Härter,
Karl, Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und
Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat (= Veröffentlichungen des
Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main,
Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 190). Teilbände 1, 2. Klostermann,
Frankfurt am Main 2005. XI, 1-532, X, 533-1247 S.
Die Erkenntnisziele der hier zu besprechenden Arbeit sind hoch gesteckt: Es ist intendiert, „die Normgebung, die Praxis der Normdurchsetzung und Strafverfolgung, den Vollzug der Strafen und die sanktionierte Delinquenz am Fallbeispiel des frühneuzeitlichen Mainzer Kurstaates und im Kontext der jeweiligen staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen zu rekonstruieren“ (S. 12). Karl Härter gelingt es, diesen ambitionierten Anspruch sowohl methodisch als auch inhaltlich auf vorbildliche Weise zu erfüllen.
Das Thema der Arbeit, die im Wintersemester 2001/2002 an der Technischen Universität Darmstadt als Habilitationsleistung angenommen wurde, weist dabei Affinitäten zu mehreren Forschungsrichtungen auf, die teilweise in den letzten Jahren einen markanten Aufschwung erfahren haben: zur historischen Kriminalitätsforschung, zu Untersuchungen zur „guten Policey“ und Normdurchsetzung in der Frühen Neuzeit, zur traditionellen Strafrechts- und Gesetzgebungsgeschichte. Härters Zugangsweise vermeidet jedoch deren partielle Defizite (im Fall der historischen Kriminalitätsforschung die tendenziell mikro- und sozialhistorische Ausrichtung unter weitgehender Ausblendung der Kategorie „Staat“, im Fall der Forschungen zur „guten Policey“ deren Fokussierung auf den Bereich der Verwaltung oder im Fall der Gesetzgebungsgeschichte deren Schwerpunktsetzung auf die rein normative Ebene). Zentrale Bedeutung kommt der Kategorie „Policey“ zu, wobei der Autor „Policey“ und Strafrecht/Strafjustiz nicht als Gegensatzpaar betrachtet. Vielmehr weist er schlüssig nach, dass die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts einsetzende Policeygesetzgebung das Strafrecht in vielfältiger Hinsicht ergänzt, modifiziert und beeinflusst hat – sowohl auf der Ebene der Normdurchsetzung bzw. Sanktionspraxis als auch auf normativer, materiellrechtlicher Ebene, wobei sich die Policeygesetzgebung durch erhöhte Flexibilität (und damit einhergehende Aktualität) auszeichnete. Zudem kannte weder die zeitgenössische Rechtswissenschaft noch die Verwaltungs- oder Justizpraxis eine strenge Scheidung von Strafrecht und Policey.
Karl Härter untersucht die Normsetzung, die Normdurchsetzung und die Sanktionspraxis am Beispiel des geistlichen Kurfürstentums Mainz vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis zur Säkularisation durch den Reichsdeputationshauptschluss 1803, wobei diese Bereiche nicht isoliert, sondern unter Berücksichtigung ihrer vielfältigen Zusammenhänge dargestellt werden. Im ersten Teil der Arbeit (Kapitel 2 bis 5) werden zunächst die Rahmenbedingungen und Entwicklungstendenzen erläutert: Das zweite Kapitel arbeitet jene Strukturen und Institutionen heraus, die schwerpunktmäßig Normsetzung und Normdurchsetzung prägten, von der Person des Kurfürsten über die Zentralbehörden – wobei die Landesregierung im Prozess der Normsetzung wie der Normdurchsetzung eine herausragende Position einnahm – bis zu den lokalen Verwaltungsinstanzen. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit den formalen Charakteristika sowie mit der qualitativen und quantitativen Entwicklung der Kurmainzer Policeygesetzgebung. Dabei sind zwei Phasen der Gesetzgebung zu unterscheiden: Die erste reichte von den 1460er Jahren bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts. Bis zum Bauernkrieg gelang es dem Kurfürsten, seine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz gegenüber diesbezüglich konkurrierenden intermediären Gewalten durchzusetzen, insbesondere die autonome Normsetzung der Städte auszuschalten. Die Reichsgesetzgebung diente nicht nur inhaltlich als Vorbild, sondern fungierte ebenso als Legitimationsmuster für landesherrliche Gesetzgebungsaktivität. Zudem ist diese Phase durch eine verhältnismäßig niedrige Rate sowohl der normativen Akte selbst als auch der normierten Materien charakterisiert. Formal dominierte der Typus der Ordnung gegenüber dem Einzelgesetzgebungsakt. Dies änderte sich ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, wobei die Regelungsmaterien eine immer größere inhaltliche Bandbreite aufwiesen. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Härter überdies dem Gesetzgebungsprozess, von den daran beteiligten Instanzen über die Informationsbeschaffung im Vorfeld (wobei neben Amtsberichten und Visitationen insbesondere auch Supplikationen Beachtung finden) bis hin zum Publikationsvorgang selbst. In Übereinstimmung mit der neueren Policeyforschung kommt Härter dabei zum Schluss, dass das Modell eines linearen, einseitig von oben nach unten verlaufenden Disziplinierungsprozesses unzutreffend ist; nichtsdestotrotz dürfen die teilweise Kongruenz von Policeynormen und Gewohnheitsrecht und von obrigkeitlichen Ordnungsvorstellungen und den Ordnungsbedürfnissen der Untertanen sowie die limitierten Einflussmöglichkeiten der Bevölkerung auf den Gesetzgebungsprozess via supplicationis nicht den Blick auf den grundsätzlich eben doch obrigkeitlich-herrschaftlichen Charakter der Policeygesetzgebung verstellen. Ferner gelingt es Härter, einen wohl endgültigen Schlussstrich unter die von Jürgen Schlumbohn ins Rollen gebrachte Diskussion über den vermeintlich symbolischen Charakter großer Teile der frühneuzeitlichen Gesetzgebung zu ziehen, indem er unterstreicht, dass die vorgeblich häufige Wiederholung von Normen kein Hinweis auf existierende Vollzugsdefizite oder auf eine enorme Diskrepanz von Norm und Praxis, sondern wesentliche Geltungsvoraussetzung frühneuzeitlicher Gesetze war.
Mit der Feststellung und Verfolgung devianter Verhaltensweisen und mit den diesem Zweck dienenden Institutionen, Ämtern und Techniken beschäftigen sich die Kapitel vier und fünf. Im Justizbereich gewann die Landesregierung eine zentrale Rolle, wohingegen lokale Straf- und Niedergerichte ihre jurisdiktionellen Kompetenzen sukzessive verloren und auch die geistliche Gerichtsbarkeit ihre Rechtsprechungsbefugnisse im Bereich der „Policey“ einbüßte. Dennoch blieben die lokalen Gerichte weiterhin in das Verfahren der Feststellung und Verfolgung von Normverstößen eingebunden. Der Mainzer Kurstaat war auch deshalb auf die traditionellen Verwaltungsstrukturen, auf kommunale und genossenschaftliche Organe angewiesen, weil die existierenden bzw. geschaffenen Policeyorgane weder konsequent in die allgemeine Verwaltung eingegliedert noch zu hierarchisch aufgebauten Policeybehörden ausgebaut wurden. Eingehende Besprechung findet schließlich der Inquisitionsprozess; in diesem Kontext erfährt die Rolle der Supplikationen im Strafverfahren eine ausführliche Würdigung.
Der zweite Teil des Werkes (Kapitel 6 bis 9) stellt die Praxis von Policey und Strafjustiz dar, wobei der zeitliche Schwerpunkt auf dem 18. Jahrhundert liegt (was durch die Zentralisierung der Strafkompetenzen bei der Regierung und die daraus resultierende archivalische Überlieferungssituation bedingt ist). Das Fundament hierzu bildet die quantitative Auswertung der durch die Regierung verfolgten Devianz, wobei zunächst Delikte und Deliquenten aufgeschlüsselt und anschließend das Strafsystem präsentiert wird. Abschließend werden für die drei Bereiche Festkultur/Luxus, Ehe/Sexualität sowie mobile Randgruppen/Eigentumsdelinquenz sowohl der jeweilige normative Rahmen als auch die Strafpraxis in ihrem Kontext detailliert dargestellt. Dabei ergibt sich der allgemeine Befund, dass sich die von der historischen Kriminalitätsforschung immer wieder beschworene Dichotomie Norm versus Praxis bzw. Sanktionsverzicht versus Verhängung exemplarischer Strafen so nicht halten lässt, geschweige denn die Vorstellung von rein symbolischer Gesetzgebung oder riesigen Vollzugsdefiziten in der frühen Neuzeit. Vielmehr präsentiert sich die Normdurchsetzung als komplexer Etikettierungs- und Entscheidungsprozess, den darzustellen Karl Härter auf beeindruckende Weise gelingt. Auch hinsichtlich der einzelnen Deliktfelder relativiert der Autor teilweise erheblich die Befunde der bisherigen Forschung: So kann beispielsweise nicht davon die Rede sein, dass die ausdifferenzierten Kontroll- und Sanktionsmechanismen gegen Vagabunden weitgehend ineffektiv gewesen seien.
Insgesamt hat Karl Härter eine Arbeit von herausragender Qualität (und im Übrigen beeindruckender Quantität) vorgelegt, von der man sich grundlegende Impulse für den weiteren Gang der Forschung in den Bereichen Policey, Gesetzgebungsgeschichte und historische Kriminalitätsforschung in der frühen Neuzeit erwarten kann.
Innsbruck Martin Schennach