Funke, Andreas, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie. Entwicklung und gegenwärtige Bedeutung der Rechtstheorie um 1900 (= Grundlagen der Rechtswissenschaft 1). Mohr (Siebeck), Tübingen 2004. XII, 338 S.

 

Als allgemeine Rechtslehre pflegt man eine Denkrichtung zu bezeichnen, die vor allem in den Schriften Adolf Merkels (Über das Verhältnis der Rechtsphilosophie zur „positiven“ Rechtswissenschaft und zum allgemeinen Teil derselben, 1874), Karl Bergbohms (Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892), Ernst Rudolf Bierlings (Juristische Prinzipienlehre, 1894-1917) und Felix Somlós (Juristische Grundlehre, 1917) begründet wurde. Darüber hinaus nennt Andreas Funke – „an der Peripherie“ - Karl Binding, Hans Kelsen, Theodor Sternberg und Rudolf Stammler als prominente Vertreter der allgemeinen Rechtslehre (S. 29-38). Den gemeinsamen Nenner dieser Autoren sieht Funke darin, daß sie eine mehr oder weniger nicht-metaphysische, an den Strukturen eines Rechtssystems orientierte und zwischen Rechtsdogmatik und traditioneller Rechtsphilosophie selbständige rechtstheoretische Disziplin zu entwickeln suchen (S. 18).

 

Die maßgeblichen Texte der allgemeinen Rechtslehre sind entstanden, als zwischen „Begriffsjurisprudenz“, Interessenjurisprudenz und Freirechtsbewegung der sogenannte „Methodenstreit“ ausgefochten wurde. Funke begreift die allgemeine Rechtslehre „als auf eine Fortsetzung gerichtete Revision der Begriffsjurisprudenz“ (S. 102). Dabei ist er sich im Klaren, daß die Bezeichnung „Begriffsjurisprudenz“ problematisch und eine eindeutige Bestimmung kaum möglich ist: Obwohl vieles an der Vorstellung einer „Begriffsjurisprudenz“ ein Konstrukt sei, würde dieses für die methodologischen Debatten gleichwohl eine wichtige Funktion erfüllen. Im Text hat Funke „Begriffsjurisprudenz“ durchgängig kursiv geschrieben, um dieser „Idealisierung“ (S. 104) Ausdruck zu verleihen. Ob auf die Bezeichnung, die bekanntlich einem - vornehmlich auf persönlichen Gründen beruhenden - Missverständnis Jherings entsprungen ist, nicht besser ganz hätte verzichtet werden sollen, hat Funke nicht erörtert. Die Literatur, auf die er sich zur Charakterisierung von „Begriffsjurisprudenz“ bezieht, dürfte - zumindest teilweise - überholt sein (vgl. die Angaben S. 103 - bei Note 350). Die neuere rechtshistorische Forschung wurde nicht berücksichtigt. Dies gilt auch für Hans-Peter Haferkamps wichtige Schrift über den vermeintlichen Begründer der „Begriffsjurisprudenz“ (Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“), die freilich erst 2004 erschienen ist.

 

Den neueren Forschungsansätzen trägt Funke allerdings insoweit Rechnung, als er der „Begriffsjurisprudenz“ nicht den sonst üblichen pejorativen Charakter beilegt. Die Selbständigkeit seines Ansatzes zeigt sich auch darin, daß er nicht von einer Methodenevolution ausgeht, die von einer „Begriffsjurisprudenz“ über die Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz führen soll (so die wohl noch herrschende Lehre, vgl. etwa K. Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 9. Auflage, 2004, § 4 Rn 1 ff., oder J. Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, 2001). Vielmehr zieht er von der „Begriffsjurisprudenz“ über die allgemeine Rechtslehre eine Linie, die auf bislang wenig erforschte Verbindungen mit der Wiener rechtstheoretischen Schule, namentlich Kelsens „Reiner Rechtslehre“, der anglo-amerikanischen analytical-jurisprudence und der modernen sprachanalytischen Rechtstheorie hindeutet. Funke versucht zu zeigen, daß auch „gegenwärtige rechtstheoretische Kontroversen sich genau auf dem Terrain bewegen, das durch die Allgemeine Rechtslehre ... erobert und erstmals kartographiert wurde“ (S. 4). Ursprünglich bloße Theorie rechtlicher Grundbegriffe soll die allgemeine Rechtslehre als Strukturtheorie des Rechts einen logischen Apparat für die Analyse eines jeden Rechtssystems bereitstellen. Die Auseinandersetzung mit der historischen allgemeinen Rechtslehre bedeutet für Funke also zugleich eine Auseinandersetzung mit Sinn, Gegenstand und Methode einer modernen Strukturtheorie des Rechts (S. 16).

 

Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert, die mit „Fragestellung“ (S. 39-119), „Methode“ (S. 120-196) und „Gegenstand“ (S. 197-279) überschrieben sind. Im ersten Teil erörtert Funke eine Reihe von Merkmalen der allgemeinen Rechtslehre unter Stichworten wie „Positivismus“ (S. 41ff.), „Erklärung statt Rechtfertigung“ (S. 42ff.) oder „Trennung von Recht und Moral“ (S. 54ff.). Zentrale Bedeutung haben zudem Fragen nach dem Verhältnis der allgemeinen Rechtslehre zu Rechtsphilosophie (S. 63ff.), Soziologie (S. 66ff.) und Rechts­dogmatik (S. 73ff.). Die schwierigen Probleme der Systembildung (S. 90ff.) und Begriffsbildung (S. 94ff.) werden eingehend behandelt. Aus rechtshistorischer Perspektive stoßen die Abschnitte über historische Schule, „Begriffsjurisprudenz“ und juristische Konstruktion auf besonderes Interesse (S. 102ff.). Hier kommt Funke u. a. auch auf Savigny und den viel diskutierten Mathematiktopos zu sprechen (S. 103). Zwar trifft es zu, daß Savigny 1814 im „Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ die Wissenschaft der römischen Juristen mit der Mathematik verglichen hat (S. 29). Daraus darf aber nicht geschlossen werden, der Begründer der historischen Schule habe der rationalistischen Utopie einer rechtsbegrifflichen mathesis universalis angehangen, wie sie möglicherweise einem Leibniz oder Christian Wolff vorschwebte. In Bezug auf Methode und juristische Entscheidungsfindung bestehen sehr grundsätzliche Unterschiede zwischen Savigny und den Anhängern des Vernunftrechts. Daß Differenzen auch gegenüber den maßgeblichen Repräsentanten der allgemeinen Rechtslehre bestehen, zeigt Bergbohms Kritik an Savignys Rechtskonzeption, worauf Funke leider nicht eingeht (das Thema bedürfte unter dem Gesichtspunkt des Positivismusbegriffs einer genaueren Untersuchung, vgl. Stephan Meder, Mißverstehen und Verstehen, 2004, S. 145ff.). Der Grund für diese Differenzen dürfte letztlich in Savignys dezidierter Trennung von Fall und Norm liegen, die in dieser Schärfe weder im rationalistischen Vernunftrecht noch in der historischen allgemeinen Rechtslehre vorkommt. 

 

Als Beispiel für einen „begriffsjuristischen“ Ansatz erörtert Funke in erster Linie die „naturhistorische Methode“ des frühen Jhering, die um die Idee der juristischen Konstruktion kreist (S. 103ff.). Der Begriff der „Konstruktion“ hat freilich nicht nur für Jhering oder die allgemeine Rechtslehre, sondern auch für Savigny und Puchta zentrale Bedeutung. Eine nähere Aufklärung der Eigenarten dieses Begriffs ist nach wie vor ein Desiderat rechtshistorischer und rechtstheoretischer Forschung (vgl. die Nachweise bei Stephan Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 175 - bei Note 27). Sieht man einmal davon ab, daß Funkes Arbeit hierzu keinen nennenswerten Beitrag leistet, so ist die Darstellung von Jherings „naturhistorischer Methode“ durchaus ansprechend. Dies gilt auch für die anschließende Schilderung der Übertragung der im Privatrecht entwickelten juristischen Methode auf das Staatsrecht durch die Weggefährten Jherings Carl Friedrich Gerber und Paul Laband (S. 109ff.) sowie der Verbindungen von juristischer Konstruktion und allgemeiner Rechtslehre (S. 111 ff.). Funke beschränkt sich dabei jedoch keineswegs auf eine Hervorhebung der Gemeinsamkeiten von allgemeiner Rechtslehre und „Begriffsjurisprudenz“. Er nennt auch die Unterschiede, die aus seiner Sicht vor allem daraus resultieren, daß die allgemeine Rechtslehre keine rechtsschöpferische, sondern lediglich darstellende Funktion habe (S. 112f.).

 

Gegenstand des zweiten Teils ist die „Methode der Strukturtheorie des Rechts“ (S. 120), wobei sich Funke nun im wesentlichen auf die von Bierling und Somló entwickelten Ansätze konzentriert. Sowohl Bierling als auch Somló gehe es um eine Aufdeckung der Bedingungen, unter denen etwas von der Rechtswissenschaft als Recht behandelt wird. Dabei möchte namentlich Somló zeigen, daß die Juristen bei ihren Bemühungen um eine Definition des Rechts „die Brille suchen, die sie auf der Nase haben“ (S. 180). Die Vorstellungen Bierlings und Somlós über „Rechtsbegriff“ und „Grundbegriffe“ werden in ihrem Zusammenhang mit den verschiedenen Strömungen des Neukantianismus eingehend erörtert und kritisch beleuchtet. Einen Höhepunkt bilden die Abschnitte über Somlós Konzeption des Rechtsbegriffs als „relatives Apriori“ (S. 178ff.) sowie über die Verbindungen der allgemeinen Rechtslehre mit analytical jurisprudence (S. 189ff.) und moderner sprachanalytischer Rechtstheorie (S. 191ff.).

 

Im dritten Teil wird deutlich, daß die allgemeine Rechtslehre eine Rechtsordnung als Zusammenhang von Normerzeugungsproduzenten einerseits und als System bestehender Verhaltensregelungen andererseits begreift. Normen und Handlungen bilden danach die Kernelemente einer Rechtsordnung. Mit Blick auf das gegenwärtig stetig wachsende Spektrum von Rechtsquellen sowie die aktuellen Diskussionen um „Gewährleistungsstaat“ und Normen, die nicht innerhalb des Staatsapparats, sondern von Privaten formuliert werden, interessieren vor allem Rechtsnormverständnis und Rechtsquellenlehre der allgemeinen Rechtslehre. Die Ausführungen Funkes machen deutlich, daß die von Bierling und Somló entwickelten normlogischen Lehren und nicht zuletzt auch ihre Differenzierungen zwischen Gebotsnormen und Verbotsnormen (S. 202ff.), Ermächtigungsnormen (S. 237ff.) und Versprechensnormen (S. 266ff.) Ansätze zu einer Theorie der privaten Rechtsetzung enthalten (z. B. S. 225, 233). Es wäre reizvoll zu untersuchen, inwieweit diese Ansätze zur begrifflichen Erfassung rechtstheoretisch schwer einordbarer „Normen“ wie sogenannter Empfehlungen, Richtlinien, Satzungen privatrechtlicher Verbände oder allgemeiner Geschäftsbedingungen fruchtbar gemacht werden können. Jedenfalls vermittelt der - vor allem aus Mangel an Beispielen - nicht immer leicht lesbare, im ganzen aber gut geschriebene und viele anregende Gedanken enthaltende Überblick über die allgemeine Rechtslehre die Einsicht, daß es gerade auch in der Gegenwart Aufgabe der Rechtswissenschaft sein muß, der wachsenden Rechtsquellenvielfalt im Recht durch dogmatische Einordnung der empirischen Befunde zu begegnen und die Strukturen des Rechts offen zu legen.

 

Hannover                                                                                                         Stephan Meder