Deutsches Sachenrecht in polnischer Gerichtspraxis. Das
BGB-Sachenrecht in der polnischen höchstrichterlichen Rechtsprechung in den
Jahren 1920-1939. Tradition und europäische Perspektive, hg. v. Dajczak,
Wojciech/Knothe, Hans-Georg (= Schriften zur europäischen Rechts- und
Verfassungsgeschichte 49). Duncker & Humblot, Berlin 2005. 378 S.
Der Sammelband geht zurück auf die von der Volkswagenstiftung geförderte Forschungsinitiative mit dem Generalthema „Einheit in der Vielfalt? Grundlagen und Voraussetzungen eines erweiterten Europas“ (S. 5). Ein Teilaspekt dieses Forschungsvorhabens umfasst das deutsche Sachenrecht in der polnischen Gerichtspraxis nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Zwischenkriegszeit (1920-1939). In den nach dem Ersten Weltkrieg von Deutschland zwischen 1918 und 1922 an Polen abgetretenen Gebieten (fast die gesamte Provinz Posen, der Großteil Westpreußens und Teile Oberschlesiens) galten das Bürgerliche Gesetzbuch und die Verfahrensgesetze, also auch die Grundbuchordnung von 1898, weiter. Zum 1. 7. 1934 erhielt Polen ein neues Obligationen- und Handelsgesetzbuch (S. 41). 1939 war der Sachenrechtsentwurf nahezu abgeschlossen; er trat wohl im Wesentlichen unverändert zum 1. 1. 1947 in Kraft (S. 42), ohne dass in dem Beitrag von Rozwadowski näher ausgeführt wird, wie weit das Grundstücksrecht des polnischen Sachenrechts auf den BGB-Grundlagen beruht. Der von Dajczak und Knothe herausgegebene Band soll die Frage der Gleichartigkeit oder durch kontextuelle Unterschiede bedingten Divergenz der bei einer Anwendung wortgleicher Privatrechtsnormen durch Gerichte verschiedener Staaten erzielten Ergebnisse klären. Die Herausgeber haben hierfür das im BGB kodifizierte Sachenrecht gewählt, das im Untersuchungszeitraum unverändert geblieben war. Nach einem Vorwort zur Einführung in das Projekt von Chr. Baldus (S. 5ff.) und der Einleitung der Herausgeber (S. 21ff.) gehen die Beiträge von W. Rozwadowski und M. Avenarius auf die Bedeutung der humanistischen Tradition in der polnischen Rechtskultur am Ende des 19. sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem Rechtsstudium an den Universitäten Krakau, Lemberg und St. Petersburg nach, an denen die später für die Anwendung des BGB in Polen zuständigen Richter fast ausnahmslos studiert hatten. Es folgt ein Beitrag von A. Gulczyński über die für die Anwendung des deutschen Privatrechts zuständigen Mitglieder des polnischen Obersten Gerichtshofs (S. 77ff.), von denen nur einer die volle juristische Ausbildung in Deutschland erhalten hatte. Sodann behandelt W. Dajczak die Schwerpunkte der polnischen Rechtsprechung zum BGB-Sachenrecht in den Jahren 1920-1939 (Besitz, Vormerkung, Inhalt und Übertragung des Eigentums, Eigentumsvorbehalt/ Sicherungseigentum, dingliches Vorkaufsrecht, Hypotheken- und Grundbuchrecht) anhand der zwei maßgeblichen polnischen Urteilssammlungen. Knothe vergleicht anschließend die Ergebnisse der polnischen Judikatur mit der zeitgenössischen Praxis insbesondere des Reichsgerichts (S. 135ff.) und kommt zu dem Ergebnis, dass die Sachenrechtspraxis in beiden Ländern ganz überwiegend zu den gleichen Ergebnissen gelangt sei. Die wenigen Abweichungen finden sich bei bestimmten Einzelfragen (hinsichtlich des § 313 S. 1 BGB a. F., § 990 Abs. 2 S. 2 und beim Vorkaufsrecht). Eine grundsätzliche und wohl auch bewusste unterschiedliche Entwicklung zeichnete sich allenfalls „in dem deutlichen Bestreben der polnischen Judikatur nach einer möglichst restriktiven Anwendung des für das BGB charakteristischen Abstraktionsgrundsatzes“ ab (S. 189). Als Besonderheit der polnischen Urteile, die zu 8% deutsche Rechtsliteratur, zu 5% auch deutsche Judikatur heranziehen, stellt Dajczak die Anwendung römischrechtlicher Rechtsregeln heraus (S. 202ff.).
Der zweite Teil des Bandes befasst sich mit sechs
sachenrechtlichen Problemen (Besitz; Trennungs- und Abstraktionsprinzip;
Rechtsmissbrauch; dingliches Vorkaufsrecht; Sicherungsübereignung;
Grundpfandrechte; Beiträge von F. Klinck, W. Dajczak, Fr. Longchamps de
Bérier, Chr. Baldus, M. Börsch, M. Liebmann/J. Korsch) in
historisch-vergleichender Analyse unter Berücksichtigung der
römisch-gemeinrechtlichen Tradition. Hingewiesen sei auf den Beitrag Dajczaks,
der zu dem Ergebnis kommt, dass die von ihm herausgestellte Argumentation die
Befürworter der Annahme des Kausalitätsprinzips (statt des Trennungs- und
Abstraktionsprinzips) im Rahmen einer evtl. Harmonisierung des Modells der
Eigentumsübertragung von Grundstücken in Europa stärken könne. Hier wird sich
zeigen, wie weit es der deutschen Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik gelingt,
das gegenteilige Prinzip überzeugend zu verteidigen. Der Hauptgrund für die
große Übereinstimmung der polnischen und deutschen Auslegung des
BGB-Sachenrechts dürfte darin zu sehen sein, dass das Sachenrecht des BGB in
der römisch- und gemeinrechtlichen Tradition steht, die in der
Universitätsausbildung der Richter des polnischen Obersten Gerichtshofs eine
dominierende Rolle gespielt hat. Im Übrigen weisen die Herausgeber in den
Schlussbemerkungen auch auf die „ideologische Neutralität bei der Auslegung des
Privatrechts“ hin (S. 371), so dass sich auch nationalistische Verengungen
nicht feststellen ließen. Abschließend befasst sich M. Schmidt-Kessel in
seinem nicht mehr rechtsgeschichtlich ausgerichteten Beitrag mit dem Sachenrecht
im Privatrecht der EU (S. 341ff.). Unabhängig von seiner EU-sachenrechtlichen
Perspektive stellt der Band einen gewichtigen Beitrag zur deutschen und
polnischen Privatrechtsgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und
zur Geschichte des Kodifikationsmodells des BGB dar, das neben dem ABGB und dem
Code civil bei der polnischen Kodifikationsgeschichte von erheblicher Bedeutung
war ähnlich wie bei den Kodifikationsbestrebungen in der Tschechoslowakei. Mit
dem vorliegenden Band ist der Grundstein zu einer vergleichenden
deutsch-polnischen bzw. polnisch-deutschen Rechtsgeschichte gelegt, die für die
Zwischenkriegszeit trotz der politischen Gegensätze in vielfältiger Weise
miteinander verflochten ist.
Kiel |
Werner Schubert |