Putzke, Sabine, Die Strafbarkeit der Abtreibung in der Kaiserzeit und in der Weimarer Zeit. Eine Analyse der Reformdiskussion und der Straftatbestände in den Reformentwürfen (1908-1931) (= Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 3, Beiträge zur modernen deutschen Strafgesetzgebung – Materialien zu einem historischen Kommentar 14). Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2003. XVII, 410 S.
Putzke legt mit dieser im Sommersemester 2003 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angenommenen Dissertation eine sauber recherchierte und detailreiche strafrechtshistorische Quellenstudie zur Geschichte der Strafbarkeit der Abtreibung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Deutschland vor. Die Nähe des untersuchten Zeitraums einerseits und die Aktualität der langwierigen Kontroverse um § 218 des deutschen Strafgesetzbuchs prägen die Studie als juristisch-zeitgeschichtliche Untersuchung.
Einleitend werden die Strafbarkeit der Abtreibung vor 1871 sowie die Entscheidungen des Reichsgerichts im Untersuchungszeitraum kurz dargelegt. Im dritten Kapitel folgt die ausführliche und vielseitige Beschreibung der Stellung der deutschen Frauenverbände zur Strafbarkeit der Abtreibung: Die in der Abtreibungsfrage liberalen Frauen verloren im Bund Deutscher Frauenvereine nach dessen national-konservativer Ausrichtung 1908 ihre Basis. Unterstützung fanden sie fortan hauptsächlich in der Sexualreformbewegung. Während über die Ablehnung der Abtreibung als Verhütungsmittel in den Frauengruppen weitgehend Einigkeit bestand, unterschieden sich die Meinungen bezüglich der einzelnen Ausnahmen von der Strafbarkeit durch Indikationen erheblich. Die deutschen Frauenverbände reichten 1909 eine Petition zur Reform des Strafgesetzbuches ein. Darin wurde die Straflosigkeit gefordert für die Abtreibung bei medizinischer, eugenischer oder kriminologischer Indikation sowie die Einführung einer die einzelnen Anträge beurteilenden Ärztekommission, in der auch Frauen vertreten sein sollten. Der Deutsche Bund für Mutterschutz forderte demgegenüber sowohl die Einführung einer Verbesserung der sozialen Stellung der Mütter (allgemeine Mutterschutzversicherung u. a. Maßnahmen), als auch eine neue Sexualmoral durch Verbesserung der Aufklärung, wodurch die Abtreibung letztlich überhaupt von der Strafdrohung befreit werden könne. Helene Stöcker propagierte das Recht auf «eine selbstbestimmte und freiwillige Mutterschaft».
Der Vorentwurf von 1909 hielt an der Strafbarkeit fest (§ 217), doch sollte der oberste Strafrahmen für Selbstabtreibung von fünf auf drei Jahre Zuchthaus gesenkt werden, wofür sich u. a. Josef Kohler, Karl v. Lilienthal und Franz v. Liszt einsetzten. Letztere zwei legten 1911 gemeinsam mit Wilhelm Kahl und James Goldschmidt einen Gegenentwurf vor, welcher bei Vorliegen einer medizinischen Indikation Straflosigkeit vorsah (§ 259). Tatsächlich wurden in der damaligen Diskussion zahlreiche Argumente für eine gesetzliche Anerkennung insbesondere der medizinischen Indikation, bisweilen auch für eine weiterführende Liberalisierung, v. a. aber für die Kriminalisierung der Abtreibung zufolge grundsätzlicher Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs, ins Feld geführt, die auch die in den 1990er Jahren geführten Debatten über § 218 StGB dominierten.
In einem vierten Kapitel werden die durch die Regierung geförderten Massnahmen zur Verhinderung der Abtreibung zur Zeit des Ersten Weltkrieges dargelegt, während das zentrale fünfte Kapitel die Bewertung der Strafbarkeit der Abtreibung durch die Ärzteschaft zum Gegenstand hat. Im Anschluss wird die Situation während der Weimarer Republik behandelt, wobei die Stellung der Frauenverbände, die Gesetzesreform der Zwanzigerjahre sowie die Rolle der politischen Parteien viel Raum einnehmen. Die Untersuchung wird mit einem kurzen Kapitel über die Strafbarkeit der Abtreibung unter dem Nationalsozialismus abgerundet.
Während in den Frauenvereinen insbesondere vor dem Ersten Weltkrieg am Verbot der Abtreibung vorwiegend aus moralischen Gründen oder zum Schutz der Frau vor der Beeinflussung durch den die Abtreibung aus finanziellen Gründen fordernden Schwängerer festgehalten wurde, fanden sich in der Ärzteschaft, bei Juristen und Politikern auch andere Gründe für eine restriktive Haltung: 1911 ortet die königlich preußische Deputation für das Medizinalwesen als Ursache für den als staatsgefährdend qualifizierten Geburtenrückgang die Instrumente der Familienplanung, worunter auch die Abtreibung gezählt wird. Der Schwangerschaftsabbruch erscheint weniger als Delikt gegen Leib und Leben, sondern wird überwiegend als Verstoß gegen die Interessen von Staat und Gesellschaft, als Bedrohung der „germanischen Rasse“ wahrgenommen. Das quantitative und qualitative Wachstum der deutschen Bevölkerung rückt als wichtige nationale Aufgabe in den Vordergrund. Auch rassenhygienische Elemente, deren Etablierung der psychiatrisch-anthropologisch geprägte Diskurs um die Degenerationshypothese seit 1860 massgeblich gefördert hat, fließen nun zunehmend auf politischer Ebene in die Abtreibungsdiskussion ein. Die Skepsis gegenüber rassenhygienischen Argumenten verliert kurz vor dem Ersten Weltkrieg in der Argumentation auch der Frauenverein an Bedeutung. Diese aus der Abtreibungsdebatte zu entnehmenden Leitgedanken prägen in ihren Konsequenzen nicht nur die deutsche Bevölkerungs-, sondern auch die Aussenpolitik bis 1945. Erich v. Falkenhayns grauenvolle Blutmühlenmetapher fällt 1916 auf wohl vorbereiteten Boden.
Auch nach 1918 wird das Abtreibungsverbot maßgeblich durch bevölkerungspolitische Argumente geprägt. Die enormen Kriegsverluste sollen kompensiert, der wirtschaftskrisenbedingte Geburtenrückgang bis 1923 soll gebrochen werden. Auch die Abtreibungsdiskussion der Weimarer Republik räumt diesen Argumenten einen hohen Stellenwert ein. Von geburtenstarken Jahrgängen erhoffen sich manche Abtreibungsgegner einen die deutschen Ostgrenzen stabilisierenden Bevölkerungsdruck. Die SPD teilt im Gegensatz zur KPD, welche die Liberalisierung der Abtreibung gleichermaßen wie eine massive Verbesserung von Mutterschutz und Integration der Mütter in die Arbeitswelt fordert, diese geburtspolitisch motivierte Ablehnung der Abtreibung. In der Person von Alfred Grotjahn wirkt ein Sozialdemokrat als Hauptexponent dieser Bewegung.
Die „qualitative“ Seite dieser Bevölkerungswachstumspolitik fordert allerdings gewisse Eingeständnisse: Die in der Praxis längst anerkannte medizinische Indikation wird in den 1920er Jahren zunehmend ergänzt durch die eugenische Rechtfertigung des Schwangerschaftsabbruchs. 1931 äußerten sich über 80% der befragten deutschen Ärztinnen im Rahmen einer Rundfrage für die gesetzliche Anerkennung der eugenischen Indikation. Obgleich § 218 trotz intensiver Diskussionen im Reichstag 1924-1927 keine grundlegende Neuerungen erfuhr – § 254 des Entwurfs von 1927 beinhaltete die medizinische Indikation –, imponiert mentalitätsgeschichtlich die steigende Akzeptanz gegenüber einer auf Bevölkerungswachstum und Erbgutselektion ausgerichteten Geburtenpolitik. Die rassen- und sozialhygienischen Argumente stoßen damals hauptsächlich in religiösen Kreisen auf deutliche Ablehnung. Mit der Enzyklika Casti connubii bringt Papst Pius XI. 1931 die Ablehnung jeder Form des Schwangerschaftsabbruchs durch die katholische Kirche unmissverständlich zum Ausdruck. Die nach 1933 realisierte NS-Bevölkerungspolitik, welche die Abtreibung aus eugenischen und rassenhygienischen Gründen exzessiv fördert, Schwangerschaftsabbrüche und Sterilisationen auch gegen den Willen der werdenden Mütter vorsieht, bedroht die Abtreibung rassenreiner, vermutlich gesunder Föten nach 1943 mit der Todesstrafe.
Putzkes Arbeit liefert eine solide Quellenbasis für die keineswegs neue, wohl aber grundlegende und nach wie vor nicht unbestrittene Erkenntnis, dass der NS-Rassenwahn in seinen Grundzügen in den vorhergehenden Jahrzehnten vorgezeichnet wurde und zwar keineswegs durch rechtsextreme Gruppierungen sondern durch die wilhelminische Intelligenzia gleichermaßen wie durch manche Gelehrten und Politiker aller Couleur der Weimarer Republik. Aufschlussreich wäre ein internationaler Vergleich, zumal die Eugenik in den USA lange vor Deutschland ihre gesetzlichen Grundlagen fand. Für eine kritische Analyse des Bevölkerungswachstumsarguments wäre ein Vergleich mit Frankreich, das eine traditionsreiche Peuplierungspolitik pflegte, aufschlussreich.
Der hauptsächlich chronologische Aufbau der
Studie entspricht zwar deren Anlage als Materialiensammlung, vermag der
Klarheit derselben jedoch nicht die besten Dienste zu erweisen, da er sich
vielmehr an rechtspolitisch-formalen Kriterien (Entwürfe, Stellungnahmen von
Kommissionen, Einzelpersonen, Gruppierungen etc.) statt an Inhalten orientiert.
Dies erschwert mitunter die Lesbarkeit und lässt die Darstellung stellenweise
redundant erscheinen. Es entsteht der Eindruck, dass die Untersuchung
hauptsächlich durch ihren beschreibenden Charakter, weniger durch ihre
analytische Kraft besticht. Man vermisst gelegentlich die vertiefte Einbettung
und Vernetzung der Diskussion in die zeitgenössische kulturgeschichtliche
Entwicklung. Wer sich mit der neueren Geschichte des Schwangerschaftsabbruchs
im deutschsprachigen Raum befasst, wird in dieser Untersuchung zweifellos eine
gewichtige Grundlage finden.
Sankt Gallen Lukas
Gschwend