Greve, Ylva, Verbrechen und Krankheit. Die Entdeckung der Criminalpsychologie im 19. Jahrhundert. Böhlau, Köln 2004. IX, 463 S.
Unter dem Einfluss von Naturrecht und Aufklärung wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Strafrecht der Paradigmenwechsel von der Tat zum Täter vollzogen. Im interdisziplinären Beziehungsgeflecht von Strafrechtswissenschaft, Philosophie, Psychologie, Psychiatrie und forensischer Medizin („Gerichtliche Arzneywissenschaft“) entstand an der Wende zum 19. Jahrhundert die Literaturgattung der „Criminalpsychologie“, ein Vorläufer der modernen Kriminologie, der sich schwerpunktmässig mit strafrechtlichen Fragen der Entstehung von Verbrechen, der individuellen Verantwortlichkeit und dem Zweck und Maß der gerechten Strafe auseinandersetzte. Die Entstehungsbedingungen dieser Literatur und ihre Auswirkungen auf die Strafrechtsdogmatik sind Thema der ausgezeichneten rechtshistorischen Untersuchung Ylva Greves, die jetzt im Böhlau-Verlag vorliegt.
Die Arbeit beginnt mit einem Überblick über den Wandel, den die Strafrechtswissenschaft durch Naturrecht und Aufklärung erfuhr und den die Autorin mit den Begriffen Individualisierung, Subjektivierung und Psychologisierung kennzeichnet (S. 13ff.). Sodann werden die maßgeblichen Strömungen in der Psychologie (Erfahrungs- und Vermögensseelenlehre), der Psychiatrie (Auseinandersetzung von „Psychikern“ und „Somatikern“ um die Ursachen von Geisteskrankheit) und der „Gerichtlichen Arzneywissenschaft“ vorgestellt (S. 29ff.), auf die die „Criminalpsychologie“ Bezug nimmt.
Der Hauptteil des Buches ist der „Criminalpsychologie“, ihren Inhalten und praktischen Anwendungsbereichen gewidmet. Nahe an den Quellen, von denen eine Vielzahl auch dem strafrechtshistorisch bewanderten Leser kaum bekannt sein dürfte, stellt die Autorin die für die Strafrechtsdogmatik wichtigsten Entwicklungen und Kontroversen der criminalpsychologischen Literatur dar: Der wichtigste Beitrag der „Criminalspsychologie“ ist wohl in der Frage der Verbrechensentstehung zu sehen, wo sie Zweifel an der Willensfreiheit des Verbrechers äußerte, die für das Natur- und Vernunftrecht die zentrale Voraussetzung der individuellen Schuldzurechnung war, und der sie verschiedene Determinationslehren gegenüberstellte (S. 143ff., 236ff.). Bei den Strafzwecken gewannen Feuerbachs generalpräventive „Theorie des psychologischen Zwangs“, spezialpräventive Gefährlichkeitstheorien sowie Besserungs- und Erziehungstheorien gegenüber den naturrechtlichen Vergeltungstheorien die Oberhand (S. 170ff., 233ff.). Aus dem auf der Willensfreiheit gegründeten „Verbrechen“ wurde häufig eine auf unbezähmbaren Leidenschaften basierende „Krankheit“, der eher mit „Medizin“ als mit „Strafe“ begegnet werden solle (S. 242ff.). Mit dieser Kritik leistete die „Criminalpsychologie“ den entscheidenden Beitrag zur Ersetzung der Todesstrafen durch die Freiheitsstrafe, die den Verbrecher „bessern“ und in die Gesellschaft zurückführen sollte (S. 192ff.). Die Kritik veränderte auch die Lehre von der Zurechnung, wo die „Criminalpsychologen“ sog. „Grade der Zurechnung“ einführten und - je nach Straftheorie - nach der Abschreckbarkeit, der Gefährlichkeit oder den Besserungsmöglichkeiten des Täters differenzierten (S. 222ff.). Sie begründeten eine Vielzahl neuer Fälle von Unzurechnungsfähigkeit und weiteten den Wahnsinnsbegriff erheblich aus (S. 249ff.). Aber auch bei prinzipieller Zurechenbarkeit sollte sich die psychische Verfassung des Täters zumindest im Strafmaß äußern; hier entwickelte man den Strafmilderungsgrund der eingeschränkten Zurechnungsfähigkeit (S. 346ff.). Diese Entwicklungen werden von der Autorin bis in die Strafrechtspraxis hinein verfolgt, wo betreffend der Feststellung der Zurechnungsfähigkeit ein Kompetenzstreit zwischen Richtern und Gerichtsmedizinern entbrannte (S. 292ff.).
Der dritte und letzte Teil der Arbeit belegt die Auswirkungen der „Criminalpsychologe“ auf die Gesetzgebungstätigkeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die vor allem in der Abschaffung harter Strafen, in der Durchführung der präventiven Strafzwecke und in der Einführung psychologischer Befragung sowie richterlicher Ermessensspielräume bestanden (S. 394ff.).
Die „Criminalpsychologie“ erweist sich, gerade wegen der Vielartigkeit der von ihr vertretenen Theoriekonzepte, die Ylva Greve in ihrem Buch vorstellt, als eine für die Strafrechtsgeschichte ausgesprochen wichtige und ergiebige Literaturgattung. Die Individualisierung, Subjektivierung und Psychologisierung des Strafrechts, die, ausgehend vom kirchlichen Beichtrecht, in der spanischen Spätscholastik und Naturrechtslehre des 16. Jahrhunderts mit zunächst moraltheologisch geprägten Begriffen wie dem der poena medicinalis ihren Anfang genommen hatte, wurde von der „Criminalpsychologie“ mit säkularisierten Begriffen und mit empirischer Methode weitergeführt. Die damals diskutierten Fragestellungen sind auch heute noch bzw. wieder aktuell: Nachdem das Strafrecht in der Nachkriegszeit zunächst eine Renaissance des Vernunftrechts erlebte, ist die individuelle Schuldzurechnung durch das Vordringen der anglo-amerikanischen Verantwortungsethik mehr denn je in Frage gestellt; und in der jüngsten medizinisch-psychologischen Forschung wird gerade die Willensfreiheit wiederum stark angezweifelt. Eine vertiefte Kenntnis der Geschichte der strafrechtlichen Zurechnung, zu der das Buch Ylva Greves einen wertvollen Beitrag leistet, ist darum gerade heute unverzichtbar.
Basel Harald Maihold