Haas, Stefan, Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800-1848. Campus, Frankfurt am Main 2005. 480 S.
Das Werk von Haas, die gekürzte Fassung einer vom Fachbereich Geschichte/Philosophie der Universität Münster angenommenen Habilitationsschrift, versteht sich als „dezidiert politikhistorisch“ (S. 26) und geht davon aus, dass „der Vorgang der Politikdurchführung eine eigenständige, eigenmächtige Phase des politischen Prozesses“ darstellt, in der – so Haas – die ursprünglichen Reformintentionen, die in den Gesetzen ihren Ausdruck finden, verändert würden: „Es soll nachgewiesen werden, dass diese Veränderung derart gravierend ist, dass ,preußische Reform’ als wirklichkeitsgestaltende und nicht nur als zielformulierende Politik nur dann adäquat beschrieben werden kann, wenn sie als Resultat dieses Implementationsprozesses aufgefasst und analysiert wird“, das „aufgrund der Emergenz dieses Prozesses von den Intentionen der Ausgangsgesetze erwartbar abweicht“ (S. 26, 28). Die (empirische) Implementationsforschung, die von der weniger weitreichenden Evaluationsforschung zu unterscheiden ist, geht auf die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts zurück und hat in der aktuellen Politikberatung und Politikbegleitung schnell Verbreitung gefunden. In der Geschichtswissenschaft, die sich in erster Linie mit den Ansätzen und den Ergebnissen einer politischen Handlungsebene befasst, befindet sich die Implementationsforschung erst in den Anfängen und bedarf deshalb einer breiteren methodischen Grundlegung (S. 27ff.). Die gegenwärtige Politikfeldforschung ergänzt Haas durch Rückgriff auf die Rezeptionsästhetik und die Kognitionswissenschaften unter eingehender Berücksichtigung der Kommunikation, die im politischen System zwischen sozialen Akteuren untereinander, zwischen sozialen Akteuren und Texten sowie zwischen textlichen und symbolischen Diskursen stattfinde (S. 38). Der Verfasser ist sich bewusst, dass die Rheinbundstaaten mit ihren Reformen den preußischen Reformen vielfach zeitlich vorausgingen. Gleichwohl beschränkt sich Haas auf die preußische Entwicklung, die im nationalen sowie internationalen Forschungsrahmen „paradigmatische Relevanz“ beanspruchen könne. Insgesamt behandelt die Arbeit als signifikantes Beispiel einen Aspekt des Modernisierungsprozesses, der, bisher noch wenig bekannt, sich mittels der Kategorie der Kommunikation erschließen lasse (S. 42).
Zwar gab es in Preußen bis 1806 unter dem Reformabsolutismus eine Reihe von sog. „Vorreformen“, die im Wesentlichen auf die obere Leitungsebene beschränkt waren (S. 47ff.). Aber erst die Reformen von 1807-1810 verfolgten das Ziel, die Staatsorgane systematisch neu zu organisieren. Dabei geht es Haas nicht um konkrete Gesetzesvorhaben, sondern um die Durchsetzung der Reformen insgesamt mit Hilfe insbesondere der Mittelbehörden. Im ersten Hauptabschnitt (Problemartikulation und Zieldefinition im Reformprozess) untersucht Haas die Quellen der obersten Behörden (Staatsministerium, Staatsrat) auf die in ihnen befindlichen Zielvorgaben mit ihren Widersprüchen und Antinomien, die eine mehrdeutige Vollziehungspraxis erwarten ließen. Im nächsten Abschnitt (Implementation einer modernen Behördenstruktur) behandelt der Verfasser die Errichtung der Provinzen, der Regierungsbezirke und der lokalen Verwaltung (Ämter, Städte, Landgemeinden). Hinzu kamen noch spezielle Implementationsbehörden (etwa für die Abwicklung der Gemeinheitsteilung). Im dritten Kapitel über die formellen Strategien der Implementation stellt Haas heraus, dass der Begriff des (Gesetzes-)Vollzugs nach 1800 zunehmend häufiger in den staatstheoretischen Publikationen auftaucht, ein Zeichen dafür, dass die „vollziehende Gewalt“ als eigenständige neben der Gesetzgebung und Verwaltung anerkannt wurde (S. 127ff.). Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Bewusstsein dafür vorhanden, dass die permanente Reform der eigenen gesetzgeberischen Leistungen erforderlich war, welche allerdings auch die bis heute immer wieder beklagte Normenflut ausgelöst hat. S. 144ff. entwickelt Haas die Programmtypologie (Pflichten, Anreize, Strafen) der die Implementationsakteure unterlagen. Das zentrale Element des Vollzugsprozesses waren die Kommunikation (Informationsverarbeitung, Sprache der Verwaltung, Methoden der Selbstbeobachtung [Berichte], Schriftlichkeit als zentrales Medium, Gebrauch von Tabellen und Formularen, Funktion der Gesetzessammlungen und Amtsblätter) sowie Symbole und symbolisches Handeln (Siegel, Schreibstil, Landratsprüfungen, Diensteide, Titel, Orden). Dem „Körper des Beamten“ ist ein eigener Abschnitt gewidmet, der Einführung, Verbreitung und Bedeutung der Ziviluniform betrifft (S. 353ff.). Das abschließende achte Kapitel befasst sich mit den spezifischen kulturellen Dimensionen moderner Organisation wie der preußischen Verwaltung in ihren „Eigenschaften und Widersprüchen“ (S. 45). Dabei geht es am Beispiel der Verwaltung des Todes und der Regelung des Umgangs mit dem vermeintlichen Scheintod – ein zwischen 1740 und 1860 wichtiges Problemfeld (S. 410ff.) – darum, „wie sich die Verwaltung der Konstitution von aktuellen Experten [Mediziner] bedient und wie sie ihre ästhetischen Gestattungsprinzipien von interner Verwaltungsordnung auf Lebensbereiche anderer Teilsysteme transferierte und damit eine spezifische Verwaltungskultur schuf“ (S. 46). S. 421ff. beschreibt Haas neue Strategien der Aufbewahrung (u. a. durch Einrichtung von Archiven) zur Organisation der eigenen Erinnerung.
Zusammenfassend bezeichnet Haas Intertextualisierung und
Interdiskursivität als Charakteristikum der preußischen Verwaltungskultur (S.
432ff.) mit der Bildung von umfassenden „Informations- und Entscheidungsnetzen“
(S. 438ff.). Bis in die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts hatten die Akteure der
Verwaltung noch Freiräume, die das administrative System über die eigentliche
Reformzeit hinaus, die 1819 endete, in Bewegung hielten. In der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts setzte dann zunehmend ein Verlust kreativer politikbildender
Wirkungen ein und führte zu einer Erstarrung der preußischen Verwaltung, was
vor allem auf die erfolgreiche Implementation der Organisationsprinzipien
„Zuständigkeit und Verfahren“ zurückzuführen war. Im Schlussteil „Kommunikation
und Kultur als emergente und selbst organisierende Vollzugsstrategien“ (S. 443
ff.) geht es wie im Gesamtwerk „im Sinne einer mehr phänomenologischen
Soziologie“ (S. 37) um die Bedeutung der Implementationsstrategien und deren
Wandlungen und damit um die „Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit“ und
nicht darum, an einem „vermeintlich deduktiv gültigen Wertehorizont die
Funktionsweise der preußischen Verwaltung zu messen und zu beurteilen, wie dies
in normativ ausgerichteten Modernisierungstheorien“ geschehe. Dass die von Haas
herausgestellten, sehr allgemein gehaltenen Ergebnisse den Rechtshistoriker
wohl nicht ganz zu befriedigen vermögen, spricht nicht gegen die
Forschungsmethodik von Haas und dessen primär kultur- und
kommunikationsgeschichtlichen Ansätze. Allerdings fehlen Vergleiche mit der
Verwaltungskultur in den anderen großen Bundesstaaten wie etwa Bayern, Baden,
Württemberg und Sachsen und Hinweise auf die französische Verwaltungskultur,
mit der deutsche Territorien während der napoleonischen Zeit in Berührung
gekommen waren. Die von Haas entwickelten Kriterien zur
Implementationsforschung dürften mit entsprechenden Abwandlungen und
Differenzierungen auch für die Rechtsgeschichte von Wichtigkeit sein. Zu denken
ist hier vor allem an die Implementation von Justizreformen. So ist bis heute
die Implementation der Reichsjustizgesetze (insbesondere der
Civilprozessordnung von 1877) und der Emminger-ZPO-Novelle von 1924 nicht
hinreichend geklärt. Auch das BGB dürfte zumindest für die ersten zweieinhalb
Jahrzehnte seit seinem Inkrafttreten unter implementationsgeschichtlichen
Gesichtspunkten ein lohnender Forschungsgegenstand sein. Auch wäre bei
Reformgesetzen danach zu fragen, wie präzise die Reformartikulation und die
Zieldefinition des Gesetzgebers waren. Mit Recht weist Haas darauf hin, dass
die gradlinige Durchsetzung eines Gesetzes nicht den alleinigen
Bewertungsmaßstab für eine historische Analyse darstellen könne: „Gerade der
nicht konforme Vollzug kann politikbildend wirken und einen im Einzelfall
positiv zu bewertenden Fortschritt bedeuten“ (S. 34). Allerdings ist jedem
Rechtshistoriker und Rechtsanwender bekannt, dass es „einen Gesetzestext
jenseits des materialisierten Textes“ gibt, „der beständig umgeschrieben und
verändert wird“ (S. 35). In diesem Zusammenhang kann man von einem in seinen
Ergebnissen nicht voll voraussehbaren „kreativen Aneignungs- und
Umschreibungsprozess“ sprechen (S. 36). Insgesamt liegt mit den
methodenbewussten Forschungsansätzen von Haas ein Werk vor, das auch dem
Rechtshistoriker für implementationsgeschichtliche Untersuchungen neue
Perspektiven eröffnet.
Kiel |
Werner Schubert |