Hecker, Michael, Napoleonischer Konstitutionalismus in Deutschland (= Schriften zur Verfassungsgeschichte 72). Duncker & Humblot, Berlin 2005. 205 S.

 

Unter „napoleonischem Konstitutionalismus“ versteht Hecker die Verfassungen des Königreichs Westphalen (1807) und des Großherzogtums Würzburg (1810) sowie das Organische Statut für das Großherzogtum Berg von 1812. In den Gesamtdarstellungen zur deutschen Verfassungsgeschichte nimmt ihre Behandlung nur einen geringen Raum ein; in dem die drei rheinbündischen Staaten umfassenden Arbeiten (Fehrenbach, Knemeyer, Berding, Rez.) sind die Verfassungen nicht systematisch erschlossen worden. Das Werk Heckers unternimmt mithin erstmals den Versuch, die Verfassungen dieser drei von Frankreich abhängigen Rheinbundstaaten während der Rheinbundzeit zusammenhängend zu erfassen. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt bei der Betrachtung der Verfassungsinhalte und dem Geschehen im Königreich Westphalen als dem „,reifesten’ Verfassungsstaat“ (S. 19). Ziel und Ergebnis der Arbeit ist es aufzuzeigen, dass die pauschale Bezeichnung als Scheinkonstitutionalismus „dem Anspruch der Verfassungen und Gesetzgebungswerke und in Teilen auch der Wirklichkeit des Verfassungsgeschehens nicht standhält“ (S. 19). Im ersten Kapitel führt Hecker in den historischen Kontext ein. Für die napoleonische Modellstaatspolitik sollte Westphalen die zentrale Rolle im Rheinbund spielen (Gleichheit; Freiheit des Eigentums und der Gewerbeausübung; Übernahme des Code Napoléon; unabhängige Justiz, effektive Verwaltung). Im zweiten Kapitel geht der Verfasser der Entstehung der Verfassungen bzw. Verfassungsentwürfe in den drei genannten Staaten nach und fragt dann nach ihrer herrschaftskonstituierenden Wirkung, welch letztere abgelehnt wird, und der Selbstbindungswirkung der Verfassung sowie deren Legitimationsmodell. Hecker stellt heraus, dass der Eingang der Präambel der westfälischen Verfassung „Wir Napoleon, von Gottes Gnaden und durch die Constitutionen ...“ dem Muster der Empire-Verfassungen: „Napoléon, par la grace de Dieu et les Constitutions de la République ...“ (S. 71) folgte (unter Weglassung der revolutionären Legitimationsquelle „de la République“). Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass Napoleon sich für Herrschaftsakte in den unterworfenen Territorien nicht allein auf das „sakrale Legitimationsmuster“ (S. 73) beschränkte.

 

Im dritten Kapitel untersucht Hecker den Gehalt der Freiheits- und Gleichheitsrechte in den drei Verfassungen bzw. Rechtsordnungen (S. 82ff.; formale staatsbürgerliche Freiheit; Umgestaltung der Administration, Justiz und Wirtschaftsverfassung; unterschiedslose Zuordnung von konkreten Rechten und Pflichten; Religionsfreiheit). Die Emanzipation der Juden unterlag in Berg und Westphalen nicht den innerfranzösischen Einschränkungen des Ausnahmegesetzes vom 16. 3. 1808 (S. 110ff.). Abgesehen von der Leibeigenschaft blieb jedoch die Bauernbefreiung trotz freier Ablösbarkeit der Grundabgaben in den Anfängen stehen. Zum Schluss geht der Verfasser auf die repräsentativen Vertretungskörperschaften in den Verfassungen am Beispiel Westphalens ein (S. 130ff.). Mit den „Reichsständen“, deren 100 Mitglieder von den Departementswahlkollegien gewählt wurden, hatte Westphalen einen „originalen Anteil an der Staatsgewalt“, der sich mittelbar „aus dem Volk speiste“ (S. 171). In den Sessionen von 1808 und 1810 berieten die Reichsstände 19 Gesetzesvorhaben, von denen 17 verabschiedet wurden (vgl. neuerdings St. Brakensiek, Die Reichsstände des Königreichs Westphalen, in: Westfälische Forschungen, 2003, S. 215-240). Zwei Abgabengesetze lehnten die Reichsstände jedoch ab (S. 152ff.). Vor allem im Hinblick auf das Ablehnungsrecht liegt es nach Hecker nahe, schon von „ersten Umrissen einer dualistischen Verfassungsstruktur“ zu sprechen (S. 161). Abschließend stellt Hecker fest, dass konstitutionelle Fortschrittlichkeit wie auch napoleonische Bedingtheit die Verfassungen der napoleonischen Satellitenstaaten kennzeichneten (S. 166ff.). Die Verfassungen führten über die Gedankenwelt des Spätabsolutismus hinaus und seien als Beginn des Konstitutionalismus auf deutschem Boden anzusehen. Die wirkungsgeschichtlichen Implikationen der Verfassungen über die Rheinbundzeit hinaus lassen sich nur schwer einschätzen. Jedoch dürften insbesondere bei den Mitgliedern der westfälischen Stände, von denen später nicht wenige führende Positionen in Preußen, Hessen, Braunschweig und Hannover erhielten (vgl. J. Lengemann, Parlamente in Hessen 1808-1813. Biographisches Handbuch der Reichsstände des Königreichs Westphalen und der Ständeversammlung des Großherzogtums Frankfurt, 1991), die mehrmonatigen neuartigen Ständetagungen in Kassel lange in Erinnerung geblieben seien. Nicht näher eingegangen ist Hecker auf einen Vergleich mit den Verfassungen der anderen französischen Satellitenstaaten (insbesondere Italiens) und mit der bayerischen Konstitution von 1808, die von der westfälischen Verfassung beeinflusst ist. Auch die innerfranzösische Verfassungsgeschichte der napoleonischen Zeit wird nicht detailliert herangezogen. Von diesen offen gebliebenen Wünschen abgesehen hat Hecker die Verfassungsgeschichte der drei deutschen Satellitenstaaten Frankreichs, soweit dies die besonders für Westphalen spärliche archivalische Überlieferung überhaupt zuließ, sorgfältig und ideenreich erschlossen und damit einen wichtigen Grundstein für eine europäische Verfassungsgeschichte der napoleonischen Zeit gelegt.

 

Kiel

Werner Schubert