Schreiner, Julia, Jenseits vom Glück. Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts (= Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 34). Oldenbourg, München 2003. 323 S.

 

Émile Durkheims Studie über den Selbstmord (1897) ist in den Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts, auch in der Geschichtswissenschaft, eine beispiellose Erfolgsgeschichte beschieden worden, eine Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält, wie Vera Linds 1999 erschienene Dissertation Selbstmord in der Frühen Neuzeit (Göttingen 1999) zeigt. Julia Schreiner will andere Wege beschreiten. Keine Sozialgeschichte des Selbstmords will sie schreiben, sondern eine Kulturgeschichte. Der Selbstmörder interessiert sie nicht, sie beschäftigt sich allein mit den Texten bzw. Diskursen über ihn. Die Wahl ist legitim. Die Diskurse indessen stehen nicht für sich selbst; vor dem Hintergrund „ausgeweiteter Publizität“ bzw. der oft beschworenen Medienrevolution des 18. Jahrhunderts, sind sie eingebettet in umfassendere Prozesse, die Schreiner unter den Begriffen ,Medikalisierung’ und ,Individualisierung’ zusammenfasst. Einen methodisch ähnlichen Weg haben 1990 schon Michael MacDonald und Terence Murphy (Sleepless Souls, Oxford 1990) eingeschlagen, wenngleich sie teilweise zu anderen Ergebnissen gelangten. Entmoralisierung ist die Bilanz, die sie aus den gelehrten Debatten ziehen, die im 18. Jahrhundert in der angelsächsischen Welt geführt wurden. Die Pathologisierung des Selbstmordes ist zweifellos älter, als es die Autorin vermutet. Die Zeit vor dem 18. Jahrhundert erscheint in ihrer Arbeit indessen durchgängig als profillose Hintergrundsfolie, die das 18. Jahrhundert heller erstrahlen lässt. Wie dem auch sei, klar und überzeugend legt sie jedoch dar, wie die Idee, Selbstmörder seien „krank“, im 18. Jahrhundert ihren Siegeszug antritt, einen Siegeszug, den sie, auch dies leuchtet ein, primär der Explosion des wissenschaftlichen und halbwissenschaftlichen Zeitschriftenwesens verdanke. Der Einstieg in die Materie wird einem aber schwer gemacht: Die ersten dreißig Seiten sollten der Standortbestimmung dienen; das aber misslingt. Eilends überflogen werden Vorgängerstudien, wie die Studie des Autorenduos MacDonald und Murphy. Darauf folgen Bekenntnisse zur Diskursanalyse (im Foucaultschen Sinne) sowie zur Kultur- und zur Mediengeschichte. Nicht alles, was hier diskutiert wird, passt zusammen und wird auch dem nicht gerecht, was die Autorin im Analyseteil so überzeugend präsentiert, eben den Siegeszug der Pathologisierung. Den Analyseteil beginnt Schreiner mit der Obduktion einer Selbstmörderleiche bzw. mit der Vorstellung, jede krankhafte Abweichung müsse körperliche, sichtbare Spuren hinterlassen (31-55). Der Sehsinn, nebenbei bemerkt, war schon immer der erhabenste aller Sinne. Das Verhältnis zwischen Leib und Seele sei im 18. Jahrhundert keineswegs und allgemeingültig geklärt (55-79). Phatologisierung entschulde den einzelnen aber nicht, wie sie am Beispiel der breit rezipierten Diäten darlegt. Danach befasst sie sich mit dem Thema ,Medikalisierung’, dem Vordringen von medizinischen Ratgebern und Fachzeitschriften, die sich auch an den Laien wandten (79-103). Die Idee der Pathologisierung, Gegenstand des zweiten Buchteiles, durchdringt die zeitgenössische Theologie (121-144) genauso wie die Rechtswissenschaften (144-165). Symptomatisch dafür seien die Antworten auf die 1784 von der theologischen Fakultät Göttingen ausgeschriebene Preisfrage: „Ist der Selbstmord nach den Grundsätzen der christlichen Religion rechtmäßig oder unrechtmäßig?“ Offenkundig war nicht mehr klar, wie der Selbstmord zu bewerten sei. Die Zeit suchte nach neuen Vorschlägen. Die akademischen, in Latein verfassten Antwortschreiben seien eher konventionell, auch die Antwort des preisgekrönten Theologen Gottfried Groddeck. Anders verhalte es sich beim Accesit des Georg Wilhelm Block, der 1792 in deutscher Sprache erschien. Die Grenzen zwischen medizinischem und theologischem Diskurs verwischten sich zunehmend. Ähnlich präsentiert sich die Lage bei den Rechtsgelehrten. Die Widerstände „im Volk“ seien aber, was etwa die Bestattung von Selbstmördern anbelangt, sehr groß gewesen, ein altes Problem, wie sich der Frühneuzeitforschung entnehmen lässt. Schreiner aber zitiert allein das Handwörterbuch zum deutschen Aberglauben. Zur sozialen Frage, so ein weiterer wichtiger Befund, erklärte den Suizid eindeutig erst das 19. Jahrhundert (178). „Zur Verhinderung von Suiziden setzte man weniger auf eine soziale, als auf eine moralische Verbesserung der Gesellschaft, nicht die materielle Versorgung, sondern Erziehung und ,Aufklärung’ stand im Vordergrund.“ An Stelle von Armut debattierte man (weiterhin) lieber über die Folgen des Luxus. Im dritten und letzten Teil des Buches vertieft die Autorin die Zusammenhänge zwischen Suizid, Lesewut, Liebe und Individualisierung. Das letzte Kapitel widmet sie dem Wertherfieber (265-278), anscheinend ein Muss für jeden Autor, der sich mit dem Thema Suizid im 18. Jahrhundert beschäftigt. Neue Erkenntnisse vermag sie hier indessen nicht zu präsentieren. Umso interessanter fallen ihre Bemerkungen zur Melancholiediskussion in Literatur und Forschung aus (188-196). Gemeint ist der in der Forschung häufig gewählte Rekurs auf das sich formierende Bürgertum.

 

Münster                                                                                                         Gabriela Signori