Korzilius, Sven, „Asoziale“ und „Parasiten“ im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung (= Arbeiten zur Geschichte des Rechts in der DDR 4). Böhlau, Köln 2005. IX, 744 S.
Die vorliegende Arbeit, mit welcher der Verfasser promoviert wurde, untersucht - ausgehend von der zwischen 1851 und 1974 im Wesentlichen gleich bleibenden strafrechtlichen Relevanz asozialen Verhaltens - die Praxis sozialer Kontrolle und Disziplinierung in der Deutschen Demokratischen Republik am Beispiel von Landstreichern, Bettlern, Obdachlosen, Müßiggängern, Arbeitsscheuen und Prostituierten, wobei insbesondere die Interdependenzen von Sozial- und Kriminalpolitik, Justizwesen, Fürsorge, Polizei und den gesellschaftlichen Entwicklungen bzw. Mentalitäten Beachtung finden. Der Verfasser geht auf den Ebenen der juristischen Geistesgeschichte, Mentalitäts- sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte der zentralen Frage nach, inwiefern die einschlägige Begrifflichkeit und Praxis in der DDR nach 1945 Kontinuitäten oder Brüche aufweisen. Einen besonderen Schwerpunkt legt die Untersuchung auf das System an Sanktionen und Präventionsmaßnahmen. Um die Auswirkung der unterschiedlichen Ideologien in beiden Teilen Deutschlands aufzuzeigen, wird die Entwicklung in der DDR auch schlaglichtartig mit derjenigen in der Bundesrepublik Deutschland kontrastiert.
Die chronologisch gegliederte Darstellung beschäftigt sich zunächst mit der Besatzungszeit, in der zum Zwecke der Wiederherstellung allgemeiner Ordnung arbeits- und gesundheitspolitische Maßnahmen im Vordergrund standen, und untersucht nicht nur Kontinuitäten und Veränderungen in der Phänomenologie und in der „Asozialen“-Topik, sondern auch die konkrete Palette staatlicher Eingriffs- und Sanktionsmöglichkeiten, wie diverse Zwangsunterbringungen (u. a. in Arbeitshäusern), Maßnahmen zur Anhebung der Arbeitsdisziplin sowie den Wiederaufbau der Fürsorge nach 1945. Daran schließt eine Untersuchung des Strafrechts der fünfziger Jahre, das nach Befund des Verfassers unentschlossen „zwischen Traditionalismus, Stalinismus und Abolitionismus“ schwankte und bei Weitergeltung der tradierten Rechtslage in bloßen Reformansätzen stecken blieb.
Der dritte Abschnitt beschäftigt sich zunächst mit dem 1961 mittels Verordnung geschaffenen neuen System von Aufenthaltsbeschränkungen für „arbeitsscheue und asoziale Elemente“, „ehemalige Faschisten und Militaristen“ sowie „hemmende Elemente in den Dörfern“. Zweck dieser durch Generalklauseln und unbestimmte Begriffen gekennzeichneten, inhaltlich von der sowjetischen Rechtsentwicklung beeinflussten Verordnung sollte die Erhöhung der Arbeitsdisziplin sein. Der Verfasser untersucht in diesem Zusammenhang nicht nur die nun geschaffenen „Arbeitserziehungslager“, sondern auch die Praxis der einschlägigen Verurteilungen hinsichtlich der konkreten Personengruppen und der zahlenmäßigen Entwicklung. Darüber hinaus wird insbesondere die im Unterschied zur UdSSR traditionelle „Asozialen-Topik“ und die Strafrechtsreformdiskussion der sechziger Jahre unter dem Aspekt der Aufnahme eines Tatbestandes der „Asozialität“ in das neue Strafgesetz und damit zusammenhängender flankierender Maßnahmen beleuchtet.
Mit dem neuen Strafgesetz von 1968 und seiner Anwendung bis zum Ende der DDR setzt sich dann der vierte Abschnitt auseinander, wobei zum einen die neuen Aspekte in der „Asozialen“-Topik sowie die Verurteilungs- und Vollzugspraxis analysiert werden, zum anderen nicht nur der Frage „asozialen“ Verhaltens als Protestmaßnahme gegen das Regime nachgegangen wird, sondern auch die in der DDR herrschenden Kriminalitätsursachentheorien erörtert werden. Der letzte Abschnitt untersucht schließlich anhand der Judikatur der Rehabilitierungsgerichte, ob „Asoziale“ nach der Wiedervereinigung als Opfer der DDR-Unrechtsjustiz rehabilitiert wurden. Er kommt dabei zum Ergebnis, dass die Rechtsprechung zwischen „einer zu pauschalen Verurteilung des DDR-Strafrechts einerseits und der weitgehenden Billigung des Vorgehens gegen ,Asoziale‘ andererseits“ schwankte.
Schließlich arbeitet der Verfasser zusammenfassend nochmals die Kontinuitäten heraus, die sich nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet mit dem „Dritten Reich“ feststellen lassen, sondern
auch dahingehend, dass auch in der DDR das Strafrecht die Funktion besaß, „die soziale Wirklichkeit gewaltsam an die ideologischen Vorgaben anzupassen“. Auf der mentalitätsgeschichtlichen Ebene führen den Verfasser zum einen die Kontinuitäten in die Arbeitsethik der frühen Neuzeit zurück, zum anderen hinsichtlich der „Asozialität“ durch Triebauslebung wiederum (jedenfalls) bis in das „Dritte Reich“, aus dem „die Beschreibung des Antitypen ... bis hin zur Wahl einzelner Vokabeln nahezu bruchlos übernommen“ wurde. Darüber hinaus kommt der Verfasser auch zum Ergebnis, dass die „offizielle Moral“ der SED-Führung von der Bevölkerung im Sinne einer in der Gesellschaft „herrschenden Moral“ weitgehend akzeptiert wurde. Als Konsequenz dieser Kontinuitäten blieb auch der Umgang mit den „Asozialen“ traditionell „im althergebrachten Schnittfeld der Aufgabenbereiche von Fürsorge, Polizei und Justiz“.
Einem Wandel unterzogen waren freilich insbesondere die Zwecke der „Asozialen“-Verfolgung in den einzelnen Enwicklungsphasen der DDR, vom Wiederaufbau der Nachkriegszeit bis zu den Versuchen, eine sozialistische Gesellschaft erforderlichenfalls mit Zwangsmitteln zu gestalten. Den großen Umfang der vom Strafgesetz nicht intendierten staatlichen Verfolgungsmaßnahmen gegenüber relativ geringfügigen Verstößen gegen die herrschende Arbeits- und Sozialmoral erklärt der Verfasser mit dem „Zusammenspiel der für die DDR typischen totalitären Elemente“ und der „Verhärtung des gesellschaftlichen Klimas“. Die Studie wird abgeschlossen mit einem Abkürzungs- sowie Quellen- und Literaturverzeichnis.
Mit der vorliegenden Publikation, die das durchschnittliche Dissertationsniveau unzweifelhaft übersteigt, füllt der Verfasser eine bisher weitgehend bestehende Forschungslücke hinsichtlich der Geschichte „asozialen“ Verhaltens in der deutschen Nachkriegsgeschichte, gab es doch bislang bloß einzelne Darstellungen zur Geschichte devianten Verhaltens in der DDR, jedoch keine einschlägige umfassende Darstellung. Dem Verfasser ist mit diesem Werk, das nicht nur durch die solide Verarbeitung von Quellen und Literatur, sondern auch durch seinen flüssigen Schreibstil überzeugt, ein bedeutender Beitrag zur „Asozialen“-Thematik mit beachtlicher interdisziplinärer Relevanz gelungen.
Wien Ilse Reiter-Zatloukal