Heckmann, Marie-Luise, Stellvertreter, Mit- und
Ersatzherrscher. Regenten, Generalstatthalter, Kurfürsten und Reichsvikare in
Regnum und Imperium vom 13. bis zum frühen 15. Jahrhundert (= Studien zu den
Luxemburgern und ihrer Zeit 9). Fahlbusch, Warendorf 2002. XX, 978 S. in zwei
Teilen, 2 Abb., 7 Kart.
In
der vorliegenden umfangreichen Arbeit, die am Friedrich Meinecke-Institut der
Freien Universität Berlin entstanden und vom Fachbereich für
Geschichtswissenschaften an der Universität Hamburg als Habilitationsschrift
angenommen worden ist, untersucht Marie-Luise Heckmann ein zentrales Problem
jeder Form personaler Herrschaft, nämlich die Vertretung des Herrschers in der
Ausübung des Herrscheramtes. Wer vertritt den Herrscher bei dessen Abwesenheit,
wer bei dessen Verhinderung? Wer vertritt ihn in den verschiedenen Regionen
seines Herrschaftsgebietes, wer nimmt bei seiner Überlastung herrscherliche
Funktionen wahr, auf wen und in welcher Form werden diese Funktionen
übertragen? Wenn vom Herrscher Mitregenten eingesetzt werden, welches sind
deren Zuständigkeiten und wie ist deren Rechtsstellung? Das sind die Fragen,
die sich in diesem Zusammenhang stellen und auf die Frau Heckmann für Frankreich
und das Heilige Römische Reich im Spätmittelalter eine Antwort zu geben
versucht.
Den
ursprünglichen Titel der Habilitationsschrift „Nichtmonarchische Reichsgewalt
in Regnum und Imperium vom 13. bis zum frühen 15. Jahrhundert“, hat Frau
Heckmann zu Recht abgeändert, weil diese Formulierung den Gegenstand der
Untersuchung nur ungenau, um nicht zu sagen unzutreffend umschreibt. Auch bei
der Vertretung des Herrschers oder bei der Mitherrschaft bleibt die
Herrschaftsgewalt monarchisch, d. h. beruht sie auf der personalen
Herrschaftsgewalt des Monarchen, es sei denn, daß diese dauerhaft auf eine
Gruppe von Personen oder einen Stand ohne herrscherliche Ermächtigung übergeht.
Von einer „nichtmonarchischen“ Reichsgewalt kann demnach in diesen Fällen keine
Rede sein. Von einer „nichtmonarchischen“ Reichsgewalt kann höchstens bei
genossenschaftlichen Zusammenschlüssen von Städten und Fürsten gesprochen
werden, worauf Frau Heckmann in einer Fußnote zu Recht hinweist, doch auch in
diesen Fällen ist Vorsicht angebracht, wie das Beispiel des Rheinischen Bundes
von 1254 zeigt.
Behandelt
wird neben der Vertretung und Mitherrschaft die Ausübung des Herrscheramtes bei
Sedisvakanz, obschon diese von der Vertretung des Herrschers scharf zu
unterscheiden ist. In der Sedisvakanz geht es nicht um eine irgend geartete
Vertretung des Herrschers, sondern um Regelungen für die Zeit des Übergangs des
Herrscheramtes von einem Herrscher auf den anderen. Frau Heckmann bezeichnet
diese Regelungen nicht ganz glücklich als „Ersatzherrschaft“. Tatsächlich
handelt es sich jedoch nicht um Ersatzregelungen, sondern um
Übergangsregelungen für eine befristete „monarchische“ Herrschaft nach dem Tode
des Herrschers bis zum Herrschaftsantritt des Nachfolgers.
Im
Mittelpunkt der Untersuchung stehen die vielfältigen Vertretungsformen in
Frankreich und im Heiligen Römischen Reich, genauer gesagt in der Zeit vom 13.
bis zum frühen 15. Jahrhundert. Der methodische Ansatz ist vergleichend, d. h.
es werden die verschiedenen Formen betrachtet, die sich in Frankreich und im
Heiligen Römischen Reich im Untersuchungszeitraum herausgebildet haben, ein
Ansatz, der bereits in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von
Heinrich Mitteis, namentlich in dem bekannten Werk „Der Staat des Hohen
Mittelalters“ - wenn auch unter anderen Auspizien – verfolgt und vorexerziert
worden ist. Untersuchungszeitraum ist die Zeit von 1223 bis 1442 in Frankreich
und die Zeit von 1212 bis 1437 im Heiligen Römischen Reich, auch wenn für
Frankreich der zeitliche Rahmen etwas weiter gezogen ist und die kapetingischen
Wurzeln miteinbezogen werden.
Die
Begründung für den Vergleich zwischen den Vertretungsformen in Frankreich und
im Heiligen Römischen Reich ist nicht historiographischer, sondern
geschichtstheoretischer Natur. Es sollen die Regelungen in zwei Reichen
unterschiedlicher verfassungsmäßiger Beschaffenheit miteinander verglichen
werden, auf der einen Seite Frankreich als Erbmonarchie und auf der anderen
Seite das Heilige Römische Reich als Wahlreich. Im Rahmen dieses Vergleichs
sollen auch die Gründe für die unterschiedlichen Formen aufgespürt werden, die
sich in Frankreich und im Heiligen Römischen Reich herausgebildet haben. Für
den Geschichtstheoretiker ist dies sicherlich ein interessanter Ansatz, für den
Historiker und Rechtshistoriker, dessen Ziel die Rekonstruktion der
historischen Verhältnisse ist oder sein sollte, eher problematisch, weil hier
eine Fragestellung nicht aus den Quellen gewonnen, sondern an die Quellen
herangetragen wird.
An
sich hätte es nahegelegen, die Regelungen in den beiden Reiche nicht wegen der
unterschiedlichen verfassungsmäßigen Beschaffenheit miteinander zu vergleichen,
sondern wegen der historischen Affinität beider - Stichwort: beide sind
Nachfolger des fränkischen Großreiches -, und zu zeigen, wie sich die
Regelungsformen trotz der gemeinsamen Herkunft in ihnen unterschiedlich
entwickelt haben und welche Gründe hierfür maßgebend waren. Stattdessen wird
von vornherein auf die unterschiedliche verfassungsmäßige Beschaffenheit der
beiden Reiche abgehoben, und darauf, wie sich unter diesen Bedingungen die
einzelnen Regelungen herausgebildet haben. Nicht die historische Entwicklung
steht demnach im Vordergrund, sondern die historische Struktur von historischen
Phänomenen und deren Gründe: für eine historische Monographie ein eher
überraschender Ansatz, weil nicht die Rekonstruktion der überlieferten
historischen Formen im Mittelpunkt steht, sondern das Aufzeigen struktureller
Unterschiede
Die
Anwendung dieser Methode rechtfertigt Frau Heckmann mit dem - allerdings nicht
unumstrittenen - Trend der neuesten Forschung, die Untersuchung eines
historischen Gebildes stets in den europäischen Kontext einzubetten. Im Falle
des von Frau Heckmann angestellten Vergleichs zwischen Frankreich und dem Heiligen
Römischen Reich ist es jedoch weniger der europäische Kontext, der im
Vordergrund steht, sondern die unterschiedliche verfassungsmäßige
Beschaffenheit der beiden Reiche und die sich daraus ergebenden Konsequenzen,
die als eigentlicher Grund für den Vergleich dienen. Im übrigen wird von den
Kritikern der historischen Komparatistik zu Recht gegen die These von der
Notwendigkeit einer Einbettung aller historischen Vergleiche in den
europäischen Kontext eingewandt, daß es keine separaten historischen Gebilde in
Europa gibt, die man miteinander vergleichen kann. Nicht historische Vergleiche
sind daher angesagt, sondern die Betonung des europäischen Zusammenhangs der
Entwicklung, nachdem dieser in der nationalistisch orientierten Historiographie
der Vergangenheit vielfach verlorengegangen war oder durch andere
Gesichtspunkte überlagert wurde.
Als
Ausgangspunkt für die Untersuchung der verschiedenen Formen von Vertretung,
Mitherrschaft und jenen der „Ersatzherrschaft“ werden drei Grundsituationen
angenommen, die für Frau Heckmann allesamt kennzeichnend sein sollen, nämlich
Interregnum, Herrschaftskrise durch rivalisierende dynastische Gruppierungen
und Vertretung des Herrschers bei dessen Abwesenheit im Reich oder in einem
Teil des Reiches. Diese Grundsituationen bilden denn auch den eigentlichen
Gegenstand für die Untersuchung der Verhältnisse in Frankreich und im Heiligen
Römischen Reich. Frau Heckmann will sich allerdings nicht auf die rechts- und
verfassungsgeschichtliche Analyse der Grundsituationen und den für sie
gefundenen Regelungen beschränken, sondern auch und nicht zuletzt die
Handlungs- und die Vorstellungsgeschichte der handelnden Personen
miteinbeziehen. Sie meint, daß die Handlungen von historischen Personen und
Personengruppen sowohl von bestimmten Konstellationen und Situationen wie von
bestimmten Wertvorstellungen bestimmt seien, die in die Betrachtung
miteinbezogen werden müßten, wenn man sich ein vollständiges Bild von den
Vorgängen und Regelungen machen wolle.
Als
Quellengrundlage dienen die überlieferten Königs- und Kaiserurkunden (im Falle
des Heiligen Römischen Reiches), hilfsweise auch die Quellen der
Geschichtsschreibung sowie Briefe und ähnliche Dokumente, wobei die Verfasserin
ihr besonderes Augenmerk - mit Recht, wie man ihr attestieren kann - auf das
Formelgut der Urkunden und dessen Entwicklung richtet. Der Text der Urkunden
kann gerade bei einer Untersuchung von Handlungs- und Wertvorstellungen nicht
intensiv genug untersucht werden. Erörtert werden diese Gegenstände vor dem
Hintergrund der immer noch geführten Debatte über die sog. Staatlichkeit der
mittelalterlichen Reiche, in erster Linie des Heiligen Römischen Reiches, aber
auch Frankreichs. Ob diese Bezugnahme notwendig war, wird man füglich
bezweifeln müssen. Fragen der Vertretung, der Mitherrschaft und der
Übergangsherrschaft sind Fragen, die sich für jede Form der Herrschaft stellen,
nicht nur für eine als Staat organisierte. Im übrigen war der Staat des
Mittelalters - provokant formuliert - eine Erfindung vornehmlich der deutschen
historischen Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich am Ideal des
modernen Rechtsstaates orientierte und dessen Organisation in die überlieferten
mittelalterlichen Formen hineinprojizierte, für die es bei nüchterner
Betrachtung der Sachlage in den mittelalterlichen Quellen keinerlei
Anhaltspunkte gibt.
Die
Untersuchung beginnt mit Frankreich und hier mit der Darstellung der
Vormundschafts- und Abwesenheitsregierungen von Ludwig VIII. bis zum
Regierungsantritt Karls VII. Zur Sprache kommen zunächst die Regelungen in der
Zeit von Ludwig VIII. bis zu Philipp IV. und bei diesen vor allem die bei der
Berufung der Königinmütter als vormundschaftliche Regentinnen in den Fällen der
Minderjährigkeit des Königs getroffenen Regelungen, aber auch die Regeln, die
bei Abwesenheit des Königs befolgt wurden. Ausführlich behandelt Frau Heckmann
die Interregna von 1316 und 1328 und die Regelungen beim Übergang der
Herrschaft von den Kapetingern auf die Valois sowie die Stellvertretung unter
Philipp VI. Valois. Eingehend untersucht sie die periodischen Stellvertretungen
für den wahnsinnigen Karl VI., die nach dem Tode des Königs zur Errichtung der
Institution eines Koadjutoriums des Thronfolgers führten.
Anschließend
beschäftigt sich Frau Heckmann mit den Regelungen im Heiligen Römischen Reich,
zunächst mit den Ursprüngen in der Zeit von Friedrich II. von Hohenstaufen bis
Rudolf von Habsburg, sodann mit der Entwicklung der Reichsvikariate unter
Heinrich VII. und Ludwig dem Bayern, um danach ausführlich die Entwicklung
unter Karl IV., Wenzel, Ruprecht und Sigismund zu erörtern. Als Hauptformen der
Vertretung betrachtet sie Legaten, Vikare des Reiches mit unterschiedlichen
Zuständigkeiten, Prokuratoren und Reichslandvögte. Zutreffend stellt sie fest,
daß als Vorbild für die Gestaltung der Vikariatsformen die Regelungen des
kanonischen Rechts dienten, deren Grundlage, wie hier zu ergänzen ist, das
römische Recht bildete. Auch die Feststellung, daß unter den Habsburgern,
Ludwig dem Bayern und den Luxemburgern die Organisation der Herrschaft
wesentlich intensiver betrieben wurde als dies bisher in der Forschung
wahrgenommen worden ist, verdient Zustimmung. Sowohl unter Rudolf von Habsburg
wie unter Karl IV., um nur zwei Beispiel zu nennen, ist in der Tat das
Bestreben zur Errichtung einer regionalen Organisation der königlichen bzw.
kaiserlichen Herrschaft deutlich zu erkennen, viel deutlicher als dies bisher
beschrieben wurde. Daß zugleich dem Reichsvikariat und den Kurfürsten eine
immer größer werdende Bedeutung bei der Ausübung der königlichen bzw.
kaiserlichen Herrschaft zukam, wurde in der Forschung schon früh erkannt,
jedoch nicht immer zutreffend gewürdigt.
Als
Ergebnis ihrer Untersuchungen hält Frau Heckmann fest, daß sowohl im Regnum wie
im Imperium die Gesamtentwicklung auf eine Schwächung der monarchischen Gewalt
hinauslief, die einen Aufstieg der Vertreter, Mit- und „Ersatzherrscher“ zur
Folge hatte, die diese zu „Kaiser(n) in ihren Territorien“ machte. Für die
Entwicklung in Frankreich bedeutete dies, daß sich die Monarchie nicht als jene
in sich geschlossene monarchische Herrschaft darstellt, wie sie immer wieder
behauptet worden ist, und bezüglich des Heiligen Römischen Reiches ist
festzuhalten, daß dieses eben nicht das monströse politische Gebilde war, als
das es seit dem 17. Jahrhundert hingestellt wurde. Dem kann nur zugestimmt
werden. Wer die Verfassungsgeschichte der französischen Monarchie und des
Heiligen Römischen Reiches unvoreingenommen und nüchtern betrachtet, wird an
der Feststellung nicht vorbeikommen, daß jedenfalls für das Spätmittelalter von
der behaupteten straffen königlichen Herrschaft in Frankreich ebenso wenig die
Rede sein kann wie von der amorphen Organisation des Heiligen Römischen Reiches
und der fehlenden Herrschaftsgewalt des Königs und Kaisers. Dies für die
Vertretung, Mitherrschaft sowie für die Sedisvakanz und deren Regelung in
Frankreich und im Heiligen Römischen Reich überzeugend unter Beweis gestellt zu
haben, ist das besondere Verdienst der vorliegenden gewichtigen Untersuchung,
auch wenn an manchen Stellen aus Sicht des Rechtshistorikers eine größere
Genauigkeit in der rechtlichen Beurteilung wünschenswert gewesen wäre.
Salzburg
Arno Buschmann