Schalenberg, Marc, Humboldt auf Reisen? Die Rezeption
des „deutschen Universitätsmodells“ in den französischen und britischen
Reformdiskursen (1810-1870) (= Veröffentlichungen der Gesellschaft für
Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 4). Schwabe, Basel 2002. 520 S.
Das Buch
ist die leicht überarbeitete und ergänzte Fassung einer philosophischen
Dissertation, die im September 1999 an der Humboldt-Universität zu Berlin
verteidigt wurde. Anliegen des Verfassers ist es, „den seit dem ausgehenden 19.
Jahrhundert behaupteten und seither oft unbesehen postulierten ,internationalen
Einfluß’ der meist an den Namen Humboldts gekoppelten deutschen Universitäten
im 19. Jahrhundert zu spezifizieren bzw. von der Seite der ... ,Beeinflussten’
her kritisch zu hinterfragen“ (S. 30). Er tut dies am Beispiel französischer,
vornehmlich Pariser Hochschulen, einerseits und der Universität Oxford,
stellvertretend für das britische Hochschulwesen, andererseits. Im Ergebnis
gelangt er, worauf schon das Fragezeichen im Titel hindeuten soll, zu einem
„weitgehend negative(n) Befund“ (S. 331): Weder spielte Wilhelm von Humboldt im
europäischen Maßstab eine nennenswerte Rolle als Identifikationsfigur eines
deutschen Universitätsmodells noch konnte von einer „wie auch immer geartete(n)
Rezeption deutscher Muster“ die Rede sein (S. 370). Unter diesen Umständen
reduziert sich der Gehalt der Studie auf einen - wenngleich überaus
informativen - Zustands- und Stimmungsbericht über ausgewählte Hochschuleinrichtungen
der beiden Länder.
Grundlage
der Untersuchung bilden außer diversen Archivalien, darunter der französischen
Archives Nationales und des britischen Public Records Office, vor allem
gedruckte Quellen (amtliches Schrifttum, Memoiren, Reiseberichte, Briefwechsel
und Zeitschriften) sowie zeitgenössische, neuere und neueste, vorrangig
universitäts- und wissenschaftsgeschichtliche Literatur. Das im Anhang
abgedruckte Verzeichnis der Quellen und Literatur umfaßt 128 (!) Seiten und
belegt damit das Streben des Verfassers nach „einiger Breite“ (S. 24), die
freilich auch dort Platz greift, wo Beschränkung angebracht gewesen wäre. Das
gilt z. B. für die beiläufige Behandlung des deutsch-französischen und
deutsch-britischen „Kulturtransfers“, die ohnehin nur in Ansätzen gelingt und
für die Bewältigung des thematischen Anliegens ebenso entbehrlich scheint wie
die Darstellung der Öffentlichkeits- und Medienstruktur beider Länder. Für
seine Behauptung, daß durch Salons, Clubs und Zeitschriften das Urteil über
deutsche Universitäten multipliziert werden konnte (S. 180), ist Schalenberg
ohnehin auf Vermutungen angewiesen.
Die Arbeit
ist in 5 Kapitel gegliedert, von denen zwei Einleitungscharakter tragen:
Während Kap. I (S. 15ff.) in Thema, Forschungsstand, Methodik und Quellen
einführt, behandelt Kap. II (S. 51ff.) in gebotener Kürze Entstehung, Gehalt
und Bedeutung des mit dem Namen Humboldts verbundenen „deutschen
Universitätsmodells“. Den Hauptteil der Arbeit bilden die Kapitel III („Die französischen
Hochschulen“, S. 77ff.) und IV („Die britischen Hochschulen“, S. 195ff.). Ein
abschließendes V. Kapitel (S. 329ff.) faßt die Ergebnisse und Tendenzen der
„Reformdiskurse“ zusammen. Der Zeitrahmen der Studie wird durch das
Gründungsjahr der Berliner Universität und die etwa zeitgleich erfolgte
Gründung der „Université Impérial“ Napoleons einerseits und durch das Jahr 1870
andererseits, letzteres freilich unter universitätsgeschichtlich unscharfen
Kriterien, begrenzt, während für England vergleichbare symbolträchtige Daten
und Ereignisse fehlen. Man wird Schalenberg zustimmen können, daß innerhalb der
von ihm gewählten „chronologischen Klammer“ eine „Zeit (lag), in der die
europäischen Universitäten um eine neue organisatorische wie ideelle Gestalt
rangen“ (S. 47).
An diese
Prämisse knüpft Schalenberg die zentrale Fragestellung seiner Arbeit, nämlich
die Frage danach, „was die deutschen Universitäten in den genannten Ländern
attraktiv machte, was konkret in ihnen gesehen wurde und wofür sie in Anspruch
genommen wurden“ (S. 19 f.). Das hier eingeschlossene, vorweggenommene
Werturteil „attraktiv“ findet freilich in den Untersuchungsergebnissen keine
durchgängige Bestätigung. Vielmehr bewegten sich die Urteile französischer und
britischer Zeitgenossen über die deutschen Universitäten zwischen allgemeiner
Anerkennung, ja Bewunderung („Ce sont les universités qui ont fondé la grandeur
scientifique de l’Allemagne ...“, S. 169) und mehr oder weniger offener
Ablehnung („We know the nature of the German universities, and we have no wish
to be like them“, S. 238). In geradezu bewunderungswürdiger Breite und Vielfalt
läßt Schalenberg Politiker, Beamte, Akademiker, Publizisten, Geistliche,
Schriftsteller und Emigranten mit ihren Ansichten über deutsche Universitäten
zu Wort kommen, in denen die auf unterschiedlichsten Wegen, u. a. durch Reisen,
akademischen Austausch, Briefwechsel und Literatur, erworbenen Eindrücke von
Deutschland und seinem Hochschulwesen reflektiert werden. Dies geschieht vor
dem Hintergrund der als reformbedürftig erkannten Universitätslandschaft beider
Länder und unter Berücksichtigung der Reformbestrebungen, die sich in
Frankreich gegen die streng zentralistische Ausrichtung der Hochschulen, in
England vor allem gegen die beherrschende Stellung der anglikanischen Kirche
richteten.
Das Bild,
das im Ergebnis der „Reformdiskurse“ entsteht, ist - auf Schalenbergs Anliegen
bezogen - überaus zwiespältig. Zwar galt, nicht zuletzt unter dem Eindruck
herausragender wissenschaftlicher Leistungen deutscher Gelehrter und der
Überlegenheit deutscher Wissenschaft überhaupt, einzelnen Elementen des
deutschen Universitätssystems durchaus das Interesse des Auslands. Das Für und
Wider absichtsloser, zweckfreier Forschung, der Freiheit des Lehrens und
Lernens und der Sinn „faustischen Erkenntnisstrebens“ wurden ebenso erörtert
wie die Rolle des Staates in Bezug auf die Universitäten, deren religiöse
Indifferenz oder das Institut der Privatdozentur. Ganz anders stand es dagegen
mit der Bereitschaft zur Übernahme auch nur von Teilelementen des deutschen
Universitätsmodells, das in den Reformdebatten, z. B. in Oxford um 1850,
allenfalls selektiv zur „Legitimation konkreter Veränderungswünsche“ (S. 249)
eingesetzt wurde. Auch in Frankreich dominierte letztlich die „Unwilligkeit,
konkrete institutionelle Maßnahmen nach einem etwaigen deutschen Modell
vorzunehmen“ (S. 137). Schalenberg macht dafür die in Paris wie in Oxford
gleichermaßen „wirksamen institutionellen Trägheitsgesetze“ verantwortlich (S.
176, 268), was, wenn man das Beharrungsvermögen akademischer Traditionen denn
so nennen will, gerade bei zwei der ältesten europäischen Universitäten kaum
überrascht. Zudem drehten sich die Reformdebatten in Oxford „um speziell aus
der englischen Verfassungs- und Kirchengeschichte heraus erwachsene Fragen“ (S.
241), bei deren Lösung landesfremde Modelle kaum hilfreich sein konnten,
weshalb „die deutschen Universitäten ... in diesen Debatten ... durch
Abwesenheit (glänzten)“. Gedämpft wurde die Rezeptionsbereitschaft ferner durch
eine in Frankreich und England gleichermaßen zu beobachtende „emotionale
Abneigung gegen alles Deutsche“ (S. 267) und die Ablehnung der in Deutschland
betriebenen „pedantischen“ Gelehrsamkeit (S. 80, 194). Vor allem dort, wo es um
konkrete Veränderungen ging, war das deutsche Modell „denkbar fremd und
unwillkommen“ (S. 152) bzw. „rangierten die deutschen Universitäten als
mögliche Inspirationsquelle insgesamt unter ferner liefen“ (S. 153). Selbst bei
Franzosen, die mit Wilhelm v. Humboldt persönlich in Berührung kamen, wie der
Schriftsteller Chateaubriand, herrschte ein „aufschlußreiches Desinteresse“ an
dessen Bildungsideal (S. 118), wie überhaupt Humboldt fast ausschließlich als
Wissenschaftler, kam als „Vaterfigur“ der deutschen Universität wahrgenommen
wurde (S. 160 f., 329).
Im Ergebnis
bestätigen Schalenbergs Untersuchungen also nicht „die vermeintliche
Modellfunktion der deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert“ (S. 12). Sie
vermitteln jedoch, und darin liegt der Wert des Buches, ein - wenngleich
ausschnittweises und in Duktus und Wortwahl philosophisch gefärbtes -
Stimmungsbild der französischen und englischen Hochschullandschaft und leisten
damit einen Beitrag zur europäischen Hochschulgeschichte, deren
gelehrtengeschichtliche Komponente auch berühmte deutsche Juristen einschließt.
So wird Savigny, den langjährige Beziehungen mit dem französischen Juristen und
Politiker Edouard Laboulaye verbanden, mit einem Brief an denselben zitiert (S.
132f.), und Mittermaier, der fast regelmäßig in französischen Zeitschriften
publizierte, wird mit seinem Vorschlag, „das deutsche Privatdozentenwesen nach
Frankreich zu implantieren“, erwähnt (S. 352).
Ein
ungetrübtes Lesevergnügen bereitet das Buch freilich nicht, weniger wegen der
unvermeidlichen Fülle originalsprachlicher Zitate, als vielmehr wegen der
Neigung des Autors, einen Stil zu kultivieren, der selbst schlichte
Sachverhalte umständlich und geschwollen daherkommen läßt. Der gehäufte
Gebrauch von teilweise veralteten Fremdwörtern (z.B. Intransigenz) und die
Vorliebe für eigenwillige Wortschöpfungen (z.B. thetisch, antithetisch,
Altmodigkeit, Interpretament) lassen die Lektüre zusätzlich zur Geduldsprobe
werden. Juristen werden bei aller offensichtlich bis ins Detail reichenden
wissenschaftlichen Sorgfalt im Umgang mit dem Thema, die Schalenberg zu
bescheinigen ist, einen Fehler unangenehm vermerken, der ihm gleich mehrfach
unterläuft und unter Rechtshistorikern nahezu als Todsünde gilt: die
Verwechslung der Vornamenabfolge Savignys (S. 129, 132, 515).
Halle (Saale) Lieselotte Jelowik