Kroeschell,
Karl, recht
unde unrecht der sassen. Rechtsgeschichte Niedersachsens. Vandenhoeck &
Ruprecht, Götteingen, 2005. 342 S., 122 Abb. 12 Kart.
„Die
Arbeit an diesem Buch hat mich“, so bekennt der Verfasser im Vorwort
einleitend, „immer wieder auf Wege geführt, die mir seit Jahrzehnten vertraut
sind. Ihr Ausgangspunkt war anfangs das Dorf meiner Kindheit, dann aber
zumeist, und so auch jetzt wieder, Göttingen. In Erinnerung an unvergessene
Göttinger Studenten- und Professorenjahre widme ich dieses Buch daher der
Juristischen Fakultät der Georg-August-August-Universität“.
Mit
tiefer Liebe und klarem Sinn ist unter dem Titel recht unde unrecht der sassen
die Rechtsgeschichte Niedersachsens beschrieben. Und doch ist das jeden Leser
sofort für sich gewinnende Werk nicht nach einem eigenen Plan entstanden,
sondern mehr oder weniger aus widrigen Umständen geboren. Seinen Kern bildet
sein Abschnitt über die frühe Neuzeit, der als Beitrag für eine Geschichte
Niedersachsens gedacht war, wegen deren Fährnisse aber ihr 1995 wieder entzogen
wurde.
Danach
kamen zu diesem Ausgangsbaustein das Mittelalter als grundlegendes Vorspiel und
das neunzehnte Jahrhundert als gewichtiger Ausklang hinzu. Zusätzlich wurde
vorweg der historische Raum abgesteckt. Veranschaulicht durch 126 Abbildungen
und 12 Karten hat sich daraus die neueste regionale Rechtsgeschichte
Deutschlands ergeben.
Eine
ihrer Schwierigkeiten spiegelt der Titel mittelbar wieder. Das Land
Niedersachsen wurde erst 1946 von der britischen Besatzungsmacht errichtet und
die Zeit der Bundesrepublik Deutschland ist nach des Verfassers vorsichtigen
Schlussworten noch nicht (oder kaum) zum Thema der Rechtsgeschichte geworden.
Und selbst wenn bereits 1354 einmal urkundlich zwischen einem nederen Sassen
und einem overen Sassen und seit 1512 allgemein zwischen einem
niedersächsischen Reichskreis und einem obersächsischen Reichskreis
unterschieden wurde, war Niedersachsen als bloßes niederes Sachsen stets
weniger wichtig als das sich allmählich vom Westen in den Osten verlagernde
gesamte Sachsen.
Entsprechend
dem Titel versucht das Buch in gelungener Weise den alten Sachsen als einem der
in der Völkerwanderung sichtbar werdenden Volk wie dem aus Hannover (Preußens),
Oldenburg, Schaumburg-Lippe und Braunschweig gebildeten jungen Niedersachsen
als einem virtuellen Land gerecht zu werden. Nur für das Mittelalter werden die
Friesen zusätzlich besonders behandelt. Im Übrigen wird der historische Raum
mit den Augen der Gegenwart als Einheit gesehen, ohne dass territoriale Eigenentwicklungen
vernachlässigt werden.
Das
Mittelalter wird in üblicher Weise in das frühe, hohe und späte Mittelalter
eingeteilt. Dem frühen Mittelalter wird die spärliche, teils sagenhafte
Nachrichten hinterlassende Frühzeit zu Recht vorangefügt. An das späte
Mittelalter wird unter Aufgabe der reinen chronologischen Abfolge das
friesische Recht des hohen und späten Mittelalters angeschlossen.
Das
Frühmittelalter wird mit Recht und Rechtsaufzeichnung eingeleitet, die mit dem
farbigen Bild, nach dem die sächsischen Eroberer die thüringischen Herren
erschlagen und die Bauern zinspflichtig machen, und dem Teil des Druckes der
Lex Thuringorum, in den dem Drucker ein Stück der Lex Frisionum hineingeraten
ist, illustriert werden. Im Grafending und Königsgericht wird der fränkische
Einfluss in Grafen und Schöffen gezeigt und werden spektakuläre Einzelfälle der
Tätigkeit des Königsgerichts vorgetragen. Danach werden Bauern und Grundherren
gegenübergestellt, denen bald Marktrecht und Kaufleute gegenübertreten.
Das
hohe Mittelalter wird auf die staufisch-salische Zeit von etwa 1120 bis 1250
beschränkt. Hier erscheinen die Bürger mit ihrem von den Rechten und Freiheiten
des Hagens zu Braunschweig aus dem Jahre 1227 vertretenen Stadtrecht. Freiheit
kann aber auch Bauern gewährt werden. Wie ihnen ein besonderes Dorfrecht, so
kann Ministerialen ein eigenes Dienstrecht zustehen, doch werden alle diese
Zeugnisse überragt von Eike von Repgows berühmtem Sachsenspiegel, dem
bedeutendsten deutschen Rechtsbuch schlechthin, dessen Werden und Wirken sich
der Verfasser seit vielen Jahren in zahlreichen Einzelstudien gewidmet hat.
Für
das späte Mittelalter wird das Vordringen der Schriftlichkeit besonders betont.
Sie wirkt sich auf die Quellenlage sehr günstig aus. Deswegen können jetzt
ländliches Gericht und Recht, Stadtgericht und Stadtrecht, geistliches Gericht
und gelehrtes Recht sowie Herzogsgerichte, Landfriedensgerichte und
Königsgerichte in all ihrer Vielfalt untersucht werden.
Für
die frühe Neuzeit wird mit Recht und Gesetzgebung begonnen. Hier treten
gemeines Recht und Gewohnheiten den Statuten und der Gesetzgebung gegenüber.
Zwar muss für Niedersachsens Territorien die Geschichte der Gesetzgebung noch
geschrieben werden, doch werden bereits wichtige Vorarbeiten hierfür an dieser
Stelle geleistet.
Besonderes
Augenmerk erfährt dabei die Gerichtsbarkeit. Neben bäuerlichen Gerichten und
Landgerichten erscheinen jetzt auch rechtsgelehrte Gerichte. Sehr eindrucksvoll
wird in diesem Zusammenhang die Praxis der Gerichte vorgeführt.
Voraussetzung
der rechtsgelehrten Gerichtsbarkeit sind Rechtswissenschaft und Rechtsstudium.
Zwar gab es im Mittelalter in Niedersachsen keine Universität und mussten die
Interessierten sich zum Studium nach Köln, Erfurt, Leipzig und Rostock oder gar
nach Italien oder Frankreich begeben, doch ändert sich dieser Zustand in der
Neuzeit durch die Gründung Helmstedts (1576), Rintelns (1619 bzw. 1621) und vor
allem Göttingens (1737). Hier bewirkt die vorzügliche Vertretung im deutschen
Recht und im öffentlichen Recht, wie sie vorbildlich in der Person Johann
Stephan Pütters von 1747 bis 1807 zum Ausdruck kommt, ungewöhnlichen Ruhm und
Erfolg einer mutigen Neugründung.
Mit
der neuen Gelehrsamkeit ändern sich auch die Rechtsquellen und Rechtspersonal. Die
Juristenfakultäten bringen nicht nur rechtswissenschaftliche Literatur hervor,
sondern auch den neuen Stand der Juristen, der in Verwaltung und
Gerichtsbarkeit Einzug hält. Kanzler, Räte und Sekretäre (darunter die hübschen
Familien Hannovers wie etwa die Hoppenstedts), Richter und Amtmänner,
Prokuratoren und Syndici beherrschen nun den Plan.
Dem
Mittelalter und der frühen Neuzeit folgt als zeitlicher Abschluss das 19.
Jahrhundert. Für dieses werden Franzosenzeit, Restauration und Reform und der
Weg zur Rechtseinheit eindringlich und anschaulich vorgeführt. Ein kurzer
Ausblick beschließt das gewichtige, durch klare Register sehr gut erschlossene
Werk.
Es
ist insgesamt gekennzeichnet durch uneingeschränkte Wissenschaftlichkeit
einerseits und vorbildliche Anschaulichkeit andererseits. Was Karl Kroeschell
in seiner großen deutschen, vielfach zitierten Rechtsgeschichte zu Gunsten der
Börsen der Studierenden noch verwehrt war, ermöglicht ihm an dieser Stelle die
niedersächsische Sparkassenstiftung als großzügiger Mäzen, dem die
hervorragende Bebilderung mit vielfach farbigem Material und der Druck auf
elegantem Papier zu verdanken sind. Dass bei der Beschränkung der
Rechtsgeschichte auf ein einzelnes Land die ausführliche Wiedergabe einzelner
Rechtsquellen zu Gunsten der Einheitlichkeit der Gedankenführung zurücktreten
musste, wird angesichts der uneingeschränkten Verfügbarkeit der bekannten, wohl
beispiellos erfolgreichen deutschen Rechtsgeschichte des Verfassers mit einem
weinenden, aber doch auch einem lachenden Auge vielleicht hinzunehmen sein.
Innsbruck Gerhard
Köbler