Strafjustiz und
DDR-Unrecht. Dokumentation, hg. v. Marxen, Klaus/Werle, Gerhard, Band
2/1, 2/2 Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, unter Mitarbeit v. Rummler,
Toralf/Schäfter, Petra. De Gruyter, Berlin 2002. LII, 1-496 S., VIII,
602-1096 S.
Strafjustiz und
DDR-Unrecht. Dokumentation, hg. v. Marxen, Klaus/Werle, Gerhard, Band 3
Amtsmissbrauch und Korruption, unter Mitarbeit v. Fahnenschmidt,
Willi/Schäfter, Petra. De Gruyter, Berlin 2002. XLVI, 547 S.
Nach dem ersten Band der
Dokumentation, der das Thema „Wahlfälschung“ zum Gegenstand hat[1],
legen die Herausgeber nun zwei weitere Bände, darunter einen Doppelband, zu den
Themen „Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze“ und „Amtsmißbrauch und
Korruption“ vor. Im Rahmen der Aufarbeitung der Regierungskriminalität der
Deutschen Demokratischen Republik stieß naturgemäß die Verfolgung der
Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze auf die größte Zustimmung.
Vielleicht war dies auch der Grund dafür, daß der Aufwand zur juristischen
Rechtfertigung dieser Verfolgung am geringsten war. Immerhin warf ja das
verletzte Recht bzw. Rechtsgut – anders als beispielsweise bei der
Wahlfälschung – keine Probleme auf. Leben steht in jeder Strafrechtsordnung an
der Spitze der Wertehierarchie. Juristisch umstritten war daher auch nicht die
Tatbestandserfüllung – jedenfalls nicht diejenige durch die unmittelbar handelnden
Grenzsoldaten –, sondern die Rechtswidrigkeit, denn das positive DDR-Recht
deckte – jedenfalls in seiner praktischen Handhabung – die meisten Handlungen
des Grenzregimes ab; hinzu kam, daß das Vorgehen gegen „illegalen
Grenzübertritt“ (einschließlich etwaigen Schußwaffengebrauchs) als solches zur
Praxis nahezu aller Staaten der Welt gehört; das Problem lag also im Ausmaß und
in der Intensität der Taten. Wo nicht schlankweg auf Naturrecht zurückgegriffen
wurde, griff man auf die sog. Radbruch’sche Formel (S. XXXIX) zurück, die
positives Recht dann gegenüber der Gerechtigkeit zurücktreten läßt, wenn „der
Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß
erreicht, daß das das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu
weichen hat“ – eine recht vage, wohl auch zirkuläre Formel, von der – wie
gelegentlich bemerkt worden ist – nicht einmal sicher ist, ob ihr Schöpfer, der
mit ihr die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus verfolgbar machen
wollte, sie auf die Taten an der deutsch-deutschen Grenze angewendet hätte. Daß
sie für diese Fälle herangezogen worden ist, hat wohl auch damit zu tun, daß am
Ende des 20. Jahrhunderts die Sensibilität gegenüber „staatsverstärkter
Kriminalität“ (Naucke) generell gewachsen ist. Methodisch interessanter waren
die Versuche einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung des positiven
DDR-Rechts selber (ebd.) – eine Methode, die z. B. auch vom Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte praktiziert wurde. Diese Methode, das Handeln
der das positive Recht beherrschenden DDR-Machthaber an den von ihnen selbst
erlassenen Normen zu messen, bedürfte dringend einer vertieften
rechtsphilosophischen und rechtsmethodologischen Diskussion. Erweist es sich
als tragfähig, wäre damit vielleicht ein Weg aus manchem rechtlichen Dilemma
gewiesen; und dafür, daß es tragfähig ist, spricht manches; kann man es doch
auf das aus dem Grundsatz von Treu und Glauben fließenden venire contra factum proprium zurückführen. Gleichzeitig gibt man
das Dilemma positives Recht/Naturrecht an die Staatskriminellen zurück: Wer
sich die Vorteile der rechtlichen Positivierung seiner Machtsprüche zunutze
macht, soll sich auch an den von ihm selbst gesetzten Normen festhalten lassen.
Anders als noch bei der
Strafverfolgung von NS-Tätern wurden – abgesehen von den Fällen des (von der
Rechtsprechung regelmäßig verneinten) Befehlsnotstandes – die unmittelbar
handelnden Grenzsoldaten als Täter verurteilt; dies führte mit gewisser
Zwangsläufigkeit dazu, daß die bisher umstrittene Figur des „Täters hinter dem
Täter“ herangezogen werden mußte, um die Anfangs- und Mittelglieder der Befehlskette
als mittelbare Täter erfassen zu können (S. XLIV), soweit sie nicht als
Anstifter angesehen wurden (S. XLV).
Die Dokumentation
unterscheidet Sachverhaltsgruppen und Tätergruppen. Die Sachverhalte reichen
vom „Standardfall“ der Tötung republikflüchtiger DDR-Bürger über die Tötung von
Fahnenflüchtigen, die Tötung von Bundesbürgern und Ausländern, welche die
Grenze in umgekehrter Richtung überqueren wollten, die „Exzeßfälle“ (z.B.
Tötung bereits festgenommener Personen) und die Tötung durch Minen und
Selbstschußanlagen bis hin zur Tötung auf dem Gebiet der Bundesrepublik und
Westberlins (S. XXXIII f.), die Tätergruppen umfassen die unmmittelbar
handelnden Grenzsoldaten, die mittleren Glieder der Befehlskette sowie die
Angehörigen der politisch-administrativen Führungsebene (S. XXXIV f.). Von 395
bis Ende 2002 abgeurteilten Personen wurden 331 verurteilt, allerdings nur 29
zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung (S. XXXVII).
Stieß die Verfolgung der
„Mauerschützen“ im Osten wie im Westen auf besonderes Interesse, so traf die
Thematik des dritten Bandes der Dokumentation (Amtsmißbrauch und Korruption)
besonders im Bereich der neuen Bundesländer – noch während der demokratischen
Schlußphase der DDR – auf besondere Aufmerksamkeit. Manches mochte den DDR-Bürgern
über das Leben der Prominenz in „Wandlitz“ und über deren Selbstbereicherung
bekannt gewesen sein; wer aber zur Zeit der Wende die Presseberichte verfolgt
hat, wird sich daran erinnern, wie die detaillierten Berichte über das private
Leben der führenden Personen das Gefühl der DDR-Bevölkerung bestärkten, nicht
nur unterdrückt, sondern auch noch ausgebeutet worden zu sein – im Westen
stießen die Berichte über die kleinbürgerlich-miefigen Lifestile-Ideale der
DDR-Prominenz eher auf Amüsement. Die Dokumentation zeigt, daß der nach
DDR-Maßstäben luxuriöse Lebensstil (S. XXIXf.) als solcher sich als
strafrechtlich kaum faßbar erwies (S. XXX, 289ff.), daß aber der Komplex
„Amtsmißbrauch und Korruption“ eine Reihe weiterer Komplexe umfaßt: die
Besorgung von Wohnraum zu bevorzugten Konditionen, die Gestaltung und
Ausstattung von Jagdgebieten und Privilegien sonstiger Art (Transaktionen des
Bereiches „Kommerzielle Koordinierung“; dotierte Ehrenmitgliedschaften) für die
hohen Funktionäre (S. XXXIff.). Der Stellenwert, den die DDR-Bevölkerung dem
Komplex beimaß, dürfte einer der Gründe dafür sein, daß dessen strafrechtliche
Aufarbeitung bereits in der Endphase der DDR sehr intensiv betrieben wurde und
daß „im Vergleich mit den Ergebnissen der Strafverfolgung in anderen Bereichen
des DDR-Unrechts [...] eine relativ niedrige Freispruchquote sowie eine relativ
hohe Verurteilungsquote auf[fällt] (S. XXXVIII). Bei der Aburteilung, die nach
dem mildesten Gesetz zu erfolgen hatte, war eine nicht ganz einfache
Normen-Gemengelage von bundesdeutschem Strafgesetzbuch, Strafgesetzbuch der DDR
und dem 5. und 6. Strafrechtsänderungsgesetz der DDR zu entflechten (S. XLf.),
wobei die Fortgeltungsregelung des zuletzt genannten Gesetzes einige
verfassungsrechtliche Zweifel aufwarf (S. XLIIf.).
Dokumentieren die Bände
über Wahlfälschung und über Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze
rechtlich und politisch relevante Komplexe, so bietet der Band über
Amtsmißbrauch und Korruption – bei aller Skepsis gegenüber den Möglichkeiten
von Strafurteilen als historischen Quellen – eine wichtige Materialsammlung zur
Herrschaftssoziologie der DDR, vielleicht sogar ein kleines Stück
Anthropologie: Herrschaft und Besitzstreben scheinen eine zeitlose Neigung zur
Mesalliance zu besitzen, und die für die SED-Oberen gehegten Jagdgründe
scheinen ewige zu sein – dienten sie doch bereits Reichsjagdmeister Hermann
Göring als Revier.
Es bleibt zu wiederholen,
daß die Dokumentation, der zu wünschen ist, daß der Editionsplan zu Ende
geführt werden kann, ein nützliches Instrument für die juristische
Zeitgeschichte bildet. Zwar macht die Regierungskriminalität nur einen
Teilbereich des rechtshistorischen Erkenntnisinteresses an der DDR aus, aber
doch einen vorrangig wichtigen. Wie schon beim ersten Band wird auch bei den
beiden hier vorgestellten
Dokumentationsbänden der Nutzen durch ausführliche Register sowie durch
Auswahlbibliographien erhöht.
Hagen/Westfalen Thomas Vormbaum