Herrschaftliches Strafen seit dem Hochmittelalter. Formen und Entwicklungsstufen, hg. v. Schlosser, Hans/Sprandel, Rolf/Willoweit, Dietmar (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 5). Böhlau, Köln 2002. VII, 438 S.

 

Der vorliegenden Sammelband enthält (mit einer Ausnahme) die Druckfassung der Vorträge, die in den Jahren 1997 und 1998 auf den in Würzburg und in Fürstenfeldbruck im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts“ veranstalteten Tagungen gehalten wurden.

 

Im Mittelpunkt dieser Tagungen stand nicht, wie nach dem Generalthema zu erwarten, die Frage nach der Entstehung des öffentlichen Strafrechts, sondern die Frage nach den Formen und der Entwicklung des Strafens seit dem Hochmittelalter. Begründet wurde diese Änderung der Thematik mit der Erkenntnis, daß nicht erst das Hochmittelalter, sondern bereits das Frühmittelalter öffentliche Strafen kenne - für Mediävisten und Rechtshistoriker wohl keine grundlegend neue Erkenntnis - und sich im Verlauf der Diskussion unter Projektleitern und Mitarbeitern des gesamten Programms immer stärker die Frage nach der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in den Vordergrund geschoben habe.

 

Ob dies eine zutreffende Begründung für die Verschiebung der Thematik ist, wird man freilich bezweifeln dürfen. Vor der Frage nach der Durchsetzung wird wohl doch die Frage nach der Entstehung und vor allem nach dem Wesen der Strafe geklärt werden müssen, deren Durchsetzung Gegenstand der Untersuchung sein soll, wenn das Generalthema des Forschungsprogramms die Entstehung der öffentlichen Strafe ist. Auf jeden Fall hat sich damit der Schwerpunkt der Fragestellung vom ursprünglichen Generalthema auf ein Folgethema verlagert, bei dem nicht mehr die Frage nach der Entstehung der Strafe als solcher Gegenstand der Erörterung ist, sondern die verschiedenen Strafformen, bei der die Strafe bereits als existent vorausgesetzt ist.

 

Rund 500 Jahre lange hätten, so betonen die Herausgeber in ihrer Einführung des weiteren, Konflikte und Verhaltensweisen, die von den Zeitgenossen als Verbrechen empfunden worden seien, höchst unterschiedliche Rechtsfolgen nach sich gezogen, bis sich schließlich der Strafanspruch des Staates endgültig durchgesetzt und alle anderen Sanktionsformen überlagert habe. Daher habe man es für sinnvoll und notwendig erachtetet, die verschiedenen Formen und Entwicklungsstufen des herrschaftlichen Strafens seit dem Hochmittelalter auf verschiedenen Quellenebenen zu untersuchen und in einer geschlossenen Publikation zusammenzufassen. Die Problematik der frühmittelalterlichen Strafen solle jedoch nicht ausgeklammert, sondern zum Gegenstand einer eigenen Tagung gemacht werden.

 

Auch hier stellt sich wiederum die Frage, ob diese Reihenfolge der Bearbeitung der Thematik glücklich ist. Richtiger wäre es gewesen, wenn man erst einmal die Anfänge der Strafe im Frühmittelalter untersucht hätte um danach, auf den Ergebnissen dieser Untersuchung aufbauend, die weitere Entwicklung ins Auge zu fassen. Immerhin geht es nicht zuletzt, worauf die Herausgeber in einer Nebenbemerkung auch hinweisen, um die Auseinandersetzung mit dem vieldiskutierten und in seinen Ergebnissen umstrittenen Buch Viktor Achters „Die Geburt der Strafe“ aus dem Jahre 1951, das zwar oft und gern kritisiert wird, an dessen Stelle allerdings bis heute noch keine neue, auf anderen Erkenntnissen beruhende Darstellung des Themas getreten ist.

 

Nach dem Verständnis der insgesamt für das Programm Verantwortlichen stellen die Ergebnisse der Tagungen nur eine Art von Zwischenbilanz dar, die überdies nur exemplarische Eindrücke vermitteln könne, wie ausdrücklich betont wird. Gleichwohl lasse sich schon nach den Resultaten der Einzeluntersuchungen feststellen, daß unser Strafrecht nicht monokausal aus den Land- und Stadtfrieden hervorgegangen sei, wie die überlieferte Lehre angenommen habe. Vielmehr sei es aus den vielfältigen Bemühungen territorialer und städtischer Obrigkeiten wie durch einen von der Kirche beförderten Bewußtseinswandel erwachsen, damit es sich überhaupt als anerkanntes Normensystem habe etablieren können. In den großen Städten scheine diese Entwicklung schneller vorangegangen zu sein als in den Territorien. Und was die Carolina als „Reichsstrafgesetzbuch“ des Heiligen Römischen Reiches betreffe, so habe diese im Gegensatz zur älteren Auffassung erst im 17. Jahrhundert als gelehrtes Werk eine größere Bedeutung für die Strafverfolgung erlangt.

 

Ob diese letztere Bemerkung zutrifft, wird man allerdings bezweifeln müssen, denn schon wenige Jahre nach der Verkündung wurde die Carolina zahlreichen territorialen und städtischen Halsgerichtsordnungen im Heiligen Römischen Reich zugrundegelegt oder wurden ältere Halsgerichtsordnungen nach Maßgabe der Vorschriften der Carolina reformiert. Unter diesen Umständen erscheint es fraglich, ob die Carolina tatsächlich erst im 17. Jahrhundert als gelehrtes Werk Bedeutung für die Strafverfolgung erlangte. Vielmehr wird man davon ausgehen müssen, daß sie auf dem Umweg über die Verwendung als Grundlage für die Abfassung oder Reform territorialer und städtischer Halsgerichtsordnungen schon früh die Strafverfolgung entscheidend bestimmte, zumal sie etwa bei der Verhängung von Todesstrafen zwingend vorschrieb, daß keine Todesstrafen im Reich verhängt werden dürften ausgenommen jene, die in der Carolina selbst festgelegt waren. Die Einzelforschung hat hier im übrigen schon manchen Beleg beigebracht.

 

Die Themen der Beiträge des Tagungsbandes kreisen im wesentlichen um vier Bereiche, nämlich erstens um die Land- und Stadtfrieden und deren Bedeutung für die Entwicklung des Strafrechts, zweitens um die Entwicklung des territorialen Straf- und Strafverfahrensrechts, drittens um die Ausbildung einer territorialen und städtischen Strafgerichtsbarkeit und Strafpraxis und schließlich viertens um den Einfluß der Kirche und der kirchlichen Lehre auf die Entwicklung der strafrechtlichen Dogmatik.

 

An der Spitze des ersten Themenbereiches steht die wichtige Abhandlung Elmar Wadles (inzwischen wiederabgedruckt in dessen Aufsatzsammlung Landfrieden, Strafe, Recht, Berlin 2001, Seite 103-122), in der erstmals auf die allmähliche Delegitimierung der Fehde als überliefertes und anerkanntes Instrument der Rechtsdurchsetzung mit Waffengewalt als Vorstufe für die Entstehung eines „öffentlichen“ Strafrechts aufmerksam gemacht wird. Sven Korzelius befaßt sich in seinem Beitrag mit der Wüstung von Burgen als Instrument der Landfriedenswahrung, in dem er vor allem auf die Schwierigkeiten einer eindeutigen rechtlichen und rechtshistorischen Beurteilung solcher Maßnahmen eingeht. Sein zweiter Beitrag ist der Bedeutung des Schiedsgerichtswesens im Zusammenhang mit der Beilegung von Konflikten im Rahmen der Gottes- und Landfrieden im Erzbistum Köln in der Stauferzeit gewidmet. Tatsächlich wird die Bedeutung der Schiedsgerichtsbarkeit wird noch immer unterschätzt und insgesamt viel zu wenig beachtet. Sie spielte im mittelalterlichen Rechtsleben, nicht zuletzt bei der Landfriedenswahrung, eine herausragende Rolle, wie neuere Einzelstudien gerade auch im rheinischen Raum ergeben haben. Die folgenden Beiträge von Stefanie Jansen und Barbara Frenz befassen sich mit der Friedenswahrung in der Stadt, der erstere mit den Regelungsinstrumenten und Strategien der lokalen Konfliktbekämpfung und Konfliktvermeidung, der zweite mit den Verschärfungen der Sanktionen für Friedensbrüche und der christlichen Transzendierung des Friedens in der Stadt und in ihrer Umgebung, wobei hinzugefügt werden muß, daß die Städte sich schon früh mit einem städtischen Territorium umgaben, das selbstverständlich der städtischen Herrschaft unterworfen war und damit der Strafgewalt des Rates unterlag.

 

Was den zweiten Themenbereich angeht, der sich mit der Strafgerichtsbarkeit der spätmittelalterlichen Territorien beschäftigt, so liefern die in diesem Rahmen angestellten Untersuchungen nicht immer die Ergebnisse, die man sich wünschen würde, wie die Herausgeber zu Recht in ihrer Einführung betonen. Gleichwohl finden sich interessante Einzelergebnisse, die wesentliche Bereicherungen des bisherigen Forschungsstandes enthalten. Zunächst beschäftigt sich Friederike Neumann mit der Übernahme kirchlicher Gerichtszuständigkeits- und Bußformen in die weltliche Gerichtsbarkeit. Es folgt ein Beitrag Dietmar Willoweits über das Richten nach Gnade, in dem die wichtige Feststellung getroffen wird, daß diese Rechtsfigur vor allem bei Verletzung von Gehorsamspflichten gegenüber dem Herrn Anwendung fand. Christine Birr widerlegt in ihrem Beitrag die auf Hermann Knapp zurückgehende Lehre von der Deckungsgleichheit von Zentzuständigkeit und Rügepflicht und Günter Jerouschek und Andreas Blauert versuchen in ihrer Studie am Beispiel der Entwicklung des Urfehdewesens den Nachweis vom allmählichen Übergang von der zweiseitigen Streitbeilegung zur obrigkeitlichen Sanktion zu erbringen. Das Thema der Untersuchung Helge Blankes ist die Spiegelung von Gewalt und Strafrechtspflege in der mittelalterlichen Grafschaftschronistik Norddeutschlands, die zeigt, wie sehr die Rechtsgeschichte auf die Auswertung außerjuristischer Quellen angewiesen ist, wenn sie ein auch nur einigermaßen lebensnahes Bild von der Rechtslage in der Vergangenheit entwerfen will. Der Beitrag Norbert Schnitzlers behandelt die Ausgrenzung und Diskriminierung der Juden in der weltlichen Strafgerichtsbarkeit des Mittelalters durch die Verhängung entehrender Strafen - aus heutiger Sicht erneut ein düsteres Kapitel der europäischen und speziell der deutschen Rechtgeschichte.

 

Der dritte Themenbereich wird eröffnet mit einer Studie von Andrea Bendlage und Ulrich Henselmeyer über die städtische Strafgerichtsbarkeit in Nürnberg, deren Entwicklung in der deutschen Rechtgeschichte stets eine besondere Rolle zugebilligt worden ist. In ihr untersuchen die Autoren die Wahrnehmung und Akzeptanz der obrigkeitlichen Rechtssatzungen durch die Bürger der Stadt und das Aufkommen eines obrigkeitlichen Strafmonopols. Dietmar Willoweit widmet sich in seinem Beitrag über die Expansion des Strafrechts in den Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts den Beziehungen von kirchlichem und weltlichem Strafrecht sowie den unterschiedlichen Entwicklungen dieser Beziehungen in Städten und Territorien. Gegenstand der Studie Melanie Hägermanns sind dagegen die Zeugnisse und Formen der herrschaftlicher Einflußnahme auf die ländlichen Rechtsaufzeichnungen im Gebiet zwischen Rhein, Main und Neckar. Ein wesentliches Ergebnis ihrer Untersuchungen ist die Feststellung, daß die Regelungen in diesen Rechtsaufzeichnungen einen weiteren Beleg für die Verwendung des Strafrechts als Instrument landesherrlicher Machtausübung erkennen lassen. Hans Schlosser schließlich behandelt in seinem Beitrag die Regelungen des strafschärfenden Rückfalls in den normativen Quellen, in der gelehrten Theorie und in der Rechtspraxis der Stadt Augsburg. Wesentliches Ergebnis seiner Untersuchung ist die Feststellung, daß der Rückfall sowohl in den normativen Quellen wie in der Praxis als strafschärfend beurteilt wurde, weil der Täter nach seinem ganzen Täterprofil als latent gefährliche Person eingestuft wurde.

 

Im letzten Themenbereich, der die Beziehungen von Kirche und kanonischem Strafrechts zum weltlichen Strafrecht und dessen Entwicklung relevieren soll, wird zunächst im Beitrag Daniela Müllers nach den theologischen Wurzeln von Grundbegriffen des mittelalterlichen kanonischen Strafprozeßrechts gefragt, aus deren Ermittlung sich wichtige Erkenntnisse für die Entwicklung des weltlichen Strafprozeßrechts gewinnen lassen, ohne daß dies allerdings deutlich herausgearbeitet worden wäre. Frank Grunert behandelt in seiner Abhandlung die Unterscheidung zwischen dem delictum publicum und dem delictum privatum in der spanischen Spätscholastik, deren Rezeption aus dem römischen Recht sowie deren Weiterentwicklung namentlich im Zusammenhang mit dem kirchlichen Inquisitionsverfahren. Wichtigstes Ergebnis ist die These, daß die aus dem römischen Recht überlieferte Unterscheidung zunehmend an Bedeutung verlor, die delicta privata immer stärker von den delicta publica absorbiert wurden und als Verfahrensvoraussetzung gänzlich verloren hätten. An die Stelle der privaten Rechtsverfolgung sei die Strafverfolgung als originäre Aufgabe des Staates getreten..

 

Faßt man die Ergebnisse der Einzelstudien zusammen, dann ergibt sich in summa, daß die Entwicklung des Strafrechts seit dem Hochmittelalter wesentlich facettenreicher verlaufen ist als dies bisher in der strafrechtsgeschichtlichen Forschung dargestellt wurde. Insbesondere wird man sich von der landläufigen Vorstellung verabschieden müssen, daß Land- und Stadtfrieden den Anfang einer spezifischen Strafgesetzgebung markieren und die in diesen enthaltenen Sanktionen für Friedensverletzungen als Strafen im Sinne des späteren Verständnisses zu betrachten sind. Was allerdings dieses spätere Strafverständnis betrifft, so bleibt die Frage nach dessen Entstehung nach den Resultaten der verschiedenen Einzelstudien des vorliegenden Sammelbandes offen. Nur der Beitrag Elmar Wadles enthält die in diesem Zusammenhang wichtige Erkenntnis, daß die in den frühen Landfrieden angedrohten Körperstrafen eine andere Funktion hatten als dies bisher behauptet wurde. Die Frage nach der Entstehung des öffentlichen Strafrechts, das den Gegenstand des Schwerpunktprogramms bildete und in dessen Rahmen sich die Beiträge des vorliegenden Tagungsbandes bewegen, harrt somit noch immer einer umfassenden Antwort wie die Frage nach dem Verständnis der Strafe nach deren Aufkommen und die Frage nach der Begründung ihrer Formen im einzelnen.

 

Salzburg                                                                                                        Arno Buschmann