Die Brüder Grimm in Berlin. Katalog
zur Ausstellung anlässlich des hundertfünfzigsten Jahrestages seit der
Vollendung von Band 1 des Grimmschen Wörterbuches im Jahr 1854, red. v. Kaindl,
Klaus B./Friemel, Berthold. Hirzel, Stuttgart. 208 S. 169 und 63 Abb., 9
Taf.
Seit der Philologe und Bibliothekswissenschaftler Ludwig Denecke 1963 mit
dem Brüder Grimm Gedenken anlässlich der
Wiederkehr des hundertsten Todestages von Jacob Grimm die Öffentlichkeit
an das Brüderpaar erinnert hat, nahm die Grimm-Forschung einen Aufschwung, der
nicht vorauszusehen gewesen ist. Diesem (ersten) Band einer später daraus aufbauenden
gleichnamigen Reihe ist der Aufsatz von Wilhelm Hansen über „Die Brüder Grimm in Berlin“ entnommen, der im Katalog der
Ausstellung (5. Juli-28. August 2004
in der Humboldt Universität zu Berlin) auszugsweise und in ergänzter
Form wieder abgedruckt worden ist. Die Ergänzungen betreffen die Zitate, die
nach heute gängigen Ausgaben verbessert sind; vor allem aber die Abbildungen
von Personen, denen die Brüder in Berlin begegneten, wie von Räumen in denen
sie gelebt haben: Abbildungen von Gesellschafts- und Arbeitszimmern und ihren
Möbeln, Bildern und Büchern; von den Häusern, in denen sie wohnten und den
Gebäuden mit Plänen und Luftbildern von der Stadt, in der sie sich bewegten.
Dies alles macht den Katalog zu einer der bisher liebenswürdigsten
Veröffentlichungen, zu einer Literatur- und Wissenschaftsgeschichte „zum
Anfassen“, die zugleich das biedermeierliche Lebensgefühl des „Sammelns und
Hegens“ treffend widerspiegelt. Eine äußerst gelungene Publikation mit
wissenschaftlichen Beiträgen wie Heinz Röllekes Bericht über „Grimms Berliner
Märchenwerkstatt“, in der die späteren Auflagen
der Kinder- und Hausmärchen erarbeitet worden sind. Dazwischen geschaltet auf grauem
Untergrund Zeitzeugnisse, die das soziokulturelle Umfeld beleuchten wie ein
Schreiben des preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm an Bettina von Arnim,
oder Alexanders von Humboldt, der sich -
obwohl Naturwissenschaftler - wiederholt nachdrücklich
dafür einsetzte, die Brüder Grimm mit ihrem Wörterbuch-Projekt für Berlin zu
gewinnen. Oder Wilhelm Grimms Tagebuchaufzeichnungen über Rauchs
Reiterstandbild Friedrichs II.; Auszüge aus einem Brief Anna Homeyers (Tochter
C. G. Homeyers), die Nachbarn ihrer Eltern
in der Linnéstraße 8 betreffend. u. a. m. - insgesamt Kostbarkeiten, die
von Zeichnungen aus dem Skizzenbuch Hermann Grimms begleitet werden. Sie machen
deutlich, dass es Wilhelm Grimm gewesen ist, der die gesellschaftlichen
Kontakte früh knüpfte und nachhaltig pflegte.
So hatte die endgültige Übersiedlung der Grimms von Kassel nach Berlin
1840/41 im Zusammenhang mit dem Deutschen
Wörterbuch ihre Vorgeschichte, als Wilhelm Grimm im Jahre 1809 vorübergehend zusammen mit Achim von Arnim und Clemens Brentano in Berlin
Quartier bezog und die Bekanntschaften mit Bettina von Arnim, einer Schwester
Brentanos und Schwägerin Carl Friedrich von
Savignys, vertiefen konnte. Aus all’ diesem wird deutlich, dass in dem Katalog
die Sympathien gemessen an Jacob Grimm, zugunsten Wilhelms verschoben
sind. Das geht nicht allein aus dem äußerst lesenswerten Bericht über seinen
ersten Berliner Aufenthalt hervor, sondern auch aus dem Resumé über seine
Antrittsvorlesung in der Akademie der
Wissenschaften am 8. Juli 1841, in der er über das Wörterbuchunternehmen
berichtete, wie auch aus den Notizen über seine Vorlesungstätigkeit. 1843 an seinem Geburtstag (24. Februar 1786) kam
es zu einem Fackelzug der Studenten, bei dem Hofmann von Fallersleben
(damals persona non grata) auf dem
Balkon der Grimms erschien, - ein Faktum, das von Bettina von Arnim arrangiert
worden war, Wilhelm Grimm aber erneut
Schwierigkeiten bringen sollte.
Denn äußerer Anlass
für die Übersiedlung der Brüder nach Berlin war ihre Teilnahme am Protest der ,Göttinger Sieben’ gegen den Bruch der
Verfassung durch den König (1837) gewesen, der zu ihrer Amtsenthebung
geführt hatte. Ihre Berufung an die Preußische Akademie der Wissenschaften
(Berlin) gelang, nachdem Moriz Haupt sie 1838 für das Projekt eines Wörterbuchs
der deutschen Sprache auf historischer Grundlage gewonnen hatte. Die Daten zur
Geschichte des Werkes zwischen 1837 und 1993 sind im Katalog in einer Tabelle
übersichtlich zusammengefasst (S. 166); die wechselvolle Geschichte des
Unternehmens hat Alan Kirkness unter der Überschrift „Deutsches Wörterbuch von
Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 150 Jahre:
1854-2004“ (S. 154-165) nachgezeichnet und dabei die maßgeblich daran beteiligten
Persönlichkeiten wie Moriz Heyne, Gustav Roethe, Arthur Hübner und Theodor
Frings gewürdigt. Den Termin der Fertigstellung der ersten Auflage des DWB,
eines der wichtigsten Grundlagenwerke historischer Wortforschung überhaupt,
wird man indessen nicht am Erscheinen der letzten Lieferung festmachen können,
wie es Abb. 185 mit der Legende „Bernhard Beckmann vor Erteilung des
Imprimaturs für die letzte Lieferung des DWB, 10. Januar 1961, 17 Uhr“ suggeriert, da das Gesamtquellenverzeichnis der
Erstausgabe mit 25.000 Titeln erst
1971 (Bd. 33) folgte.
Bereits 1965
hatte das Erscheinen einer Neuauflage begonnen, sodass man mit Wolfgang Klein und Peter Schmitt (S. 167-176) vom „alten“
und vom „neuen“ Grimm sprechen kann. Ihr anschaulicher Bericht ist mit
Aufnahmen ehemaliger Mitarbeiter von Karl Langosch bis Bernhard Beckmann
versehen, welche die Generation von Wissenschaftlern repräsentieren, die nach 1945 die Weiterführung von Forschung und
Lehre ermöglicht hat (Abb. 197, 198). In
der breiten Dokumentation der Geschichte des DWB mit Text- und Bildbeispielen
liegt der wissenschaftsgeschichtliche Wert des Katalogs, der über das
persönliche Leben der Brüder Grimm in Berlin weit hinausgeht, indem er die
Wirkung aufzeigt, die von ihrem Werk auf die Nachwelt ausgegangen ist.
Insofern ist es zu begrüßen, dass der Überblick über die
Geschichte des DWB auch den gegenwärtigen Forschungsstand
einbezieht. Dies betrifft nicht nur die digitale Version des DWB (Kurt Gärtner)
oder die Neubearbeitung der Buchstaben, die auf Jacob Grimm (A, B, C und F bis Frucht) oder Wilhelm Grimm (D) zurückgehen,
und heute zwischen den Arbeitsstellen der Akademien in Berlin und
Göttingen aufgeteilt ist, sondern auch für die methodischen Probleme, die damit
für den Lexikographen notwendigerweise verbunden sind. Dazu gehört die Aufnahme
neuer Stichwörter aus den Fach- und Sondersprachen, aus der Umgangs- oder sog. Gegenwartssprache, die das
Ergebnis soziokulturellen Wandels sind. Werner Röcke ,Das kulturelle Wissen von der Vergangenheit und die modernen
Philologien: Die Aktualität des „Deutschen Wörterbuchs“’ (S. 177-183) tritt
deshalb mit Berufung auf den Historiker
Georges Duby dafür ein, den Bedeutungswandel bestimmter Wörter auch bei der Wörterbucharbeit
im Zusammenhang mit Sozial- und Mentalitätsgeschichte zu sehen, die einen Wandel der Traditionen und damit der
Wertevorstellungen bewirkt haben.
Hier ist noch einmal auf den Anfang unserer Ausführungen zurückzukommen und
die Büchersammlung der Brüder Grimm zu erwähnen, die als „Begleiter einer brüderlichen Lebensgemeinschaft“ im Katalog (S. 99) bezeichnet wird und in der Ausstellung in
photographischer Nachbildung in Originalgröße gezeigt worden ist. Auch in der
Wiedergabe des Katalogs sind die 27 Regale mit etwa 3200 Bänden von 4500, die
nach Ludwig Denecke die Bibliothek der Brüder Grimm umfasst haben soll, ein
bewegender Anblick, vermitteln sie doch einen Eindruck von dem Werkzeug und den
Wertvorstellungen, mit denen Jacob und Wilhelm Grimm bei ihrer Arbeit
umgegangen sind. Die minutiösen Beschreibungen von Berthold Friemel,
Elke-Barbara Peschke und Jens Stahlkopf zu diesem „Kleinod“ der Ausstellung und des
Katalogs (S. 99-114 und 115-133) unterstreichen auch die Ausführungen Wolfgang
Höppners über ,Die Brüder Grimm und die Germanistik als Wissenschaftsdisziplin’ (S. 47-51),
nach dem ihr Wirken in Berlin unter universalhistorischem
Aspekt zu sehen ist.
Der
Katalog zur Ausstellung ,Die Brüder Grimm in Berlin’ ist sehr viel mehr als ein
Sachbuch, das über historische Personen und Orte
zuverlässige Kenntnisse vermittelt. Ansprechend gestaltet, anschaulich
dokumentiert handelt es sich um eine spannende Lektüre, die mit ihren Aussagen
und Bewertungen der wissenschaftlichen Diskussion auch für den anspruchsvollen
Leser gewinnbringend ist.
Marburg Ruth Schmidt-Wiegand