Die Aufgabe einer Entmythologisierung gehört zu den schönsten Funktionen einer Habilitationsschrift. Gerade wenn es gelingt, Mythen und Topoi der herrschenden Meinung zu dekonstruieren, lohnt sich jegliche Forschungsmühe. Und genau dies ist der Ansatz von Sibylle Hofer in ihrer Frankfurter Habilitationsschrift, betreut von Joachim Rückert. Hofer wendet sich dem Mythos zu, dass die Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert von unbeschränkter und individueller Freiheit als Prinzip des Privatrechts ausgegangen sei. Schon hier setzt allerdings eine (verhaltene) Kritik an dem Projekt an. Denn eine solche These findet sich in der rechtshistorischen Forschung wohl kaum. Sie taucht mehr in einigen Lehrbüchern sowie kürzeren Arbeiten von historischen „Laien“ auf. So verweist die Autorin auf S. 1 Fn. 2 auf sechs einschlägige Autoren, die diesen Mythos gepflegt hätten. Von diesen Autoren weisen einige aber nur am Rande apodiktisch auf die Liberalität des 19. Jahrhunderts hin. Nur ein einziger Autor, nämlich gerade Coing, wird als Beleg ausführlicherer Natur angegeben (nämlich mit dessen legendären Beitrag aus der Festschrift Dölle, Tübingen 1963, 25, 26ff.). Damit wird allerdings die Komplexität der Betrachtungen Coings auf Zerrbilder gelenkt; gerade Coing hatte ein sehr differenziertes Bild vom Privatrechtsystem des 19. Jahrhundert. Die Verfasserin problematisiert auch selbst ihr eigenes Mythenbild, indem sie darauf hinweist, dass in der Sekundärliteratur oft kaum auf einschlägige juristische Texte, sondern auf Adam Smith und Emanuel Kant verwiesen werde (S. 2ff.). Spannend wäre es hier gewesen, z. B. Kant und den Neokantianismus des 19. Jahrhunderts der Modernen miteinander zu vergleichen, um philosophische Zerrbilder herauszufiltern.
Die Verfasserin geht dann allerdings in ihrem Hauptteil sehr eingehend auf die privatrechtstheoretische Literatur des 19. Jahrhunderts ein (S. 13ff.). Am Beispiel Puchtas zeigt sie auf, wie der Gedanke der Privatautonomie seine Ausprägung findet (S. 23ff.). Auffällig sei, dass auch bei den Germanisten in der Folgezeit kaum ausführlicher über die Bedeutung der Freiheit reflektiert worden sei. Dies könne damit zusammenhängen, dass das alte deutsche Recht wohl kaum als „freiheitlich“ zu bezeichnen sei. Einzige Ausnahme seien die Überlegungen zur Privatautonomie bei Wilda (S. 26ff.). Im Übrigen finde man bei den verschiedenen Autoren, vorrangig Beseler, Pfitzer, Schmid, Bornemann und Gerber unterschiedliche Akzentuierungen der Freiheit an der Schnittstelle von individueller Dispositionsbefugnis und staatlicher Ordnung (S. 32 ff.).
Im nächsten Abschnitt beschäftigt sich die Verfasserin mit der Diskussion ab 1850, die durch eine verstärkte Reflexion rund um das Prinzip der Freiheit gekennzeichnet sei (S. 49ff.). Gerade auch zur besseren Abgrenzung zwischen römischem und deutschem Recht seien Autoren wie C. A. Schmidt und Ihering dazu übergegangen, die unbeschränkte Freiheit zum Prinzip zu erheben, während die Rechtsinstitute als objektiver Freiheitsgehalt Schranken für die Privatautonomie setzten (so vor allem Ihering dargestellt auf S. 61ff.). Auch hier fänden sich jedoch sehr unterschiedliche Modelle, wenn es um die Abgrenzung zwischen individueller Freiheit und hoheitlicher Einschränkung der gleichen Freiheit gehe (s. die Zusammenfassung auf S. 73). Die Diskussion wird dann auf die 60er und 70er Jahre erstreckt (S. 74ff.). Fraglich wird dabei allerdings allmählich, ob die streng chronologische Struktur der Habilitationsschrift glücklich gewählt ist. Der Kern und die Übergänge zwischen den 50er, 60er und 70er Jahren sind so fließend, dass man kaum einen Grund dafür anerkennen kann, hier unterschiedliche Etappen zu definieren. Nichts desto weniger behandelt die Verfasserin hier wieder eine Reihe interessanter Autoren, vor allem Lassalles Privatrechtskonzeption, die als Einheit zwischen Willensfreiheit und Willensgemeinschaft zu verstehen sei (S. 99ff.). Ergänzend wirke die Diskussion um ökonomische Überlegungen zum Prinzip der Freiheit, etwa von Oppenheim und Roscher (S. 83ff.). Hierdurch sei ein neuer Akzent in die Diskussion gekommen, wonach der Umfang individueller Freiheit nach den Gemeinschaftsinteressen zu bestimmen sei, die ihrerseits als abhängig von dem jeweiligen kulturellen Zustand gesehen werden. Diese starke Betonung der Gemeinschaft wird allerdings von den Juristen nicht in vollem Umfang nachvollzogen. Diese stellen in vielfältigen Schattierungen darauf ab, dass der Grundsatz der Privatautonomie respektiert werden müsse. Nur bei der Frage der Balance zwischen Privatautonomie und staatlicher Rechtsetzung finden sich unterschiedliche Regelungsmodelle (S. 107ff.).
Spannend werden dann die Überlegungen ab S. 132, bei der Frage, inwieweit bei den ersten Entwürfen zum Bürgerlichen Gesetzbuch dem Grundsatz der Vertragsfreiheit Rechnung getragen wird (S. 132ff.). Erstaunlicherweise zeigt sich hier, dass die meisten Juristen nicht Elemente der Privatrechtsordnung und der Privatfreiheit übernommen haben; Ausnahmen sind wohl nur Menger, Gierke und Baron. Bei allen drei Autoren sei aber festzustellen, dass diese die ältere Diskussion aus der Ökonomie in Bezug auf die Gemeinschaftsinteressen einbezogen hätten. Die Parallelität dieser Autoren mit ökonomischen Überlegungen begründet die Verfasserin mit Indizien, z. B. der Verwandtschaft Mengers mit seinem Bruder Karl Menger, einem Ökonomen oder der Veröffentlichung von Abhandlungen in ökonomisch ausgerichteten Zeitschriften. Diese doch eher sekundären Belege haben mich nicht vollends überzeugt; hier hätte man sich doch mehr eine inhaltliche Auseinandersetzung über den Zusammenhang zwischen nationalökonomischen Überlegungen und den Werken der drei Autoren gewünscht.
Es folgen dann im zweiten Teil Überlegungen zur Privatautonomie im Bereich des Obligationen- und Sachenrecht (S. 155ff.). Hier geht die Verfasserin einzelnen Teilkomplexen der Diskussion nach, was sich auf jeden Fall als gewinnbringend herausstellt. Im ersten Abschnitt wird die Frage der ungewollten Erklärung thematisiert, unter Einbeziehung der Willens- und Irrtumslehre (S. 157ff.). Im zweiten Abschnitt folgen Überlegungen zum Verhältnis von Will- und Rechtsordnung (S. 186ff.). Dann problematisiert die Verfasserin die Frage, inwieweit im 19. Jahrhundert über Macht als Elemente der Definition von subjektiven Rechten nachgedacht worden sei (S. 205ff.). Es schließen sich dann noch zwei weitere Abschnitte zu den Grundlagen vertraglicher Verpflichtungen (S. 226ff.) und der Freiheit bei der Gestaltung beschränkter dinglicher Rechte (S. 250ff.) an. Diese Teilüberlegungen bringt die Verfasserin dann auf S. 250ff. wieder zu einem einheitlichen Ergebnis zusammen. Sie zeigt vier Grundmodelle auf, die sich aus den Teildiskussionen ableiten ließen. Diese Modelle reichen von der unbeschränkten Freiheit bis hin zur Ablehnung der Freiheit als Grundsatz oder der Einbettung in einen Regel-Ausnahmezusammenhang. Noch einmal hebt sie hervor, wie gewinnbringend für Privatrechtskonzeptionen der Blick auf die Ökonomie gewesen sei und auch heute wieder werde (S. 284f.).
Im Ergebnis handelt es sich um eine sehr gut lesbare, „knackige“ Arbeit, die zumindest viele Fragen eines Besseren belehrt: Das 19. Jahrhundert war nicht das Zeitalter der Privatautonomie, der Vertragsfreiheit oder der unbeschränkten Herrschaft des Willens. Vielmehr sind die Privatrechtler dieses Jahrhunderts sehr differenziert und auch kontrovers mit der Frage der Willensfreiheit umgegangen und haben dabei in der Tat auch Überlegungen aus dem Bereich der Nationalökonomie mitbeachtet. Insofern bringt die Lektüre der Arbeit einen hohen heuristischen Erkenntniswert – auch wenn manchmal weniger Maindropping und genauere Analyse einzelner Autoren mehr gewesen wären. Doch mit dem Mythos der wilden Privatautonomie des 19. Jahrhunderts ist es nun vorbei – dank der Brillanz Sibylle Hofers.
Münster Thomas Hoeren