Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, hg. v. Paulson, Stanley L./Stolleis, Michael (= Grundlagen der Rechtswissenschaft 3). Mohr (Siebeck), Tübingen 2005. XI, 392 S.
Hervorgegangen aus einer
Frankfurter Tagung im Jahre 2002 präsentiert sich nunmehr anzuzeigender
Sammelband mit neunzehn gelehrten Beiträgen zu den wichtigsten Bereichen der
Kelsenschen Rechtslehre. Die Fragestellungen gelten der Kelsen-Exegese, den
durch Kelsen aufgebrachten oder zumindest verschärften rechtstheoretischen
Problemen, der Anschlussfähigkeit einzelner Positionen im heutigen
theoretischen und dogmatischen Diskurs, dem Verhältnis zu Antipoden wie Eugen
Ehrlich (Klaus Lüderssen) und Max Adler (Wolfgang Pircher, Gerald
Mozetic) und schließlich seiner (Werk)Biographie und historischen Einbettung.
Nach einem Vergleich der Zurechnungslehren Kelsens und Kants (Joachim
Hruschka), der Kelsen als Fehlinterpreten Kants darstellt, behandelt Carsten
Heidemann das Zurechnungsproblem Kelsens gegliedert nach vier Phasen seiner
Theorieentwicklung mit dem Ergebnis, dass weder der Personen- noch der
Zurechnungsbegriff bei Kelsen zu den formalen, normtheoretisch notwendigen
Rechtswesensbegriffen gehören. Anschließend beleuchtet Ulfrid Neumann die
innerhalb des neukantianischen Lagers bestehende Differenz zu Gustav
Radbruch, der entgegen Kelsens striktem Dualismus von Seins- und
Normwissenschaft methodentrialistisch die Rechtswissenschaft ihrem Gegenstand
nach zu einer Kulturwissenschaft erklärt, die allerdings der Methode einer
Normwissenschaft folge. Kelsens berechtigte Radbruch-Kritik könne allerdings
mit Hilfe des Ansatzes Emil Lasks überwunden werden, der eine jenseits
des genannten Dualismus liegende, vorwissenschaftliche Konstituierung des
rechtlichen Gegenstandsbereichs behauptet. Bei Alexander Somek erhält dann der
„alte, nicht-normativistische Rechtspositivismus“ insofern „Recht“, als Kelsen
wirklich lediglich „zum faktischen Geschehen eine Grundnorm“ hinzudenke (S.
63). Seine eigenen „Überlegungen zur Aufhebung der Reinen Rechtslehre“ gelten
einer in den sozialen Bedingungen der Effektivität des Rechts implizit
enthaltenenen Normativität, vermittelt nicht zuletzt durch „Klugheit“, aus der
heraus etwa ein Befehl des ermächtigten Organs so behandelt wird, „als ob
dieser eine geltende Norm wäre“ (S. 72ff.). Im Anschluss erweist Eugenio
Bulygin die Voraussetzung einer Grundnorm für die Bestimmung der Zugehörigkeit
von Normen zu einem Rechtssystem als überflüssig; dies gelte überdies für die
Begründung der Anwendbarkeit von Rechtsnormen, die ihrerseits auf (letzten)
Anwendungsnormen beruhe. Dass der „Schlüssel im Faktischen“ liege, das später
ins Normative übersetzt werde und dass „effektiv wirkende Normen“ über die
Grundnorm „das Merkmal der Geltung“ erhielten, betont Juan Antonio Garcia Amado
(S. 103f.). Sodann löst Peter Koller Kelsens Stufenbaulehre und Theorie der
Rechtsdynamik von der seines Erachtens verfehlten Grundnormkonzeption ab und
entwirft mit Hilfe einer neuen Begrifflichkeit „Grundlinien einer Theorie der
hierarchischen Struktur des Rechts“ (S. 115ff.). Nach Würdigung der Qualität
der Schriften und Stufenbaulehre Adolf Julius Merkls durch Martin
Borowski erklärt Theo Öhlinger sowohl das von Kelsen favorisierte Modell des
Monismus als auch die dualistische Gegenposition für gänzlich ungeeignet zur
Beschreibung der heutigen komplexen Verzahnungen von Unionsrecht und nationalem
Recht. Stefan Hammer betrachtet danach Kelsens Rechtsstaats- und Demokratiebegriff
als „dezisionistisch“ statt „diskursiv“ und meint daher, Kelsen bliebe „ein
gutes Stück Strukturtheorie des demokratischen Verfassungsstaates schuldig“ (S.
190). Nach subtiler Kelsen-Philologie Stanley L. Paulsons, die bei Kelsen seit
den vierziger Jahren keinen „von der Ermächtigung unabhängigen Pflichtbegriff“
mehr sieht (S. 215), will Ewald Wiederin Kelsens „Drei-Kreise-Theorie“ des
Bundesstaates reanimieren, bevor Martin Schulte Kelsens „unnachgiebiges
Insistieren auf der Autopoiese des Rechtssystems“ (S. 256) würdigt. Mit Kelsens
Vorwurf der Staatstheologie an Rudolf Smend, dessen integrierter
ein „faschistischer“ Staat sei, setzt sich Stefan Korioth auseinander, der den
Unterschied beider letztlich auf Kant und Hegel zurückführt (S. 326f.). Auf die
Fassung der Grundnorm und ihre Aufgabe, nicht bloßes Sollen oder bloße Geltung,
sondern „ein objektives Sollen und eine objektive Geltung“ zu stiften, kommt
Robert Alexy wieder zurück und zeigt, dass sich bei Verfassungsgebungen und -umstürzen
keineswegs die eine einzige abstrakte Grundnorm, sondern lediglich ihre
Anwendung ändere. Der Schlussbeitrag gilt Kelsens Wirken als Verfassungsrichter
(Christian Neschwara), namentlich seinem Ausscheiden als neutraler
Verfassungsrichter aus dem von ihm maßgeblich mitinitiierten österreichischen
Verfassungsgerichtshof auf Grund seiner Nähe zu den Sozialdemokraten. Eine
Nominierung als „Parteimann“ (S. 379f.), wie sie ihm von den Sozialdemokraten
angetragen worden sei, habe Kelsen wegen seiner auf die Fernhaltung
parteipolitischer Einflüsse bedachten Konzeption von Staatsgerichtsbarkeit
abgelehnt.
Jena Walter
Pauly