Wittke, Margarete, Mord und Totschlag? Gewaltdelikte im Fürstbistum Münster 1580-1620. Täter, Opfer und Justiz (= Veröffentlichungen der historischen Kommission für Westfalen XXII Geschichtliche Arbeiten zur westfälischen Landesforschung 21). Aschendorff, Münster 2002. 358 S., Karte.

 

Die als Dissertation bei Winfried Schulze an der Universität München entstandene strafrechtsgeschichtliche Arbeit Margarete Wittkes beschäftigt sich mit der landesherrlichen, städtischen und adligen Rechtspraxis bei Gewaltdelikten im Fürstbistum Münster in den Jahren 1580 - 1620, einem frühneuzeitlichen Territorium, das sich wegen des reichen Quellenmaterials als besonders lohnendes Untersuchungsfeld anbietet. Ausgewertet werden für den  Untersuchungszeitraum verschiedene archivalische Bestände. Hierzu gehören im wesentlichen eine im Auftrag der fürstbischöflichen Regierung gefertigte Erhebung aller Totschläge für die Jahre 1580 - 1600 sowie die seit 1574 mit einigen Lücken erhaltenen Regierungsprotokolle der landesherrlichen Verwaltung. Zusätzlich wird ein Protokollbuch der Stadt Coesfeld für den Zeitraum 1574 - 1657 herangezogen, in dem diejenigen wegen Totschlags bezichtigten Personen registriert worden sind, denen in der Stadt Asyl gewährt werden sollte. Schließlich werden verschiedene für die Praxis der Strafrechtspflege im Untersuchungszeitraum relevante Protokollbücher und Akten der Stadt Warendorf und des adligen Kirchspiels Füchtdorf herangezogen. Die Auswahl der Quellen erlaubt es für den Untersuchungszeitraum exemplarisch städtische  Strafrechtspraxis (Warendorf), in der der Magistrat maßgeblich die Jurisdiktion bestimmte, mit einem unter adeliger Rechtsprechung stehendem Gebiet (Füchtdorf) zu vergleichen und die so gewonnenen Ergebnisse mit der jeweiligen Haltung der Landesregierung zur Gewaltkriminalität der Untertanen in Beziehung zu setzen. Nachvollziehbar hat sich die Verfasserin bei ihrer Untersuchung auf die zugegebenermaßen kurze Zeitspanne zwischen 1580 und 1620 beschränkt, um eine Vergleichbarkeit der gewonnenen Ergebnisse zu gewährleisten. Gewählter Ausgangspunkt ist dabei das Einsetzen der kontinuierlichen Verschriftlichung von rechtsrelevanten Handlungen im Fürstbistum Münster zwischen 1570 und 1580, Endpunkt das Jahr 1623, in dem die Stadt Warendorf einen Großteil ihrer Gerichtsprivilegien, darunter auch das Recht der Hochgerichtsbarkeit, an das Fürstbistum verlor. Die Untersuchung Margaret Wittkes gliedert sich in zwei Hauptabschnitte. In einem ersten Teil werden verschiedene Zugangsweisen zum Thema „Gewalt in der frühen Neuzeit“ paradigmatisch durchgespielt, indem auf der Basis der unterschiedlichen Quellengattungen Höhepunkte des Gewaltaufkommens, Täter- und Opfertypen, die Dramaturgie der tätlichen Auseinandersetzungen und die familieninterne Sozialisation von überdurchschnittlich häufig in Erscheinung tretenden Tätern untersucht werden. Besonders in diesem Teil gelingt es der Autorin mit der Auswertung der Füchtorfer Gerichtsprotokolle und des Coesfelder Aktenbestandes ein lebendiges Bild der Strafrechtspraxis des Untersuchungszeitraums nachzuzeichnen. Eine tabellarische Aufarbeitung der Gerichtsprotokolle zeigt, daß 45 % aller im Untersuchungszeitraum begangenen Gewaltdelikte im Kirchspiel Füchtorf durch Mitglieder von nur 20 Familien begangen wurden. In exemplarischen Längsschnittstudien für drei unterschiedlichen sozialen Schichten angehörenden Familien wird zudem nachgewiesen, daß sich bestimmte Formen der Delinquenz auch über mehrere Generationen fortsetzen konnten, indem Verhaltensmuster von einer Generation in die andere übernommen wurden. Der Coesfelder Aktenbestand rückt hingegen die Täterperspektive in den Vordergrund. Die einzelnen Schilderungen sind persönlich gefärbte Ausschnitte der tatsächlichen Ereignisse, die den eines Totschlags bezichtigten Personen die Aufnahme in die Coesfelder Asylstätte ermöglichen sollten. Trotz dieser klaren Zweckbestimmung lassen sich den Aussagen Hinweise darauf entnehmen, welche Streitgegenstände im Untersuchungszeitraum Gewaltanwendung provozieren konnten. Dabei ist neben der Verweigerung von als rechtmäßig empfundenen Ansprüchen häufig eine Verletzung der Ehre des Täters durch ein bestimmtes Verhalten des Opfers als Motiv für die Gewaltanwendung auszumachen. Wittke verweist in diesem Zusammenhang zutreffend auf den häufig „defensiven“ Aspekt der Gewaltanwendung in der frühneuzeitlichen Gesellschaft, bei der die Verteidigung des Körpers wie der sozialen Integrität, der Ehre, bezweckt wurde. Wichtiges Ergebnis diese Abschnittes ist die anhand des ausgewerteten Quellenmaterials gut belegte Feststellung, daß Gewalt in der Regel nicht von außen in die enge Welt der Dörfer und kleinen Städte hineingetragen wurde, sondern dort aus alltäglichen Situationen, wie dem gemeinsamen Arbeiten oder dem Ausklang des Arbeitstages in einer Schenke, entstand. Besonders mit hohem Alkoholkonsum verbundene Familien- oder Dorffeste, waren immer wieder ein Nährboden für Ehrverletzungen und gewaltsame Auseinandersetzungen. Frauen waren wesentlich seltener unter den Tätern oder den Opfern von Gewalttaten zu finden. Insgesamt fand Gewalt vornehmlich unter Männern statt, wobei Täter und Opfer zumeist der gleichen sozialen Schicht angehörten, ein Ergebnis, das im übrigen den Erkenntnissen der modernen Kriminologie und Viktimologie weitgehend entspricht. Im zweiten Teil der Arbeit wird nach den Formen, der Wirksamkeit und der Nutzung frühneuzeitlichen Rechts auf den drei verschiedenen Ebenen von Landesherrschaft, Adelsherrschaft und landständischer Stadtgemeinde gefragt. Auf den unterschiedlichen Ebenen werden wiederum verschiedene Perspektiven eingenommen, wenn die obrigkeitlichen Strafmaßnahmen hinsichtlich ihrer Vollzugsmöglichkeiten und ihrer Wirksamkeit betrachtet werden, den Fragen nach der Einstellung der Täter zu Strafdrohungen und daraus resultierender individueller Verteidigungsstrategien nachgegangen oder der Blick auf die Opfer bzw. deren Hinterbliebene mit der Forderung nach obrigkeitlicher Verfolgung der Täter gerichtet wird. Anhand verschiedener statistischer Auswertungen des Quellenmaterials kommt die Verfasserin zu dem Ergebnis, daß auf allen untersuchten Ebenen, Landesherrschaft, Stadt Warendorf, Kirchspiel Füchtorf, im Untersuchungszeitraum bei Gewaltdelikten nur selten Leib- und Lebensstrafen vollzogen worden sind. In der Regel wurde auf Geldstrafen, häufig verbunden mit Sühneleistung an die Hinterbliebenen des Opfers, bereits im Strafurteil erkannt oder eine zunächst verhängte Leibes- oder Lebensstrafe im nachhinein auf dem Gnadenweg in eine Geldstrafe umgewandelt. Im ländlichen Bereich Füchtdorf kam ein umfangreiches traditionell bestimmtes außergerichtliches Schlichtungswesen hinzu. Andererseits kann allerdings auch nicht davon gesprochen werden, daß Gewalthandlungen aller Art gegen Personen entgegen bestehenden Normen nur lax verfolgt worden wären. So zeigen namentlich die Warendorfer Quellen, daß der dortige Magistrat sehr konsequent gegen Gewalttäter jeden Standes vorzugehen bereit war und die Höhe der verhängten Geldstrafen nicht unerheblich sein konnte. Auch zahlreiche vorbeugende Maßnahmen des Magistrats, so z. B. seine Bemühungen den Alkoholkonsum einzudämmen und das Waffentragen im öffentlichen Raum zu unterbinden, weisen in diese Richtung. Daneben wurden Körperverletzung und Beleidigung auch ohne Anzeige durch das Opfer, soweit sie zur Kenntnis der Justiz gelangten (etwa durch Fronen, Stadtdiener und Nachbarn), strafrechtlich verfolgt. Ob schließlich auch der Befund, daß die Täter selbst wenn sie eine nach der Carolina straffreie Notwehrhandlung begangen hatten, zunächst Hals über Kopf vom Tatort flohen, tatsächlich, wie von Wittke  behauptet, darauf hindeuten soll, daß die Gewalttäter trotz der von ihnen beobachteten Strafpraxis, auch bei Tötungsdelikten Geldstrafen zu verhängen, die Justiz fürchteten, erscheint indes zumindest zweifelhaft. Eher dürfte den Totschläger hier die Angst vor der Rache der Angehörigen des Opfers zur Flucht getrieben haben, um dann gegebenenfalls aus sicherer Entfernung Verhandlungen über etwaige Sühneleistungen führen zu können. Die eigentliche Schwäche der frühneuzeitlichen Justiz lag, wie die Verfasserin zutreffend feststellt und mit zahlreichen Quellenbelegen aus der Gerichtspraxis des Fürstbistums Münster nachweist, weniger in einer höheren Akzeptanz von Gewaltanwendung als im Bereich der Tataufklärung und der Täterverfolgung. So trugen eine nur rudimentär ausgebildete Gerichtsverwaltung, schlechte Ausbildung des Gerichtspersonals sowie Zuständigkeitsprobleme bei einem stark zersplitterten Rechtsraum und der Konkurrenz um den Besitz der Jurisdiktion, zu einer Erschwerung der Täterverfolgung bei. Ein übriges tat ein z. T. willkürlich geübtes Gnaden- bzw. Asylwesen, wie es sich nicht zuletzt auch in der großzügigen Asylpraxis von Coesfeld im Untersuchungszeitraum widerspiegelt, das der Aburteilung von Gewalttätern und der Strafvollstreckung enge Grenzen setzte. Im Bereich der Tataufklärung standen wie am Beispiel des adligen Gerichtsbezirks Füchtdorf gezeigt, im mittelalterlichen Denken verharrende Traditionen (z. B. weiterhin Anwendung der Bahrprobe in Totschlagsfällen) einem an rationalen Beweismethoden orientierten Strafverfahren entgegen. Insgesamt gibt die Untersuchung Wittkes ein eindrucksvolles Bild der Strafrechtspflege im Fürstbistum Münster an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, indem mit akribischer Quellenarbeit die Gemengelage zwischen Ansprüchen der Obrigkeit auf Durchsetzung ihrer Herrschaftsrechte, der Opfer auf Sühneleistungen und der Täter auf Berücksichtigung strafmildernder Umstände und Wiedereingliederung in die Gesellschaft dargestellt wird. Daß bei all diesen Schwierigkeiten dennoch in auffällig vielen  Fällen eine Aussöhnung zwischen Täter und Opfer bzw. dessen Hinterbliebenen erreicht wurde, spricht einmal mehr für die Leistungsfähigkeit einer Rechtspflege, die nur über geringe Mittel zur Taterhellung und zur Täterverfolgung verfügte. Dies Ergebnis dürfte über den engen Untersuchungsraum des Fürstbistums Münster auch auf andere frühneuzeitliche Territorien übertragbar sein, was der vorliegenden Untersuchung nicht nur für die engere Landesgeschichtsforschung sondern auch für die allgemeine Strafrechtsgeschichte der frühen Neuzeit nachhaltige Bedeutung gibt.

 

Osnabrück                                                                                                     Andreas Bauer