Löffler,
Ulrich, Instrumentalisierte Vergangenheit? Die nationalsozialistische
Vergangenheit als Argumentationsfigur in der Rechtsprechung des
Bundeverfassungsgerichts (= Rechtshistorische Reihe 292). Lang, Frankfurt am
Main. 287 S.
Die Erfassung
und Analyse der Entscheidungsgründe, in denen sich das Bundesverfassungsgericht
zwischen 1952 und 1990 (Bd. 1-81 der amtlichen Sammlung, mit Ausnahmen) auf die
nationalsozialistische Vergangenheit bezieht, ist unter vielen Aspekten ein
reizvolles Untersuchungsprojekt. Ulrich Löffler hat seine Arbeit unter die
Frage gestellt: „Instrumentalisierte Vergangenheit?“ Das engt die Analyse von
Anfang an darauf ein, ob und in welcher Weise Begründungsargumente in der
Rechtsprechung der Nachkriegszeit, die sich auf die NS-Zeit beziehen, eine
„Instrumentalisierung“ darstellten. Dabei bleibt die Klärung des Begriffs
„Instrumentalisierung“ eher vage (S. 21ff.). Der Autor geht davon aus, daß der
Begriff den Vorwurf enthalte, die Rechtsgewinnung des Gerichts erfolge nicht
nach rationalen, regelgerechten Kriterien (S. 24). Es handle sich dabei um die
„ungerechtfertigte, weil unjuristisch erfolgte Heranziehung des moralisch
aufgeladenen Topos der negativ besetzten NS-Vergangenheit bei der Lösung
aktueller Rechtskonflikte“ (S. 263). Der Blickwinkel wäre weiter und
unbefangener gewesen, wenn sich das Interesse des Autors auf alle Argumente des
Verfassungsgerichts gerichtet hätte, die sich auf die NS-Zeit beziehen. Daß
dies nicht geschieht, mag daran liegen, daß die bereits vorliegenden
Untersuchungen, die ihn angeregt haben, sich auf das vielgeschundene Thema
„Vergangenheitsbewältigung“ bezogen. Auf diesem Feld sah er eine
Forschungslücke (S. 21), die er schließen wollte. So ist es nicht
verwunderlich, daß er zu dem Ergebnis kommt, dieser Begriff kennzeichne den
Umgang des Bundesverfassungsgerichts „nur sehr unzureichend“ (S. 263). Mit diesem
Satz ist sein Hauptthema eigentlich erledigt.
Dabei ist noch
anzumerken, daß sich „Instrumentalisierungen“ von Argumenten aus der
NS-Geschichte in den Entscheidungsgründen
des Bundesverfassungsgerichts sehr selten finden. Häufiger anzutreffen sind sie
dagegen in den Sondervoten von überstimmten Richterinnen und Richtern. Sie
benutzten die Begründung ihrer Abweichung von der Senatsmehrheit nach Löffler
nicht selten zu „historisch-moralischen Polemiken“ und zu einem „provokativ
formulierten Protest“ (S. 270) gegen die jeweilige Entscheidung des Gerichts.
Die Stoßrichtung der dabei verwendeten Verweise auf Argumente aus der NS-Zeit
lag darin, daß der Senatsmehrheit so eine Nähe zur Gedankenwelt der NS-Zeit
unterstellte wurde. So kommt der Autor zu der Fsdtstellung, das Sondervotum
Rupp-v.Brünneck/Simon – eine häufige Paarung bei scharfen Protestvoten der 1970er
Jahre im Ersten Senat – gegen das Urteil zum niedersächsischen Hochschulgesetz
(E 35, 79 vom 29. 5. 1973) habe die Entscheidungsgründe der Mehrheit mit
nationalsozialistischem Gedankengut in Verbindung gebracht (S. 175).
Sondervoten dieser Art hatten in den ideologisch-politisch bewegten 1970er
Jahren eine gewisse Hochkonjunktur. Der Zeitgeist wehte in das
Bundesverfassungsgericht. Auch das Sondervotum von vier Richtern gegen die
erste „Sitzblockendenentscheidung“ des Gerichts vom 11. 11. 1986 (E 73, 206)
weist ähnliche Invektiven auf, die sich diesmal gegen den Bundesgerichtshof
richteten. Seine Rechtsprechung wurde eindeutig mit der rechtsstaatswidrigen
Praxis des Reichsgerichts während der NS-Zeit in Verbindung gebracht (E 73,
245; vgl. Löffler S. 181). Die zweite Sitzblockadenentscheidung von 1995 läßt
der Autor trotz des engen Sachzusammenhangs mit seinem Thema leider aus.
Die vom Autor
praktizierte Konzentration auf die gesuchte „Instrumentalisierung“ von Argumenten
aus der NS-Zeit führt leicht zur Verkennung der Tatsache, daß die Gerichte sehr
rationale und „regelgerechte“ Gründe haben konnten, auch bei solchen
Sachverhalten, die sich nicht während
der Zeit des Nationalsozialismus zugetragen haben (nur die will der Autor
untersuchen; vgl. S. 28), auf juristische Argumente aus dieser Vergangenheit
zurückzugreifen. Ein Musterbeispiel dafür sind die beiden
„Beamten-Entscheidungen“ des Bundesverfassungsgerichts aus der Frühzeit (E 3,
58 von 1953 und E 6, 132 von 1957). Bei Löffler werden sie nur am Rande
erwähnt, aber nicht analysiert. Das ist kaum verständlich, weil sie nach
Sachverhalt und Begründung die von ihm behandelten Fragen in besonderer Weise verdichtet
repräsentieren.
Der Verfasser
gliedert seine Arbeit in drei Teile, nämlich (1) die Überprüfung von
Rechtsnormen, die aus der NS-Zeit stammen, (2) die Rolle der NS-Vergangenheit
bei der historischen Auslegung des Grundgesetzes, (3) die NS-Vergangenheit als
„außerdogmatische“ Argumentationsfigur und (4) ein Resümee, das mit dem
erheiternden Satz beginnt: „Das abschließende Resümee beinhaltet nochmals eine
kurze Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Arbeit.“ - Wer hätte das (nicht)
gedacht?!
Die vom
Verfasser für seine Absichten gewählten Entscheidungen sind, wenn man die
Auslassung der Beamten-Urteile beiseite läßt, durchweg interessant und
aussagekräftig. Seine Literaturauswahl weist gelegentlich willkürliche oder
Zufallseinflüsse auf. Zu den einzelnen Abschnitten stellt er jeweils
„Vorüberlegungen“ an, deren theoretische Überzeugungskraft bisweilen problematisch
erscheint, etwa zu der Frage, ob und in welcher Weise die gründliche
historische Erarbeitung der Rechtsentwicklung in totalitären Staaten dazu
beitragen kann, die Gefahren einer interpretativen Systemüberwindung in
Gegenwart und Zukunft leichter und früher zu erkennen, als das bei einer
geschichtslosen Methodenpraxis („objektive Auslegung“) möglich ist (S. 17ff.,
122ff.).
Besonders
anregend sind seine Beispiele dort, wo die Berufung auf die NS-Vergangenheit
eine spezielle gesellschaftliche oder politische Brisanz hatte, also etwa in
den Fällen „Mephisto“, Hochschulurteil, Gewaltbegriff bei § 240 StGB,
Schwangerschaftsabbruch, Kruzifix-Beschluß. Bei der Behandlung dieser
Entscheidungen fallen manche störende Ungenauigkeiten auf. Wer den Roman
„Mephisto“ von Klaus Mann gelesen hat, sollte wissen, daß es sich um eine Biographie, nicht aber, wie Löffler
gleich zweimal (S. 155 und 156) schreibt, um eine Autobiographie handelt. Die Romanfigur Höfgen sollte ersichtlich
den ehemaligen Schwager Klaus Manns, Gustaf Gründgens, darstellen. Leider
handelt es sich nicht um einen Einzelfall. Die sprachliche und stilistische
Genauigkeit der Arbeit erscheint an vielen Stellen steigerungsfähig; das ist
erwähnenswert, „zumahl“ (S. 181) der Autor sich im Vorwort bei drei
Korrekturlesern bedankt.
Einen
Schwerpunkt setzt der Autor bei der Analyse des ersten Abtreibungsurteils vom
25. 2. 1975 (E 39, 1) und seiner Vorgeschichte in den 1970er Jahren, dem er 36
Seiten widmet. Auch hier spielt das Sondervotum der Richter Rupp-v.
Brünneck/Simon und die Frage der Vergleichbarkeit der Abtreibungen mit der
Euthanasie in der NS-Zeit eine besondere argumentative Rolle(S. 205ff., 213ff.).
Dabei fällt auf, daß der Autor, was wegen der inneren Widersprüche nahe gelegen
hätte, nicht auf einen Vergleich mit der zweiten Abtreibungsentscheidung
eingeht, denn die jetzt gesetzlich gültige „Beratungslösung“ ist in der Sache
ja nichts anderes als eine durch die Beratungspflicht erweiterte Fristenlösung.
Einen zweiten Schwerpunkt bildet die Analyse des Streites um den
Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 16. 5 1995, der auf 17
Seiten behandelt wird (E 93, 1). Ob Gründe dieser Entscheidung für das Thema
des Autors die breite Analyse rechtfertigen, mag dahinstehen.
Insgesamt läßt
die Arbeit den interessierten Leser mit gemischten Gefühlen zurück. Die
NS-Vergangenheit hat auch das Bundesverfassungsgericht immer wieder beschäftigt
und bewegt. Als Gericht hat es sich in seinen Entscheidungen dazu weder
instrumentalisieren lassen noch hat es die NS-Geschichte selbst in seinen
Entscheidungsgründen instrumentalisiert. Die unterlegenen Minderheiten in den
Senaten haben gelegentlich die Neigung verspürt, die Gründe der Senatsmehrheit
dadurch in Frage zu stellen, daß sie sie mit nationalsozialistischem
Gedankengut in Verbindung zu bringen suchten.
Unzulänglich
erscheint auch die Auseinandersetzung des Autors mit der vom
Bundesverfassungsgericht geübten Methodenpraxis. Die von ihm propagierte, allerdings
nach Belieben auch durchbrochene, angeblich „objektive“ Auslegung hat
ihrerseits eine ganz bestimmte Geschichte in der NS-Zeit, die bisher vom
Gericht nicht bewußt erkannt und in ihren verfassungsgestaltenden Folgen
analysiert worden ist. Die verbreitete Hinwendung der deutschen Gerichte zur
sog. objektiven Methode begann nämlich im Rahmen der „völkisch-rassischen
Rechtserneuerung“ und im Kampf gegen Philipp Heck und die
Interessenjurisprudenz ihren Siegeszug. Die dazu geführte Grundsatzdebatte nach
1933 erwähnt der Autor nicht.
Seine
Ausführungen zu allgemeinen rechtstheoretischen Problemen, etwa zu
Auslegungsfragen, speziell zur historischen Auslegung der Verfassung (S. 68f.),
oder zur Möglichkeit des „Lernens aus Geschichte“(S. 17ff., 122ff.), bleiben
oft an der Oberfläche. So beschränkt er sich mit einem Teil der Literatur auf
die naive Frage, ob die Erfassung und Annahme der Geschichte, etwa der
Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, konkrete Handlungsanweisungen für
Entscheidungssituationen in anderen Epochen bereithalte. Das hat, soweit ich
sehe, bisher niemand behauptet. Aber seit dem alten Testament (Deuteronomion
32, 7) und Cicero gilt es als weise, die Geschichte als Lehrmeisterin dafür
anzunehmen, was man besser nicht tut.
Die Geschichte
selbst ist dem Autor bisweilen nur in Umrissen bekannt. So läßt er die Meinung
des Bundesverfassungsgerichts, es habe einen „Röhmputsch“ gegeben,
unkommentiert stehen, obwohl dies eine reine Tarnbehauptung Hitlers zur
Rechtfertigung seiner ersten Massenmorde am 30. Juni 1934 war. Unkommentiert
bleibt auch die Tatsache, daß das fragliche Gesetz zur Änderung des § 175 StGB
bereits am 28. Juni 1934 erging, obwohl die blutige Mordnacht erst am 30. Juni
stattfand (S. 50).
Zu erwähnen sind
schließlich viele, fast durchgängige Schreib- und Flüchtigkeitsfehler sowie
stilistische Ungenauigkeiten und Fehlgriffe. Ich nenne wenige Beispiele: Ein
Untersuchungsgegenstand mag lohnend sein, aber nur in sehr geschraubter
Redeweise „lohnenswert“ wie der Verfasser mehrfach schreibt (z. B. S. 23). An
anderer Stelle (S. 62) spricht er vom „menschenverachtenden Charakter der
Entstehungszeit“ von Gesetzen. War es wirklich die Zeit? Was heißt es, wenn sich das Bundesverfassungsgericht
„beizeiten“ (S. 265) seiner Begründungspflicht entzieht? Wie werden
„gesetzliche Rudimente ausgemerzt“ (S. 264)? Zusätzlich steigert der oft
schmerzhaft geschraubte Satzbau das Lesevergnügen nicht (anschauliche Beispiele
S. 266/267, Absätze 3, 4 und 5).
Vielleicht führt
die vorstehende Aufzählung der Schwächen der Arbeit zu einer Überbetonung der
Kritik. Das Thema ist reizvoll und lohnend, seine Bearbeitung daher
verdienstvoll. Es schließt brisante Fragen der deutschen Rechtsgeschichte und
der Methodenpraxis des Bundesverfassungsgerichts ein. Der Verfasser bietet eine
selektive Sichtung und Analyse des vorhandenen Materials. Die behandelten
Fragen bleiben aktuell, zumal seit 1990 die Auseinandersetzung mit der
Rechtsprechung und Literatur eines weiteren totalitären Systems in Deutschland
unausweichlich ist. Die überwiegend selbstbewußte Rechtfertigungsliteratur der
ehemaligen Systemträger stellt die Justiz und die Rechtswissenschaft vor neue
Aufgaben.
Konstanz Bernd
Rüthers