Das Ungarnbild der deutschen Historiographie, hg. v. Fata, Márta (=Schriftenreihe des Instituts für donauländische Geschichte und Landeskunde 13). Steiner, Stuttgart 2004. 334 S.
Fata, Márta
(Hg.), Das Ungarnbild der deutschen Historiographie, Franz Steiner Verlag,
Stuttgart 2004, 334 S.
Die Verbindungen
der Menschen und Länder des deutschen Sprachraums mit Ungarn sind in den
vergangenen 1000 Jahren vielfältig und wechselhaft gewesen, was unter Nachbarn
ja nicht ungewöhnlich ist. Diese Nachbarschaft war in ihren mittelalterlichen
Anfängen durchaus spannungsgeladen, da sich die noch heidnischen Madjaren bis
ins 10. Jahrhundert hinein nicht von gelegentlichen Raubzügen gen Westen abhalten
ließen.
Die Niederlage der Madjaren in der Lechfeldsschlacht am 10. August 955 markiert uns heute das Ende der Ungarnzüge. Mit der selbstgewählten Christianisierung begann danach ein Prozess der Eingliederung der Madjaren in das christliche Abendland. Ihr Ruf war in den deutschen Ländern freilich noch eine ganze Zeitlang verdorben. Das änderte sich erst als die Türken das christliche Europa bedrohten und die Madjaren sich ihnen entgegenstellten, also ungefähr seit dem 15. Jahrhundert.
Über die Lechfeldschlacht und ihre Darstellung schreibt Maximilian G. Keller. M. Zückert beschreibt das Ungarnbild der deutschen Schulgeschichtsbücher, Zsolt Lengyel die Hungarologie im Ungarischen Institut München. Holger Fischer liefert eine grundlegende Kritik der mehr oder weniger aktuellen deutschsprachigen Gesamtdarstellungen der ungarischen Geschichte; und der Leser staunt, wie sehr sich moderne Autoren durch Mythen und Legenden den Blick auf Fakten und Strukturen verstellen ließen.
Krisztina Kaltenecker analysiert die von einer Kommission unter Th. Schieder in den 1950er Jahren herausgegebene „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa“, soweit es sich um das Schicksal der Ungarndeutschen zwischen 1918 und 1950 handelt. Sie kritisiert die Quellenbasis der Dokumentation deutlich und entdeckt gelegentlich ein „bieder-sentimentales Ungarnbild“. Kaltenecker erhellt die politischen Ursachen für die Vertreibung der Ungarndeutschen in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und entlarvt damit Fehlvorstellungen früherer Historiker. Der Kommission um Th. Schieder bescheinigt sie aber durchaus Verdienste und die Produktion einer „Pionierleistung“.
Die Herausgeberin des Tagungsbandes steuert nicht nur eine Definition der zentralen Fragestellung bei, sondern auch einen profunden Artikel zum deutschen Ungarnbild im frühen 19. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehen die Ungarnberichte Karl von Rottecks, Friedrich Schlegels und Ernst Moritz Arndts. Márta Fata entlehnt den poetischen Titel ihres Artikels („Mein geliebtes Kalmuckenvolk“) einem Brief Schlegels an seine Frau Dorothea.
Im Beitrag Joachim Puttkamers geht es um die ungarische Nationalitätenpolitik im 19. Jahrhundert und den Forschungsstand dazu. Offensichtlich gab es mannigfaltige Parallelen zu anderen Nationalismen. Die Ausgangssituation im ungarischen Staatsgebiet vor 1918 war jedoch einzigartig: stand doch den Madjaren eine zahlenmäßige ethnische Mehrheit aus Rumänen, Slowaken, Deutschen, Kroaten und Serben gegenüber.
János M. Bak wirft ein Streiflicht auf Herrschergestalten des mittelalterlichen Ungarn, István Futaky auf die ungarische Geschichte an der Göttinger Universität im 18. Jahrhundert. In Exkursen behandeln Attila Pók Rankes Einfluss auf die ungarischen Historiker und Robert Evans Ungarn in der britischen Geschichtsschreibung.
Unter der Überschrift „Bilder der Rechtsgeschichte“ verbindet das Buch einen Aufsatz Katalin Gönczis zum Ungarnbild in der deutschen Rechtsgeschichte, die deutsche Aufarbeitung der ungarischen Rechtsentwicklung nach 1945 (Georg Brunner) und den Minderheitenschutz im ungarischen Recht nach 1990 im Spiegel der deutschen Fachliteratur (Johannes Berger).
Gerhard Sewann verzeichnet – etwas anders als Fischer und Kaltenecker - den positiven Befund, dass das moderne Ungarnbild deutscher Historiker weitgehend frei sei von Stereotypen und Klischees. Andreas Schmidt-Schweizer betrachtet die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem ungarischen Systemwechsel 1989/90. Und last but not least blickt László Orosz auf die Verbindung der deutschen Südostforschung zur ungarischen Wissenschaft zwischen 1935 und 1944.
Der Blick nach Ungarn und die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem deutsch-ungarischen Verhältnis sind heute - da uns das Verschwinden des Eisernen Vorhangs diesen Nachbarn endlich wieder etwas näher gebracht hat - von besonderem Interesse - handelt es sich doch um einen Nachbarn, mit dem uns ein gewisser seelischer Gleichklang und ein gemeinsames mitteleuropäisches Schicksal verbindet. Geradezu atemberaubend ist das Maß der ökonomischen, kulturellen und menschlichen Verflechtungen zwischen den deutschsprachigen Ländern und Ungarn, die sich in den eineinhalb Jahrzehnten nach 1989/90 ergeben haben. Ungarische Schriftsteller haben in Deutschland Konjunktur wie kaum jemals zuvor. Ich nenne nur die Namen Béla Zsolt, Imre Kertész, Sándor Márai, István Örkény, Péter Esterházy, Antal Szerb und Terézia Mora. Deutsche Banken, Automobilhersteller und Telekommunikationsunternehmen sind nachhaltig in Ungarn engagiert, zunehmend sind es auch ungarische Unternehmen in Deutschland.
Mit dem hier
besprochenen Buch hat sich das Tübinger Institut für Donauschwäbische
Geschichte und Landeskunde bleibende Verdienste um die Erforschung des
deutschen Ungarnbildes erworben. Ein Personen- und ein Ortsregister erleichtern
die Arbeit; besonders hilfreich war mir eine Bibliographie einschlägiger
Beiträge der deutschen Geschichtswissenschaft 1980–1999 (zusammengestellt von Fischer
und Seewann).
Berlin –
Nemesnádudvar Wolfgang
Pöggeler