Pauly, Walter, unter Mitarbeit von Hünemörder, Olaf, Grundrechtslaboratorium Weimar. Zur Entstehung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung vom 14. August 2004. Mohr (Siebeck), Tübingen 2004. VIII, 122 S.

 

Der Verfasser will mit seiner Abhandlung die anlässlich der Entstehung des Grundrechtsteils der Weimarer Reichsverfassung geführten Strukturdiskussionen nachzeichnen and analysieren, nicht hingegen einen Beitrag zur Entstehung der Einzelgrundrechte leisten. Das Ergebnis ist eine interessante Betrachtung der Weimarer Republik einmal nicht von ihren zum Untergang führenden Krisen her, sondern ex ante „von ihrer Entstehung, ihren anfänglichen Perspektiven, Chancen, aber auch Belastungen“ (Vorwort), die zu einer vergleichsweise wenig erforschten Genese der Verfassungsordnung führen soll. Die Verwendung des Wortes Laboratorium macht neugierig.

 

In einem kurz gehaltenen Eingangskapitel mit der Überschrift „Die Weimarer Grundrechte als interfraktionelles Parteiprogramm“ stellt der Verfasser die unterschiedlichen Grundrechtskonzeptionen vor, die im Mittelpunkt der Grundrechtsdiskussionen standen. Die eine Seite folgte dem traditionell liberalen, rechtsstaatlichen Freiheitsverständnis und forderte eine strikte Schrankenziehung zwischen Staat und Gesellschaft. Die andere Seite ging von einer staatlichen Gestaltungsaufgabe im Grundrechtsbereich aus und strebte mit dem Grundrechtsteil ein gesellschaftliches Modernisierungsprogramm an. Das Hauptkapitel ist überschrieben mit „Grundrechtliche Inszenierung einer Republik“ und beginnt mit der Entwurfsgeschichte. Hugo Preuß hatte als Vorsitzender einer Expertenkommission zur Vorbereitung eines Verfassungsentwurfs schon zuvor seine Skepsis gegenüber einem Grundrechtskatalog in einem wohl auf Veranlassung der Umgebung Ludendorffs gefertigten Vorschlag zur Abänderung der Reichsverfassung zum Ausdruck gebracht. Darin hatte er einen Grundrechtskatalog nach Art der Paulskirche oder der revidierten preußischen Verfassung von 1850 als „nicht ratsam“ verworfen und zu erwägen gegeben, nur „einige wenige Bestimmungen von unmittelbarer praktischer Bedeutung und Wirksamkeit“ aufzunehmen. Der Entwurf I (13. Januar 1919) enthielt im Vergleich zum sog. Urentwurf weitere Grundrechte, wurde aber gleichwohl von Friedrich Ebert wegen seiner dürftigen grundrechtlichen Ausgestaltung gerügt. Der daraufhin gefertigte Entwurf II (17. Januar 1919) enthielt dann in Anlehnung an die Paulskirchenverfassung einen ausführlichen Abschnitt II, der mit „Die Grundrechte des deutschen Volkes“ überschrieben war. Nach gründlicher Diskussion wurde der Entwurf III (17. Februar 1919) erarbeitet, der soziale Garantien enthielt, u. a. den Art. 34 mit dem Wortlaut „Die Arbeitskraft als höchstes nationales Gut steht unter dem besonderen Schutz des Reichs.“ Dieser Artikel wurde auch in Entwurf IV (21. Februar 1919) beibehalten, allerdings mit Streichung der Passage „als höchstes nationales Gut“. Es gab auch eine Reihe von Privatentwürfen, wie z. B. den des Vereins „Recht und Wirtschaft“, der maßgeblich von Heinrich Triepel und Erich Kaufmann bestimmt worden war. In der Öffentlichkeit kam heftige Kritik von rechts und links. Karl Binding stellte den Entwurf des Vereins Recht und Wirtschaft hoch über den von Preuß verfassten. Triepel bemängelte das Fehlen einer verfassungsrechtlichen Sicherung von Freizügigkeit und Gewerbefreiheit sowie eines rechtsstaatlichen Strafrechts; außerdem könne man sich unter dem besonderen Schutz der Arbeitskraft „nichts Bestimmtes, jedenfalls nichts von rechtlicher Bedeutung dabei denken.“

 

Das „Verfassungslaboratorium Weimar“ überschriebene Unterkapitel beginnt mit einer Schilderung der Aufnahme des Grundrechtsabschnitts in der ersten Plenarsitzung der Nationalversammlung. Hier trafen völlig disparate Verfassungsforderungen aufeinander. Sie reichten von der Enttäuschung über „die ältesten Ladenhüter aus dem Jahre 1848“ (Walther Schücking DDP) bis zur Forderung, die Verfassung zum Mittel zu nutzen, „die Wiedergeburt des deutschen Volks im Sozialismus, durch den Sozialismus zu ermöglichen“ (O. Cohn USPD). Der im Verfassungsausschuss von Friedrich Naumann (DDP) vorgelegte „Versuch volksverständlicher Grundrechte“ gilt inzwischen als ein „Kulturkuriosum ersten Ranges“ und enthielt mit seinen an die Bibel oder alte deutsche Spruchweisheiten erinnernden Sätzen einen „Kanon sittlicher Forderungen und geistiger Einsichten“, sowie „anti-juristische Vorschläge“ (Theodor Heuß). Der Verfasser zeichnet die Generaldebatte im Verfassungsausschuss und die Einsetzung des Unterausschusses für die Grundrechte nach. In diesem Unterausschuss treten die Arbeiten des Rechtshistorikers Konrad Beyerle hervor, dessen Syntheseleistung in Gestalt eines nach Art einer Karteikartensammlung angelegten Handschriftenkonvoluts der Verfasser sorgfältig auswertet. Der Unterausschuss beriet auf der Grundlage des Entwurfs Beyerle. Die gefassten Beschlüsse arbeitete Beyerle in seinen Entwurf ein und übersandte ihn an eine Reihe von Rechtslehrern. Von besonderem Interesse ist die dazu verfasste Stellungnahme Otto von Gierkes, der u. a. den Sozialisierungsartikel (Art. 61) und den sog. Räteartikel aus der Verfassung verbannt wissen wollte und schließlich alle „programmatischen Verheißungen“ und „ethischen Postulate, die keinerlei Rechtsnormcharakter einschließen“ ablehnte. Über alle eingegangenen Vorschläge unterrichtete Beyerle den Unterausschuss, der nach einigen Änderungen die Entwurfsarbeit beendete, über die Beyerle dann wiederum dem Verfassungsausschuss berichtete. Dabei betonte er die geschichtliche Perspektive der Grundrechte, indem er eine Traditionslinie bis ins Mittelalter zog. Der Verfasser vertritt die interessante These, Beyerle habe damit die bekannten Grundrechtsvorbilder der amerikanischen und französischen Verfassungsgeschichte „als ihrerseits durch namentlich deutsche Rechtsdenkmäler beeinflusst erweisen“ wollen, „um auf diese Weise antiwestliche Ressentiments in der Grundrechtsfrage zu neutralisieren.“ In der Generaldebatte erklärte Sinzheimer (MSPD) u. a. „den der Rätebewegung immanenten Erlösungsgedanken für juristisch nicht realisierbar.“ In der 2. Plenarsitzung der Nationalversammlung musste Beyerle die Grundrechte überhaupt verteidigen, weil es erhebliche Widerstände gab; es wurde sogar der Vorschlag gemacht, auf die Aufnahme der Grundrechte in die Verfassung zunächst zu verzichten.

 

Im Schlusskapitel (Grundrechte für die Republik) betont der Verfasser die Integrationsfunktion der Grundrechte und wendet sich gegen den Mythos, die Grundrechte seien ein „Konstruktionsfehler“ der Weimarer Reichsverfassung gewesen, weil sie am Ende nicht stabilisierend gewirkt hätten und kein Rettungsanker für die Demokratie gewesen seien. Er räumt aber ein, dass man im Hinblick auf die „schwache Justitiabilität der Grundrechte“ von einem „Geburtsfehler des 2. Hauptteils“ sprechen könne. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die Grundrechte gegen die wachsende Republikfeindlichkeit weiter Bevölkerungskreise und extremer Ideologien keinen wirksamen Schutz bieten konnten; einen solchen hätte vermutlich auch ein auf ihre Sicherung angelegter Staatsgerichtshof nicht erbringen können.

 

Ein Urkundenanhang – u. a. mit interessanten Stellungnahmen z. B. Karl von Amiras, Otto von Gierkes und Richard Schmidts – beschließen das Buch.

 

Die Verwendung des Wortes Laboratorium ist vielleicht nicht ganz glücklich, denn es fehlt an den wissenschaftlichen Experimenten; im Wesentlichen ging es ja um Meinungsstreite, ohne dass die eine oder die andere Konzeption in der Praxis erprobt worden wäre. Mit seiner Schrift zeigt der Verfasser aber eindrucksvoll, dass die Aufnahme der Grundrechte in die Weimarer Reichsverfassung keine Selbstverständlichkeit war. Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes belegt übrigens, dass sowohl der Herrenchiemseer Konvent als auch der Parlamentarische Rat zunächst erwogen haben, das Grundgesetz ohne Grundrechtskatalog zu schaffen. Die Unterschiede betreffend die Grundrechtskonzeptionen waren erstaunlich. Der Verfasser hat ein wichtiges Stück der deutschen Grundrechtsgeschichte transparenter gemacht. So erscheint insbesondere die Rolle des Rechtshistorikers Beyerle in einem neuen Licht.

 

Hagen                                                                                                            Ulrich Eisenhardt