Das Netzwerk der „Gefängnisfreunde“ (1830-1872). Karl Josef Anton Mittermaiers Briefwechsel mit europäischen Strafvollzugsexperten, hg. und bearb. v. Riemer, Lars Hendrik (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 192, 1, 2 = Juristische Briefwechsel des 19. Jahrhunderts), 2 Halbbände. Klostermann, Frankfurt am Main 2005. XIV, 1-1070, XXX, 1071-1908 S.
Die vorliegende Publikation erfolgt im
Gesamtrahmen des von Barbara Dölemeyer und Aldo Mazzacane
geleiteten MPI-Editionsprojekts betreffend die Korrespondenz des Juristen und
Politikers Karl Josef Anton Mittermaier (1787–1867), welche insgesamt aus etwa
12.000 Briefen besteht, die im Nachlass Mittermaiers in der
Universitätsbibliothek Heidelberg aufbewahrt werden. In den hier zu
besprechenden zwei Bänden werden insgesamt 665 fast ausschliesslich an
Mittermaier gerichtete Briefe deutscher und ausländischer Strafvollzugsexperten
ediert. Es finden sich darunter vereinzelt auch Schreiben Mittermaiers. Zusätzlich
enthält die Edition 167 zusammenfassende Berichte betreffend Briefe des sardischen
Gefängniskundlers und Gefängnisreformers, Carlo Ilarione Petitti di Roreto
(1790–1850) an Mittermaier.
Die vorliegenden Bände entstanden im Rahmen des
Projekts der DFG «Juristische Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert». Das
monumentale Werk wurde 2004 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation
angenommen.
Riemer unterlegt die Edition mit einer über
220seitigen, in sich abgeschlossenen, gleichermassen analysierenden wie
kontextualisierenden Einführung. Diese Untersuchung fokussiert einerseits
spezifisch strafvollzugshistorische Aspekte (Das internationale Ringen um ein
ideales Haftsystem, Bd. 1, S. 144–188) und beleuchtet Mittermaiers Rolle im
Strafvollzugsreformprozess zwischen 1830 und 1872 (S. 189–218). Im Vordergrund
des Erkenntnisinteresses stehen indessen Struktur und Funktion des Netzwerks
der europäischen Strafvollzugsexperten» (S. 20–143): Der Autor identifiziert
einen klar definierbaren, internationalen Kreis von „Gefängniskundlern“, die
insbesondere vor 1848 in einem kommunikativ sehr aktiven Netzwerk interagieren.
Juristen, Mediziner, Pädagogen, Philantropen, Theologen und Architekten
kooperieren seit den 1820er Jahren transdisziplinär innerhalb der Schnittfläche
von Wissenschaft, Politik, privater Wohltätigkeit, theoretischer Reflexion und
Vollzugspraxis (S. 53). Aufnahme in dieses Netzwerk findet, wer über das
erforderliche Spezialwissen verfügt und sich an die von den Gefängniskundlern
formulierten Standards hält (S. 23). Tonangebend sind Fachleute aus Großbritannien,
Frankreich, Belgien, den Niederlanden, einzelnen schweizerischen Kantonen sowie
deutschen und norditalienischen Staaten. Skandinavien, Osteuropa und mit
Ausnahme Italiens auch Südeuropa partizipieren dagegen bis etwa 1860 nur
marginal und punktuell am Reformdiskurs über den Strafvollzug. Zumeist sind die
Gefängniskundler praktische Juristen oder Mediziner von Beruf. Für die Zeit des
Vormärz ist charakteristisch, dass zahlreiche Strafvollzugsexperten dem
liberalen Lager zuzuordnen sind und die Todesstrafe ablehnen. Es zeichnen sich
Schnittflächen ab zwischen den Anliegen der Gefängniskunde und der
linksliberalen Sozialreformbewegung. Bereits in den 1830er Jahren ist überdies
ein nordamerikanischer Einfluss auszumachen. So beliefert etwa der Mediziner
und preußische Strafvollzugsreformer, Nikolaus Heinrich Julius (1783–1862),
anlässlich eines Aufenthalts in den Vereinigten Staaten von Amerika zwischen
1834 und 1836 Mittermaier mit Berichten und Büchern über das amerikanische
Strafvollzugswesen, insbesondere über das pennsylvanische System (S. 47ff.,
503ff.). Vor allem die Jahresberichte der Bostoner Gefängnisgesellschaft und
der Inspektoren des pennsylvanischen „Eastern Penitentiary“ wurden vom europäischen
Netzwerk rezipiert (S. 49f.). Der Wissenstransfer findet hauptsächlich über
Korrespondenzen statt, welche regelmässig mit Anlagen versehen werden. Bücher,
Zeitschriftenaufsätze und Berichte über einzelne Strafanstalten bilden regelmäßig
Gegenstand internationaler Postsendungen. Sogar Artikel aus Regionalzeitungen
erreichen auf diese Weise ein internationales Fachpublikum (S. 104). Daneben
dienen auch Fachzeitschriften, wie das „Archiv des Criminalrechts“ oder nach
1860 die „Allgemeine Deutsche Strafrechtszeitung“, sowie Kongresse und
Studienreisen – Mittermaier selbst hatte diverse Strafanstalten zwischen
Schottland und Sizilien, Frankreich und Österreich besucht (S. 100) – dem
Wissensaustausch, doch treten diese Kommunikationsgefäße hinter die Bedeutung
der regen Korrespondenzbeziehungen zurück.
Das untersuchte Netzwerk funktioniert sowohl
intern als Instrument der Wissenskommunikation unter den Fachleuten, als auch
extern durch rechtspolitisch orientierte Einflussnahme auf den
Gesetzgebungsprozess gleichermassen wie auf die öffentliche Meinung. Die
Gefängniskundler werden verschiedentlich als Gutachter zu
strafvollzugsrelevanten Gesetzesentwürfen beigezogen oder in Expertenkommissionen
berufen, wo sie unmittelbar auf die Reform des Strafvollzugs Einfluss nehmen.
Die Gefängnisreformbewegung der 1830er Jahre
zeichnet sich aus durch Offenheit und Eklektizismus. Ziel des damals
diskutierten, auf Studien John Howards beruhenden „Pönitentiarsystems“ ist die
moralische Besserung des Gefangenen durch organisierte Freiheitsstrafe (S.
145). Zu den altbekannten Erziehungsmitteln wie Arbeit und Seelsorge treten
zunehmend eingehende Überwachung, Klassifikation und Isolation. Insbesondere
sollten die Insassen nicht mehr ohne Rücksicht auf ihren kriminellen Werdegang
zusammen eingesperrt werden. „Mit der Rezeption der amerikanischen Modelle der
Schweige- und der Einzelhaft änderte sich dies radikal.“ (S. 222). Um 1840
wurde die Auseinandersetzung um das ideale Haftsystem zunehmend ideologisiert
und polarisiert. Die „Pennsylvanisten“ verfochten entschieden die Einzelhaft
gegen das Schweigesystem der „Auburnianer“. Julius empfiehlt in einem Brief vom
6. Juni 1838 Mittermaier, dessen tuberkulosekrankem Sohn zum Zwecke der
Genesung „ununterbrochenes Stillschweigen“ im Sinne des pennsylvanischen
Systems aufzuerlegen (S. 559). Offenbar soll das Schweigesystem die physische
Erkrankung gleichermassen wie die moralische Bersthaftigkeit korrigieren.
Die Wissenskommunikation verlief zunehmend in
rechtspolitisch definierten Bahnen. Damit einher ging die Verabsolutierung der
Forderungen nach Uniformität und Universalität des favorisierten
Vollzugssystems. Riemer widmet der mit dieser Entwicklung verbundenen
Segmentierung des Netzwerks durch Ausdifferenzierung von Subnetzen ein eigenes
aussagekräftiges Unterkapitel (S. 88ff.). Der Frankfurter Gefängniskongress von
1846 proklamierte in Umsetzung der Forderungen der „Pennsylvanisten“ die
ausnahmslose Einführung der Einzelhaft (S. 117f.). Die Studie zeigt auf, dass
die Etablierung dieser Ansicht zur herrschenden Lehre ihre Ursache maßgeblich
im „Auseinanderbrechen des Subnetzes der einzelhaftskeptischen Anhänger des
Genfer Systems“ findet (S. 157 ff., 223).
Die Revolutionen von 1848/49 bewirken eine
Krise der europäischen Gefängniskunde. In den 1850er Jahren verlieren die
genannten Vollzugsleitbilder weitgehend ihre Bedeutung (S. 170ff.). Die
exklusiv verstandenen Haftsysteme werden im Vollzugsdiskurs zunehmend ersetzt
durch Haftmodalitäten. Anlässlich des aus einer Initiative der amerikanischen
Regierung hervorgehenden Londoner Gefängniskongresses von 1872 wurde deutlich,
„dass das Ideal universell gültiger Haftmodelle ausgedient hatte.“ (S. 119,
223). Die frühere Forderung nach Universalität und Uniformität wich einer
pragmatischen, internationalen Vielfalt, Variabilität mit Mischformen der
Haftsysteme. Vertreter der Strafvollzugspraxis – dazu gehören nach 1830
zunehmend akademisch gebildete Strafanstaltsdirektoren – begegnen der „empirisch-vergleichenden
Methodik“ der praxisfernen Strafvollzugsexperten» mit Skepsis. Anders als in
den juristischen Kernfächern setzen in der internationalen Gefängniskunde nicht
die juristischen Fakultäten, sondern vorwiegend Praktiker die Maßstäbe (u. a.
S. 131). Mittermaier war einer der ganz wenigen Universitätslehrer, die bei den
praktischen Gefängniskundlern auf Anerkennung stießen. Dafür genoss er den
besonderen Respekt der Kollegen. In einem Schreiben vom 26. Januar 1864 beglückwünscht
der Berliner Strafrechtsprofessor, Franz von Holtzendorff (1829–1889),
Mittermaier zu einer Ehrung durch die Strafanstalt in St. Gallen. Er misst
dieser Wertschätzung und Auszeichnung durch die Praxis exklusive Bedeutung zu
(S. 382).
Nach 1870 verliert die Gefängniskunde als
transdisziplinäre Wissenschaft an Bedeutung, nachdem die aufstrebende
Kriminologie manche ihrer Fragestellungen aufgegriffen und fachlich abgespalten
hatte. Der Diskurs wird künftig im relativ engen Segment der praktischen
Strafvollzugskunde weitergeführt. Der Autor erklärt diesen Bedeutungsverlust
maßgeblich mit dem Ausbleiben des erhofften Besserungserfolgs durch den
reformierten Strafvollzug (S. 226). Riemer sieht überdies Parallelen zur
Entwicklung der Rechtsvergleichung: Gefängniskunde und Rechtsvergleichung
erleben „im kosmopolitisch aufgeschlossenen Europa des Vormärz“ eine Blüte,
welche nach 1848 durch die Nationalisierung der Wissenschaften ihren Verfall
erlebt (S. 225). Diese angebliche kosmopolitische Aufgeschlossenheit vor 1848
beschränkt sich freilich weitgehend auf die radikalen und liberalen Bewegungen,
die indessen von den damaligen Monarchien in die illegale Opposition verdrängt
wurden. Dies wiederum macht deutlich, dass die Gefängniskunde einen interdisziplinären,
progressiv-sozialreformerischen, dem restaurativen Selbstverständnis der
damaligen Monarchien suspekten Geist atmete. Zugespitzt formuliert:
Gefängniskunde entsprach einer Art supranationaler, politischer Opposition,
welche mit der Konsolidierung der Nationalstaaten in Mitteleuropa ihre
gemeinsame Klammer verlor.
Riemer analysiert Mittermaiers Position und
Funktion im Gefüge des Netzwerks. Als Vertreter der Strafrechtswissenschaft mit
zahlreichen Verbindungen zur Politik, international orientierter Experte für
Rechtsvergleichung und als polyglotter Kommunikator kam dem Heidelberger
Kriminalisten tatsächlich eine Schlüsselposition innerhalb dieses Netzwerks zu.
Sein empirisch-pragmatischer Ansatz begünstigte diese Funktion. „Durch seine
Methodik und die hiermit verbundenen Formen der Wissenskommunikation war
Mittermaier so wie kaum ein anderer Juraprofessor seiner Zeit dazu
prädestiniert, gleichermaßen Rechtswissenschaftler und Gefängniskundler zu
sein.“ (S. 224). Bemerkenswert ist nicht nur die Vielschichtigkeit des von
Mittermaier gepflegten Wissensaustauschs, dem ein ehrlicher und weitgehend
vorbehaltloser Drang nach Erkenntnis, nicht das bloße Bedürfnis nach
Selbstvergewisserung zugrunde lag, sondern auch dass Mittermaier als
international hoch angesehener Wissenschafter keine Berührungsängste mit der
Praxis kannte. Um 1830 favorisierte er das Genfer Strafvollzugsmodell, wie es
Christophe Aubanel, Direktor der „maison pénitentiaire“, umgesetzt hatte:
Erziehung, Religion, Arbeit in Kleingruppen unter Schweigepflicht, nächtliche
Trennung und kurzzeitige Isolation bei Haftantritt sollten eine nachhaltige
Besserung des Insassen bewirken. Etwa zehn Jahre später hielt in Genf das
„gemischte System“ Einzug. Zeitlich begrenzte Einzelhaft wurde mit dem Schweigesystem
bei nächtlicher Trennung kombiniert. Mittermaier begrüßte diese angesichts der
damaligen Polarisierung sehr fortschrittliche Entwicklung (S. 193f.). Für die
1850er Jahre lässt sich Mittermaiers Position nicht eindeutig festmachen, doch
äußert er gegenüber der Isolationshaft verschiedentlich Vorbehalte.
Entsprechend der damaligen Krise konzentriert er sich auf Beobachtung. Seine
Stellungnahmen bleiben vage. Nach 1860 bekennt sich Mittermaier zu zeitlich
unbegrenzter Einzelhaft und damit zum Isolationismus. Riemer geht davon aus,
dass sich Mittermaiers Gesinnungswandel aus den guten Erfahrungen, die man im
Bruchsaler Zellengefängnis mit der Isolationshaft gesammelt hatte, erklären
lässt (S. 199). Mittermaiers Schlüsselrolle im europäischen Netzwerk erklärt
sich jedoch nicht durch seine wechselnden Standpunkte, sondern ist vielmehr
zurückzuführen „auf seine Funktion als Kommunikator und einflussreiches
Bindeglied zwischen Jurisprudenz, Expertendiskurs und Politik.“ (S. 217).
Riemers Werk geht weit über das hinaus, was man
von einer Edition üblicherweise erwarten darf. Die einleitende umfangreiche
Analyse vermittelt tiefen und differenzierten Einblick gleichermaßen in die
Geschichte des europäischen Strafvollzugs im 19. Jahrhundert wie auch in die
Entwicklung der Gefängniskunde als eigene Wissenschaftsdisziplin unter
besonderer Berücksichtigung der transdisziplinären Kommunikation. Sorgfältige
biographische Einführungen anfangs der jeweiligen Korrespondenzsammlungen
vermitteln wichtiges Wissen, das sich der Leser sonst nur schwer selbst
aneignen könnte. Riemer liefert in einem ausführlichen wissenschaftlichen
Apparat mit zahlreichen Erklärungen und Verweisungen manche Verständnishilfen
und erstellt zahlreiche Vernetzungen, welche die Edition zu einer reichhaltigen
Quelle wissenschaftsgeschichtlichen und rechtshistorischen Wissens machen, das
weit über die Grenzen der Rechtsgeschichte hinaus reicht. Da der Band mit einem
Sach- und Personenregister ausgestattet ist, wird er auch bei der Erschließung
weiterer Gefängniskundlerbiographien und Strafvollzugsnetzwerke gute Dienste
leisten. Das enorm reichhaltige Quellen- und Literaturverzeichnis enthält eine
Großzahl der einschlägigen Schriften zum Thema, die in Europa und in den USA
erschienen sind.
Über die menschliche Begegnung hinaus
ermöglicht die Kenntnis der zeitgenössischen juristischen Netzwerke und
Kommunikation ein tieferes Verständnis genetischer Zusammenhänge in
Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Der vorliegende Briefwechsel wirft
überdies manchen Lichtstrahl auf das Leben und Wirken der gefängniskundlichen
Akteure. Da die Sammlung fast ausschließlich Briefe an Mittermaier enthält, die
Antwortschreiben indessen meistens fehlen, erscheint die Perspektive einseitig.
Leider muss davon ausgegangen werden, dass Mittermaiers Briefe an die
europäischen Gefängniskundler größtenteils verschollen sind (S. 190).
Der vorliegende umfangreiche Briefwechsel wird
der sich mit dem Strafvollzug befassenden Wissenschaftsgeschichte nachhaltige,
wertvolle Dienste erweisen. Die einleitende Studie ist ein unverzichtbares
Standardwerk für die Strafvollzugsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Die Edition
erweist sich insbesondere unter dem Interessenfokus strafjuristischer
Kommunikation im 19. Jahrhundert als (ge)wichtiger Forschungsgegenstand, der
die Editionsreihe der Mittermaierschen Korrespondenzen, welche Barbara
Dölemeyer und Aldo Mazzacane auf so gelungene Weise seit Jahren
realisieren, wertvoll ergänzt. Lars Hendrik Riemer hat mit seiner
sorgfältigen, überaus aufwändigen und wissenschaftlich hochstehenden
Editionsarbeit der Strafrechtsgeschichte, insbesondere aber der historischen
Erforschung der Strafvollzugskunde sowie der Mittermaier-Forschung unschätzbare
Dienste erwiesen, für welche ihm nicht nur die Rechtsgeschichte zu großem Dank
verpflichtet ist.
Sankt Gallen Likas
Gschwend