnitt (C.) über „Die ‚autoritative Aussprache’ von Völkerrechtsgrundsätzen: formelle Quellen, öffentliche Meinung, Rechtswissenschaft und multilaterale Erklärungen“ (121ff.). Sie behandelt nacheinander „Die formellen Quellen des Völkerrechts“ (121ff.), die „Öffentliche Meinung“ (124ff.), „Die Wissenschaft“ (127ff.) und „Multilaterale Erklärungen als Aussprache von geltendem und entstehendem Völkerrecht“ (129ff.).

 

6. Das umfangreiche Kapitel V (133-196) enthält Angelpunkte für „Die völkerrechtliche Lehre Liebers und Bluntschlis“. Zunächst werden von der Verfasserin unterschiedliche Auffassungen aufgezeigt: (A.) „Unterschiede: Begriff der Nation“ (133ff.) . Sie analysiert zuerst „Volk, Nation und Staat als Bausteine des Völkerrechts“ (134ff.), anhand der Definitionen Bluntschlis (134ff.) und Liebers (142ff.). Während Bluntschli, wie wir es aus schweizerischer und deutscher Tradition, kennen „Staat“ und „Nation“ auseinanderhält, gebraucht Lieber in der angelsächsischen, auf das aufgeklärte Naturrecht zurückgehenden Redeweise (man vergleiche nur Vattel!) „Nation“ und „Staat“ wesentlich synonym. Es folgen Ausführungen über die deutsche Nation im Briefwechsel von Lieber und Bluntschli (145ff.) sowie über „Internationalismus contra Internationalität: die Bedeutung des Nationalstaats für das Völkerrecht“ (152ff.).

 

Im zweiten Abschnitt (B.) untersucht die Verfasserin „Gemeinsamkeiten: Liberale Leitprinzipien und Aufgaben“ (156ff.). Der Grundsatz der „Humanität“ (157ff.) ergibt sich für Bluntschli wie für Lieber aus der „Menschennatur“ beziehungsweise der „nature of man“ (157). Daraus folgen auch das „Menschenwohl als Zweck der (Völker)Rechtsordnung“ (159ff.) sowie „Rechte, Pflichten und Einmischung“ (162ff.). Ein anderes Leitprinzip stellt die „Unterscheidung von privatem und öffentlichem Recht“ dar (167ff.). Zu den Aufgaben des Völkerrechts gehört „Der Fortschritt der Zivilisation“ (171ff.). Die Verfasserin zitiert (171 zu Fn.286) in diesem Zusammenhang Bluntschlis schönes Wort: „Das Völkerrecht ist eine der edelsten Früchte der Civilisation, denn es ist seinem Wesen nach eine menschliche Ordnung“ (Das moderne Völkerrecht, Erläuterung zu § 5). Sowohl Lieber als auch Bluntschli unterscheiden danach aus Überzeugung zwischen zivilisierten und nichtzivilisierten Völkern. Bei dem Schweizer Bluntschli hat dabei die Menschlichkeit im konkreten Detail (etwa bezüglich der Ausrottung „barbarischer“ Indianer in Amerika) einen höheren Stellenwert als bei dem Nordamerikaner Lieber (vgl. 176f.). Eine andere Aufgabe des Völkerrechts war nach Bluntschli und Lieber „Die Bekämpfung der Weltherrschaft“ (185ff.).

 

7. Das letzte Sachkapitel (VI, 197-233) nennt die Verfasserin „Das moderne Kriegsrecht und die Abschaffung der Seebeute“. Sie erörtert hier vorzüglich einen zentralen Bereich, in dem sich Lieber und Bluntschli besondere Verdienste um das moderne Völkerrecht erworben haben: Völkerrechtspraxis und wissenschaftliche Publikationen beider Autoren stehen hier in engem Zusammenhang. Die Verfasserin würdigt zuerst den eminent wirkungsmächtigen „Lieber-Code“ (198ff.), für den sie zum einen die „militärische Notwendigkeit“ (205ff.), zum anderen die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Eigentum (207ff.) als Leitmotive herausstellt. Ausführlich behandelt die Verfasserin anschließend „Bluntschlis Lehre von der Seebeute“ (210ff.). Mit Recht stellt sie das 1878 von Bluntschli veröffentlichte Buch „Das Beuterecht im Krieg und das Seebeuterecht insbesondere“ heraus (211ff.). Auf die ausgezeichnete Darstellung der Verfasserin kann hier nicht näher eingegangen werden. Sie analysiert die wissenschaftliche Untersuchung Bluntschlis im Zusammenhang mit der völkerrechtlichen Praxis der Zeit (vgl. etwa 215f. zur Pariser Seerechtsdeklaration von 1856 und der Abschaffung der Kaperei). Anerkannt wird auch die dogmengeschichtliche Leistung, die Bluntschli mit seiner Monographie erbracht hat (224ff.).

 

8. Das kurze Kapitel VII (235-240) fasst auf wenigen Seiten die „Ergebnisse“ zusammen.

 

Es folgt eine Zusammenfassung in der heutigen internationalen Sprache („English Summary“): „Johann Caspar Bluntschli, Francis Lieber and the Modern Law of Nations 1861-1881“ (241-258).

 

Der schon oben (zu 2.) erwähnte Anhang „Die Bluntschli-Lieber Briefe“ (259-305) bietet eine sorgfältige Edition der 42 erhaltenen Briefe oder Briefauszüge, deren Benutzung durch Erläuterungen der Verfasserin sehr erleichtert wird (vgl. auch den „Hinweis für den Leser“, 259). Die Verfasserin gibt auch Informationen über nicht mehr vorhandene Briefe, die von Bluntschli und Lieber gewechselt worden sind (305).

 

Mit großer Sorgfalt ist ferner das Verzeichnis der „Quellen“ (309-327) gefertigt. Hier sind auch die ungedruckten und gedruckten Schriften Bluntschlis (316ff.) und Liebers (323ff.) aufgeführt. Ein Verzeichnis der „Literatur“ (328-338), ein „Personenregister“ (339-343) und ein „Sachregister“ (345-356) beschließen das Buch, zu dem wir der Verfasserin und der internationalen Fachwelt gratulieren. Künftigen Veröffentlichungen von Betsy Röben dürfen auch die Rechtshistoriker mit hohen Erwartungen entgegensehen.

 

Hamburg                                                                                                        Karl-Heinz Ziegler