Weidenfeld, Katja, Les origines médiévales du contentieux administratif (XIVe-XVe siècles) (= Romanité et modernité du droit). De Boccard, Paris 2002. VII, 653 S.

 

Mit ihrer umfangreichen Thèse geht die Verfasserin gegen die immer noch auftretende Theorie vor, das Verwaltungsrecht sei eine erst in der jüngeren Geschichte geschaffene Form des Rechts. Sie tritt den Beweis an, dass die tieferen Wurzeln jedoch in der politischen, verwaltungsmäßigen Praxis und der Gerichtstätigkeit des Mittelalters liegen und dass das Verwaltungsrecht gerade dem kanonischen und dem römischen Privatrecht viel zu verdanken hat. Um ihre Behauptung zu stützen, schöpft sie aus einem reichhaltigen Quellenfundus, nämlich den Königsordonnanzen, den Gewohnheitsrechten, den städtischen Rechten, aber auch dem gelehrten Recht, insbesondere dem kanonischen und dem römischen Privatrecht, die im wesentlichen dazu beigetragen haben, das Bewusstsein zwischen öffentlichem und privatem Recht zu stärken. Katja Weidenfeld hat aber auch die Gerichtsarchive, insbesondere die der Parlements von Paris, Toulouse, Poitiers und dem Languedoc unter die Lupe genommen. Auf diese Weise wird deutlich, dass sich schon bald die Ansicht herausgebildet hat, dass das der Verwaltung eigene Recht im Unterschied zum Privatrecht eine eigene Rolle spielt. Als dies feststand, hat man nach und nach versucht, dieses besondere Verwaltungsrecht in entsprechendem Maße zu kontrollieren. Gerade wegen des besonderen Gewichts der Gemeinwohlinteressen ergab sich nicht nur eine bewusste Trennung von Privat- und öffentlichem Recht, sondern auch die Priorität des letztgenannten. Dies zeigt sich speziell an den Privilegien der öffentlichen Hand (puissance publique) etwa im Vertragswesen, wo einzelne Kommunen die einseitige Aufhebung bzw. Kündigung ihrer Verträge mit Privaten beanspruchten oder auch bei der Konfiskation von Eigentum zugunsten der öffentlichen Hand. Infolge dieser Unterordnung der Bürger unter die Verwaltungsordnung musste ein Gleichgewicht hergestellt werden, um die Vorrechte (prérogatives) der Verwaltung nicht zu sehr anwachsen zu lassen. Die Autorin weist nach, dass dieser sehr diffizile und langwierige Prozess der Definition des Umfangs und der Grenzen der Macht der Verwaltung gerade in den bei Gericht anhängigen Prozessen (bei den Parlements) entstand. Aufgabe dieser Parlements war es, die Macht der Verwaltung in die Schranken zu weisen.

 

Die Thèse Weidenfelds zeigt auch, wie infolge der Trennung von Privat- und Verwaltungsprozessen es auch zur Trennung des Haftungsbegriffes kam. Die Handlungen des öffentlich Tätigen mussten entweder dem Stadt (Amtshaftung) oder diesem selbst als Privatperson zugerechnet werden. In der Judikatur erkennt man die Austarierung dieses schwierigen Gleichgewichts sehr deutlich: die Parlements mussten sowohl die Amtshaftung und die anhängigen Prozesse eindämmen, hatten aber gleichzeitig dem Interesse des Bürgers und der Durchsetzung seiner Schadensersatzansprüche gerecht zu werden. So waren die Entschädigungsprozesse wegen Enteignung ein essentielles „Übungsfeld“ für die Parlements, um der Verwaltung ein gewisses Regelwerk an die Hand zu geben.

 

Katja Weidenfeld baut ihre Arbeit in drei Großkapitel auf, die die Überschriften „beschützen“ (protéger), „verbinden“ (associer) und „richten“ (juger) tragen. Ausgehend von der Tatsache, dass sich die Verwaltung sehr oft der Handlungsformen der Gerichtsbarkeit bediente, ist jedoch ersichtlich, dass sie selbst kraft ihrer Präsenz und täglichen Arbeit eigene Handlungsformen bildete. Dies stellt die Arbeit sehr eingehend anhand der Kontrolle der Städte und der Überwachung des „öffentlichen Dienstes“ (service public) dar. Als Beispiele für den öffentlichen Dienst wählt die Verfasserin die Hospitäler, das Unterrichtswesen und den Bereich der öffentlichen Sachen. Wie dann Privatpersonen am Verwaltungshandeln teilnehmen konnten, erklärt sie im zweiten Teil anhand der Vertragsgestaltung zwischen Privatpersonen und Verwaltung sowie an der Herausbildung des Haftungsbegriffs und des Verschuldens der öffentlichrechtlich Handelnden. In diesem Kontext kann sie aufzeigen, dass der verschuldensabhängige bzw. verschuldensunabhängige Haftungsbegriff eine lange Tradition aufweist. Von großem Interesse ist auch der Teil über die richterliche Tätigkeit, denn hier stellt die Arbeit alle Rechtsmittel, wie den Widerspruch, die Verwaltungsklage und die Berufungsinstanz dar. Allerdings gelingt es ihr m. E. nicht, die exakten Kompetenzen der Spezialgerichtsbarkeiten herauszuarbeiten, wie etwa der Chambre des comptes (Rechnungshof), der Cour du Trésor und der Cour des aides. Mitunter wird dem Leser an einigen Stellen auch der Zusammenhang von Behauptung und Beleg nicht deutlich, so etwa wenn sie von der Anwendung des römischen Rechts spricht, das davor schützen sollte, den Prozess per rescriptum principis zu entscheiden. Da sie nur den Prozess über das Amt des Konservators der Universität von Poitiers vom 30. Januar 1489 zitiert, wird dort der Bezug nicht deutlich. Der kritische Leser wird auch anmerken müssen, dass die Lesbarkeit des Gesamtwerkes wegen des gewaltigen Fußnotenapparates manchmal erschwert wird.

 

Doch verhehlen diese leichtesten Mängel nicht das authentische Gewicht der Thèse, die die wirklich mittelalterlichen Wurzeln des Verwaltungsrechts eindrucksvoll beweist. Gleichwohl verschweigt sie nicht, dass trotz der stark vertretenen Prozessführung und der damit verbundenen Rechtsfindung es zu keiner im heutigen Sinne systematischen Verwaltungsrechtsordnung kam. Die Rezeption des gelehrten Rechts lieferte nur die Vorlage, während die gefundenen praktischen Lösungen auch jeweils für den Einzelfall das Verwaltungsrecht in concreto ausgestalteten. Die gefundenen Ergebnisse sind lediglich auf Frankreich anwendbar, zur Rechtsvergleichung mit Deutschland oder England trägt die Arbeit nichts bei.

 

Noch erwähnenswert bleibt, dass dank der aktiven Teilnahme der Parlement-Rechtsprechung, es der König schaffte, an den Universitäten des 15. Jahrhunderts Reformen durchzuführen und die altehrwürdige Universitätsautonomie zu durchbrechen, um die Universitäten in seinem Sinne gefügig zu machen. Dies gab den Universitäten wie Paris, Orléans, Toulouse oder Poitiers die Möglichkeit, ihr eigenes Universitätsrecht anhand der Konflikte auszubilden. Für Poitiers hatte bereits Robert Favreau herausgearbeitet, dass das Parlement von Poitiers dergestalt die Universitätsreform im 15. Jahrhundert einläutete, dass die Richter gegen die zu hoch bemessenen Studiengebühren urteilten (vgl. La ville de Poitiers à la fin du Moyen Age. Une capitale régionale, Poitiers 1978, Band 2, S. 476 sowie E. Audouin, Recueil de documents concernant la commune et la ville de Poitiers, Poitiers 1923-1928). Darüber hinaus setzten sie der zu schnellen Beförderung bei den Universitätsgraden enge Grenzen und ordneten die Residenzpflicht der Universitätsangehörigen an (S. 148). Dies zeigt nicht nur eine verblüffende Ähnlichkeit der heutigen (!) Probleme der Universitäten mit denjenigen von vor 600 Jahren, sondern untermauert auch die These Weidenfelds, dass das allgemeine wie das besondere Verwaltungsrecht seine Wurzeln im 14. und 15. Jahrhundert gezogen hat und dass viele moderne Verwaltungsrechtstheorien bereits im Spätmittelalter ihren Ursprung fanden.

 

Saarbrücken                                                                                                  Thomas Gergen