Töpfer,
Bernhard, Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und
Staatstheorie (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters 45). Hiersemann,
Stuttgart 1999. VIII, 642 S.
Die Frage nach dem „Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatstheorie“ wird vom Verfasser in zwölf Kapiteln behandelt, die von der Antike bis zum Ausgang des 14. Jahrhunderts reichen. Zwei Kapitel („Antike und frühchristliche Muster“: S. 5-57; „Von der Spätantike zum frühen Mittelalter: Augustinus, Papst Gregor I. und Isidor von Sevilla“: S. 59-92) befassen sich mit den Wurzeln des christlichen Menschen- und Gesellschaftsbildes, das zwar klare Ansätze zum gesellschaftlichen Umsturz aufwies, bevorzugt aber in gemäßigter Weise tradiert wurde. Eine Ausnahme von diesem Trend bildete der Kirchenlehrer Gregor von Nyssa, der (ebenso wie nach ihm Eike von Repgow, Duns Scotus und John Ball, vgl. S. 571) die Sklaverei als unvereinbar mit der Gleichheit des Menschen ablehnte. Andere Autoren verbanden zwar die Lehre vom Goldenen Zeitalter, in dem es kein Eigentum und keine Unfreiheit gebe, mit einzelnen kritischen Überlegungen in Hinsicht auf den Naturzustand der Gegenwart. Die Mehrzahl von ihnen zog jedoch aus der Lehre vom Sündenfall den Schluss, dass die Sklaverei (bzw. später die Leibeigenschaft) und die ungleiche Eigentumsverteilung erhalten bleiben dürften. Die Reichen und Mächtigen wurden allerdings immer wieder an die soziale Bindung des Eigentums, und damit an ihre Verpflichtung zur Armenfürsorge im weitesten Sinne des Wortes, erinnert. „Die Zeit der Karolinger und früher kirchlicher Reformbestrebungen“ betrachtet der Verfasser daher unter dem Motto „Der gleiche Ursprung aller Menschen als Mahnung an die Mächtigen“ (S. 93-121).
Mit der im 11. Jahrhundert einsetzenden gregorianischen Kirchenreform, die der Verfasser unter dem Titel „Wandel in den Vorstellungen vom Ursprung der weltlichen Gewalt während der Zeit des Investiturstreits“ (S. 123-150) vorstellt, verschob sich auf päpstlicher Seite der Betrachtungsschwerpunkt. Die staatliche Ordnung wurde zwar weiterhin anerkannt, aber wegen ungerechter Amtsanmaßung häufig als ungerecht bewertet. „Die Systematisierung naturrechtlicher Vorstellungen in der Legistik und Kanonistik des 12./13. Jahrhunderts“ (S. 151-185) habe dann eher die Entfaltung vorhandener Ansätze auf theoretische Ebene als ihre Umsetzung in die gesellschaftliche Praxis gebracht. Die Gleichheit der Menschen ließ immerhin in der Legistik die Vorstellung von der Verletzung der ursprünglich vorhandenen Freiheit (detectio libertatis) durch die nach dem Sündenfall eintretende Sklaverei aufkommen. Die gemeinsame Nutzung aller Güter im Paradies wurde demgegenüber vor allem in der Kanonistik thematisiert. Ursache hierfür war die zeitgenössische Armuts-, Ketzer- und Mönchsbewegung, die von der Kirche den Eigentumsverzicht erwartete.
Die Beschäftigung mit dem „Naturrecht, [dem] Status Innocentiae und [dem] Sündenfall in der Scholastik des 12./13. Jahrhunderts“ (S. 187-260) hinterlässt beim Verfasser den Eindruck, dass theologische Erörterungen von Paradies und Sündenfall in dieser Epoche gegenüber konkreten Erwägungen ihrer gesellschaftlichen Implikationen überwogen hätten. Die Ansätze zu einer Konsenstheorie bei Duns Scotus, wenn es um die Eigentumsverteilung, die Einführung staatlicher Gewalt bzw. das Bestehen von Sklaverei nach dem Sündenfall geht (S. 253-257), zeigten allerdings, dass einzelne Denker auch über den allgemein anerkannten Rahmen hinausgehen konnten. „Das Aufkommen von Adel, Königsmacht und Eigentum in belehrendem Schrifttum für Laien“ (S. 291-352) hat für den Autor seine tiefere Ursache im Entstehen des Bürgertums. Die adlige Ethik setzte dieser Herausforderung den Begriff des Tugendadels entgegen, aus dem sich entweder eine vorbehaltlose Bejahung der bestehenden Zustände oder eine Verneinung des Geburtsadels ableiten ließ. In den meisten Fällen wurden die Reichen und Mächtigen allerdings nur an ihre Verpflichtung zur Nächstenliebe erinnert, während Arme und Schwache ihnen gegenüber Gehorsam zeigen sollten. „Das Problem der Staatsentstehung“ stand für den Verfasser „im Widerstreit“, weil „die hierokratische Theorie“ seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts auf „Tendenzen der Säkularisierung“ stieß (S. 353-415). Die kuriale Fassung der Zwei-Schwerter-Theorie, die Ursprünge in der Juristenschule von Bologna besaß, gestand der geistlichen Gewalt auf Grund der Höherwertigkeit des Seelenheils gegenüber dem irdischen Glück den Vorrang vor der weltlichen Gewalt zu. Dieser Standpunkt fand zwar auch bei den antipäpstlichen Autoren Zustimmung. Diese betonten jedoch darüber hinaus den friedenserhaltenden und das Gemeinwohl fördernden Charakter, der der staatlichen Ordnung auch nach dem Sündenfall zukomme. Die aristotelische Annahme, dass der Mensch ein politisches Lebewesen sei, verlieh der staatlichen Ordnung dann sogar einen eigenen Wert.
Unter dem Titel „Der Status Innocentiae im Streit um das franziskanische Armutsideal“ betrachtet der Verfasser „die Ursprünge der staatlichen Ordnung bei Wilhelm von Ockham und in weiteren Schriften des 14. Jahrhunderts“ (S. 417-495). Er legt dabei abweichend von der Mehrheit der Forschung nicht nur den Akzent auf die Ableitung des Privateigentums aus dem Naturzustand durch Johannes XXII., sondern hebt vielmehr auch das an Aristoteles orientierte Zugeständnis des Privateigentums im Diesseits durch Wilhelm von Ockham hervor. Unter der Frage, ob „der Status Innocentiae als Norm für die Kirche“ zu betrachten sei, untersucht er sodann „die Entwicklung frühreformatorischer Vorstellungen durch John Wyclif“ (S. 497-527). Töpfer lässt nämlich den Herrscher bei Wyclif ähnlich wie bei Richard FitzRalph direkt durch Gott begnadet sein. Ein König, der gerecht regierte, sich durch verlässliche Theologen beraten ließ und die göttlichen Gesetze achtete, konnte demzufolge davon ausgehen, dass auch seine Herrschaft gerechtfertigt sei. Während Wyclif die bestehende Eigentums- und Sozialordnung bejahte, unterzog er die Kirche einer grundsätzlichen Kritik. „Die Berufung auf den ursprünglichen Zustand als Faktor der Radikalisierung gesellschaftskritischer Anschauungen im 14. Jahrhundert“ (S. 529-566), - unter diesem Motto steht das letzte Kapitel der vorgelegten Untersuchung. Der Verfasser sieht im 14. Jahrhundert eine Epoche, in der sich die Kritik an der Kirche zugespitzt habe und auch die Infragestellung der weltlichen Ständeordnung in eine neue Phase getreten sei. Die englische Volkserhebung von 1381 sowie die Taboriten- und Hussitenbewegung der Jahre 1419-1421 zeigten eine deutliche Radikalisierung der aufgestellten Forderungen an, die weder vor einer Aufhebung der bestehenden Ständeordnung noch vor der Beseitigung des Adels zurückschreckten.
Das Alterswerk eines Gelehrten einzuschätzen, der zur Generation der eigenen akademischen Lehrer gehört, ist kein leichtes Unterfangen. Die Untersuchung Bernd Töpfers gehört forschungsgeschichtlich zu einer kleinen Anzahl geistesgeschichtlicher Untersuchungen aus den fünfziger und frühen sechziger Jahren, von der die Mediävistik bis heute profitiert. Auch im Falle der vorgelegten Monographie steht der Leser vor einem Grundlagenwerk, das auf einer gründlich durchdachten methodischen Herangehensweise, einem souveränen Umgang mit den Quellen und einer scharfsinnigen Analyse beruht. Diese Analyse kann, so muss einschränkend gesagt werden, ihre ursprüngliche Verortung in der marxistischen Betrachtungsweise allerdings nicht ganz verleugnen. So bleiben etwa das Modell von einer Klasse, die den Gesellschaftszustand einer Zeit umzuprägen beginnt (hier das Bürgertum im 12./13. Jahrhundert), oder die Vorstellung von Vordenkern, die in einer Epoche den gesellschaftlichen Umsturz fördern (hier des Niederklerus im 14. Jahrhundert), genauso erhalten wie eine eher reservierte Einstellung gegenüber der katholischen Kirche. Das revolutionäre Potential der kirchlichen Armutsauffassung wird vom Verfasser allein bei den Bettelorden und den Ketzern angesiedelt. Die Erkenntnisfortschritte, die er seit der Mitte der sechziger Jahre gemacht hat, schlagen sich nicht nur in der umfassenden Kenntnis der Forschungsliteratur, sondern auch in einer Abmilderung einzelner Elemente seines klassenkämpferischen Geschichtsbildes nieder. Die sprachliche Darstellung ist einfach und klar, der Satzbau bedarf keiner rhetorischen Attitüde. Der Wert der vorgelegten Untersuchung ist mindestens ein dreifacher: zum einen handelt es sich um eine Art von Handbuch, das neben den gedruckten auch schwer zugängliche, zuweilen sogar ungedruckte Quellen erschließt; zum anderen erwächst er aus einer tragfähigen Fragestellung, welche bei einem gesellschaftlichen Grundproblem (nämlich der Gleichheit und Ungleichheit der Menschen bzw. des Eigentums) ansetzt; zum dritten beruht er auf der gedanklichen Klarheit, die wohl nur eine Darstellung auszeichnet, die auf der lebenslangen Beschäftigung mit einer Fragestellung beruht.
Hamburg Marie-Luise Heckmann