Bedau, Maren, Entnazifizierung des Zivilrechts. Die Fortgeltung von NS-Zivilrechtsnormen im Spiegel juristischer Zeitschriften aus den Jahren 1945 bis 1949 (= Berliner juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts 29). Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2004. 445 S.

 

Es klingt ungewohnt, wenn von „Entnazifizierung“ nicht in bezug auf Personen, sondern auf Rechtsgebiete die Rede ist. Gemeint ist die Befreiung des Zivilrechts von nationalsozialistischen Inhalten, die ihm unter dem NS-Regime gegeben worden sind. Ausgangspunkt der Untersuchung einer Dissertation der Berliner Humboldt-Universität, die von Rainer Schröder betreut worden ist, ist die Erkenntnis, daß es nicht ausreicht, die aufgehobenen NS-Gesetze in den Blick zu nehmen. Vielmehr ist zu untersuchen, inwieweit nationalsozialistische Gedankeninhalte den Untergang des Regimes überdauert haben. Die Autorin analysiert zu diesem Zweck die von 1945 bis 1949 erschienenen juristischen Zeitschriften unter dem Gesichtspunkt, inwieweit die dort vertretenen Meinungen insbesondere zu Einzelnormen nationalsozialistische Einflüsse erkennen lassen.

 

Zunächst behandelt die Autorin die Rahmenbedingungen der Debatte (personelle Entnazifizierung, organisatorischer Wiederaufbau, Aufhebung von NS-Gesetzen durch den Alliierten Kontrollrat). Danach bemüht sie sich um eine „wissenschaftliche Standortbestimmung nach 1945“, wobei sie als exemplarische Versuche konträrer zivilrechtlicher Selbstreflexion die Antrittsreden darstellt, die Walter Hallstein in Frankfurt am Main („Wiederherstellung des Privatrechts“) und Ludwig Raiser in Göttingen („Der Gleichheitsgrundsatz im Privatrecht“) gehalten haben. Ausführlich untersucht werden die Beiträge der Zivilistik zum 50jährigen Jubiläum des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die zumeist die Kritik aus den 20er und 30er Jahren über dessen fehlende soziale Ausrichtung erneuerten. Dabei machte sich bemerkbar, daß sich die Verhältnisse der Nachkriegszeit tief von der im BGB vorausgesetzten liberalen Privatrechtsgesellschaft unterschieden und soziale Gerechtigkeit die Forderung der Zeit war.

 

Der Hauptteil der Arbeit ist dem Familienrecht und der Erbrechtsgesetzgebung gewidmet, also den Rechtsgebieten, in denen das Regime seine spezifischen, an „Rasse“ und „Volkstum“ orientierten Auffassungen durchsetzen konnte. Das Ergebnis, zu dem die Autorin gelangt, bestätigt die Ansicht, wonach nach 1945 das Ausmaß der nazistischen Durchdringung dieser Rechtsgebiete negiert und die aktive Funktion von Wissenschaft und Rechtsprechung – etwa bei der Entwicklung der Abstammungsklage – unterschätzt wurden. Zutreffend hebt die Autorin hervor, daß und wie Rechtsbegriffe „umgedacht“ (B. Rüthers) wurden, so z. B. das Zerrüttungsprinzip bei der Ehescheidung, bei dem nach 1945 an die Stelle der bevölkerungspolitischen Orientierung der NS-Zeit ein Ehebild maßgebend wurde, das sittlich und religiös ausgerichtet war.

 

Das umfangreiche, interessante Werk, das vorschnelle Urteile vermeidet und sich um Differenzierung bemüht, erinnert daran, daß Rechtsprechung und Rechtswissenschaft nach 1945 vor Probleme gestellt waren, die sie vielfach überforderten. So bedeutet es keine Überraschung, daß die Mehrheit der Stimmen, die in den Zeitschriften zu Wort kamen, zur Rechtskontinuität tendierte, wobei vorzugsweise geltungserhaltende Argumentationsfiguren benutzt wurden, die den NS-Hintergrund der Normen neutralisierten.

 

Goslar                                                                                                            Rudolf Wassermann