Reich oder
Nation? Mitteleuropa 1780-1815, hg. v. Duchhardt, Heinz/Kunz, Andreas (=
Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abteilung
Universalgeschichte, Beiheft 46). Philipp von Zabern, Mainz 1998. VIII, 318 S.
Der vorliegende Band
vereinigt die Druckfassung der Vorträge, die auf der Konferenz deutscher und
nordamerikanischer Neuzeithistoriker im Jahre 1996 in Halle/Saale gehalten
worden sind. Im Gegensatz zu den Vorgängerkonferenzen, die in Chicago, Mainz
und Minneapolis abgehalten worden waren und in deren Mittelpunkt die
Beschäftigung mit der Reichsgeschichte der frühen Neuzeit in ihrer Gesamtheit
stand, war das Thema der Konferenz in Halle die Frage nach den Entstehung der
deutschen Nation, anders ausgedrückt, ab welchem Zeitpunkt oder Zeitraum aus
dem Verband von Territorien und Städten, als der sich das Reich in der frühen
Neuzeit darstellte, eine Nation im spezifischen und klar definierten Sinne
wurde. Wie die Herausgeber in ihrem Vorwort betonen, habe diese Fragestellung
vor allem durch den Vorgang der deutschen Wiedervereinigung zusätzliche
Aktualität erhalten. Außerdem wolle man einen Beitrag zu der seit langem
kontrovers geführten Diskussion über das Werden der deutschen Nation leisten,
namentlich zu der Frage, ob diese durch äußere politische Anstöße oder aus
einer kulturellen Verdichtung erwachsen sei. In diesem Rahmen bewegen sich
daher auch die Themen der aus den Vorträgen hervorgegangenen Beiträge, auch
wenn deren Fragestellungen im einzelnen nicht immer leicht mit dem Generalthema
in Zusammenhang zu bringen sind, worauf noch zurückzukommen sein wird.
Für den Rechtshistoriker
verdienen vor allem die Beiträge von Monika Neugebauer-Wölk, Wolfgang Neugebauer,
Michael Hundt, Karl Härter und Marion W. Gray besondere Hervorhebung, die sich
allesamt mit genuin verfassungs- und rechtsgeschichtlichen Fragestellungen
befassen, während die übrigen Beiträge anderen, stärker politik-, geistes- und
wirtschaftsgeschichtlichen Fragen zugewandt sind, deren Inhalt zwar für den
Rechtshistoriker ebenfalls nicht ohne Interesse ist, jedoch nicht primär sein
Forschungsgebiet betrifft.
Monika Neugebauer-Wölk
geht in ihrem Beitrag „Reich oder Republik? Pläne und Ansätze zur republikanischen
Neugestaltung im Alten Reich 1790-1800“ der Geschichte der republikanischen
Bestrebungen im Alten Reich am Ende des 18. Jahrhunderts und deren Bedeutung
für die Reichsverfassung nach, die für sie mit dem Umsturzversuch im Fürstentum
Lüttich im Jahre 1789 ihren Anfang nahmen und sich bis zum Beginn des Jahres
1800 erstreckten. Bei der Entwicklung dieser Bestrebungen lassen sich nach
ihrer Ansicht drei Phasen unterscheiden, eine erste, die mit dem Aufstand in
Lüttich begann, die als Parallelerscheinung zur Französischen Revolution
aufzufassen ist, eine zweite, die 1792/93 stattfand und mit der ersten Invasion
der Revolutionsarmeen einherging und eine dritte, die den Zeitraum von 1795 bis
1800 umfaßte und die mit der Gründung der französischen Tochterrepubliken in
Zusammenhang stand. Wesentliches Ergebnis der von Frau Neugebauer-Völk
angestellten Untersuchungen ist die These, daß diese republikanischen
Bestrebungen und die von ihnen getragenen Bewegungen nicht durch die Gründung
der französischen Tochterrepubliken ausgelöst wurden, sondern Ausdruck einer
ständischen Revolution gegen den absolutistischen Fürstenstaat waren. Was den
Beitrag dieser Bewegungen zur Nationenbildung betreffe, meint sie, seien in den
nichtdeutschen Randgebieten des Heiligen Römischen Reiches erste Ansätze
solcher Nationenbildung als Abwehrreaktion auf die französischen
Integrationsversuche zu beobachten, während in den Rheinlanden solche
Zielsetzungen gerade nicht zu erkennen seien, hier vielmehr der Anschluß an das
revolutionäre Frankreich im Vorgrund gestanden, d. h. es dort Vorstellungen von
einer eigenständigen deutschen Nation nicht gegeben habe. Eine unabhängige
Nationenbildung habe sich hier erst ab 1795/96 im Zusammenhang mit der Gründung
der französischen Tochterrepubliken in den westdeutschen und den süddeutschen
Reichsgebieten gezeigt. Diese seien vor allem von den republikanischen Klubs
getragen worden, hätten jedoch zu keiner Republikgründung geführt, weil eine
breite Unterstützung durch die Bevölkerung ausgeblieben sei.
Wolfgang Neugebauer
konzentriert sich in seiner Abhandlung über die „Landstände im Heiligen
Römische Reich an der Schwelle der Moderne“ auf die Frage nach der Kontinuität
und Diskontinuität der Landtage um das Jahr 1800 und setzt sich kritisch mit
den verbreiteten Thesen von der Fortsetzung der alten Landtage in den Landtagen
in den aus den Territorien des Alten Reiches hervorgegangenen selbständigen
deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts auseinander. Seine Fragen kreisen um das
Verhältnis von ständischer, besser altständischer Tradition und der
verfassungspolitischen Moderne. Neugebauer ist der Ansicht, daß die Verfassung
des Heiligen Römischen Reiches eine wichtige, wenn auch nicht die einzige
Voraussetzung für das altständische Leben bildete und für die ständischen
Freiräume geradezu konstitutiv war wie dies auch außerhalb des Heiligen
Römischen Reiches, etwa im Osten, in Bezug auf die überlieferte Verfassung
beobachtet werden könne. Die Reichsverfassung ist daher für Neugebauer auch der
Ausgangspunkt für eine Kontinuität der Landtage im 19. Jahrhundert, freilich
mit vielfältigen regionalen und typologischen Unterschieden. Besonders in den
süddeutschen Territorialstaaten glaubt Neugebauer eine direkte institutionelle
Kontinuität erkennen zu können, die darüber hinaus auch eine rechtliche und
eine funktionale Kontinuität erkennen lasse. Auch die personelle Kontinuität
dürfe nicht außeracht gelassen werden, wobei hier freilich die zeitliche
Begrenzung nach Generationen zu berücksichtigen sei. Schließlich verdiene auch
der Aspekt des bewußten geschichtlichen Erinnerns an die altständische
Tradition als Element ausgeprägter regionaler politischer Kultur besondere
Beachtung. Im Ergebnis sei allerdings nach dem derzeitigen Forschungsstand noch
vieles offen und eine Fülle von Fragen nach wie vor unbeantwortet, die jedoch
beantwortet werden müßte, wenn auf die Frage nach der Kontinuität und
Diskontinuität der ständische Beteiligung im Alten Reich und im 19. Jahrhundert
eine auch einigermaßen zutreffende Antwort gegeben werden solle.
Einer ganz anderen
Fragestellung geht Michael Hundt in seiner Abhandlung über „Stein und die
deutsche Verfassungsfrage in den Jahren 1812 bis 1815“ nach. Er widmet sich
einer kritischen Neubewertung der Stein’schen Verfassungskonzeption aus den
Jahren 1812 bis 1815 und zugleich einer Untersuchung des Stellenwertes der
Stein’schen Pläne in den politischen Entscheidungsprozessen dieses Zeitraumes.
Bekanntlich sollte nach Steins Vorstellung die künftige Reichsverfassung aus
drei Elementen bestehen, nämlich einem inneren Reich, das aus den eigentlichen
deutschen Staaten bestehen sollte, einem äußeren Bund dieses Reiches mit
Österreich und Preußen und einem gestärkten Kaisertum an der Spitze. Für den
Fall des Scheiterns einer solchen Lösung sollte eine Teilung des Reiches mit
dem Main als Grenze vorgenommen werden. Ergänzt werden sollte diese Verfassung
durch entsprechende Verfassungen der Länder, deren Vollzug durch die „Nation“
garantiert und kontrolliert werden sollte. Hundt beschreibt, wie Stein seine
Pläne zunächst über den russischen Zaren zu realisieren suchte, sie nach dem
Mißlingen dieser Bestrebungen mit seinen Verwaltungsreformen weiterverfolgte
und schließlich, nachdem auch dies nicht gelungen war, auf dem Wiener Kongreß
den Versuch unternahm, seine Pläne durch eine neuerliche Einflußnahme beim
Zaren, aber auch bei den preußischen Vertretern zu verwirklichen, was ebenfalls
ohne Erfolg blieb. Den Grund für Steins Scheitern sieht Hundt in den von Stein
nicht erkannten andersgelagerten Interessen der europäischen Mächte, bei denen
sich Steins Pläne zuweilen sogar kontraproduktiv auswirkten. Zu Recht betont
er, daß Stein seine Pläne in der geistigen Auseinandersetzung mit den Lehrern
seiner Göttinger Studienzeit, namentlich Johann Stephan Pütter und August
Ludwig von Schlözer, entwickelt habe, ihm jedoch bei deren Umsetzung der Sinn
für das politische Machbare abgegangen sei. Stein sei eben mehr der Mann der
Verwaltung gewesen und weniger ein Politiker.
Ein spezifisch
rechtshistorischer Gegenstand wird von Karl Härter in seinem Beitrag
„Kontinuität und Reform der Strafjustiz zwischen Reichsverfassung und
Rheinbund“ behandelt. Härter untersucht drei Bereiche, zum einen die
Bestrebungen zur Abfassung eines gesamtdeutschen Strafgesetzbuches, zum zweiten
die von Frankreich ausgehende Reformdiskussion und deren Auswirkungen auf das
Reich wie auf den Rheinbund und schließlich die Regierungspraxis und die
Reformvorhaben in den deutschen Territorialstaaten bzw. den Mitgliedern des
Rheinbundes, ausgenommen Österreich und Preußen, wobei von ihm zu Recht betont
wird, daß es gerade in Bezug auf das Strafrecht und das Strafverfahrensrecht in
den Rheinbundstaaten eine ausgesprochene Forschungslücke gebe. Nach einem
kurzen Überblick über die Rechtslage im Alten Reich behandelt Härter zunächst
die Reformvorhaben im Kurfürstentum Mainz, die er als exemplarisch für die
Reformvorhaben anderer kleinerer Territorialstaaten im Süden des alten Reiches
herausgreift. Wesentliches Merkmal dieser in Mainz unternommenen Reformen und
Reformversuche sind für ihn weniger die Aufklärung und die aus ihr
resultierende Kritik an den bestehenden Verhältnissen als vielmehr ein Bemühen
um Verbesserung, Rationalisierung, Vereinheitlichung und Verstaatlichung der
Strafjustiz, dessen Ansätze schon seit dem 16. Jahrhundert zu beobachten seien,
das jedoch erst durch die Reformen am Ende des 18. Jahrhunderts habe
vorangetrieben werden können. Erst durch diese sei eine durchgehende
Modernisierung des Strafrechts und des Strafverfahrens in Mainz eingeleitet
worden. Eine umfassende Reform der Strafjustiz und vor allem eine Kodifikation
eines reformierten materiellen Strafrechts und Strafverfahrensrechtes habe man
dennoch in Mainz bis zum Ende des alten Reiches nicht zustandegebracht. Anders
als in Österreich und Preußen seien in Mainz wie übrigens auch in den meisten
anderen Territorien des Reiches – mit Ausnahme des Fürstbistums Bamberg –
entsprechende Bemühungen im Sande verlaufen. Eine Änderung der Lage habe sich
erst nach dem Ende des Alten Reiches mit der Rezeption des französischen Rechts
ergeben, die vor allem in den Rheinbundstaaten wirksam geworden sei, nachdem
alle Bestrebungen einer Reform der Strafjustiz und der Strafgesetzgebung in den
übrigen deutschen Territorien trotz einer intensiven politischen und
juristischen Debatte erfolglos geblieben seien. Vor allem in den sog.
Dahlbergstaaten habe es durch die Einführung des französischen Code pénal, aber
auch des Code d’instruction criminelle eine umfassende Reform des gesamten Strafrechts
und Strafverfahrensrechts gegeben, die ansonsten nur in Bayern gelungen sei.
Erst mit der Kodifikationswelle in der ersten Hälfte im 19. Jahrhundert habe
sich dies geändert und sei es überall zu Reformen gekommen. Bis dahin habe die
Strafgesetzgebung des Alten Reiches weitergegolten, freilich nicht mehr als
Reichsgesetzgebung, sondern als Gesetzgebung der einzelnen, jetzt selbständig
gewordenen Territorialstaaten.
Im letzten hier zu
besprechenden Beitrag Marion W. Grays über „Men as Citizens and Women als
wives“ geht es um die unterschiedliche Rechtsstellung von Mann und Frau in der
Gesetzgebung der Aufklärung einschließlich des napoleonischen Code civil. Frau
Gray stellt fest, daß von einer rechtlichen Gleichheit von Mann und Frau in
dieser Gesetzgebung keine Rede sein könne, vielmehr die unterschiedliche
soziale Rolle der Geschlechter durch diese Gesetzgebung gesetzlich fixiert
worden sei. Die Juristen der bürgerlichen Gesellschaft hätten sich eine
absolute rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau unter den gegebenen
sozialen Verhältnissen nicht vorstellen können. Die Geschlechtszugehörigkeit
sei für sie der Ausdruck der unterschiedlichen Beschaffenheit der Geschlechter
und deren sozialer Funktion gewesen, der auch im 19. Jahrhundert das Selbstverständnis
der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt habe.
Im Ganzen enthält der
vorliegende Band eine Fülle von anregenden Beobachtungen, die allesamt um
Fragen von Verfassung und Recht, oder, was hier nicht näher behandelt ist, von
Wirtschaft und geistiger Situation am Ende des Alten Reiches kreisen, ohne daß
allerdings dezidiert eine Antwort auf die im Titel formulierte Frage nach dem
Verhältnis von Reich und Nation bzw. dem Werden der deutschen Nation am Ende
des Alten Reiches gegeben worden wäre. Vielmehr werden in seinen Beiträgen
unterschiedliche Gegenstände untersucht, die zwar mit der Antwort auf die im
Titel formulierte Frage in Verbindung gebracht werden können, im einzelnen
jedoch vielfach keine Antwort auf die gestellte Frage geben. Vielleicht hätte
die Titelfrage anders gestellt werden müssen, etwa in der Weise, daß gefragt
wird, inwieweit der Reichspatriotismus und das Bewußtsein der Zugehörigkeit zum
Reich noch am Ende des Reiches lebendig war und ab wann dieses durch die
Vorstellung von einer deutschen Nation und der Zugehörigkeit zu ihr abgelöst
wurde, oder anders ausgedrückt, ab wann sich der Gedanke der Nation auch in
Deutschland breitgemacht und sich in konkreten politischen,
verfassungsrechtlichen und gesetzgeberischen Zielen und Bestrebungen
manifestiert und das alte Gefühl der Zugehörigkeit zu Reich und Land verdrängt hat.
Bei dem Versuch, eine
Antwort auf diese Frage zu finden, sollte sich die Forschung außerdem von allzu
gegenwartsbezogenen Fragestellungen freimachen und sich allein auf die
Rekonstruktion der Vorgänge in der Vergangenheit beschränken, statt sich von
aktuellen politischen Geschehnissen der Gegenwart, etwa der deutschen
Wiedervereinigung oder, wie in der ehemaligen DDR geschehen, von
marxistisch-leninistischen Fragestellungen lenken zu lassen. Gegenstand der
Geschichtsforschung ist allein das Geschehen in der Vergangenheit und nicht das
Bestreben, gegenwartspolitisch motivierte Fragen an die Geschichte
heranzutragen und die Antworten der Geschichtsforschung für die Erklärung oder
gar Legitimation einer wie auch immer beschaffenen politischen Gegenwart zu
verwenden. Vergangenheit und Gegenwart müssen aus sich selbst heraus
dargestellt und erklärt werden. Eines aktuellen Bezuges bedarf es nicht.
Salzburg Arno Buschmann