Mohnhaupt-Wolf, Uta, Deliktsrecht und Rechtspolitik. Der Entwurf einer deutschen Schadensordnung (1940/1942) im Kontext der Reformdiskussion über die Konzeption des Deliktsrechts im 20. Jahrhundert (= Fundamenta Juridica 49). Nomos, Baden-Baden 2004. 328 S.

 

Zusammenhängende dogmen- und reformgeschichtliche Untersuchungen zum Zivilrecht des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts gehören, abgesehen von einigen notwendigerweise sehr komprimierten Darstellungen im Historisch-kritischen Kommentar zum BGB, noch immer zu den Desiderata der neuesten deutschen Rechtsgeschichte. Die Arbeit von Mohnhaupt-Wolf nimmt sich dieser Thematik für das Deliktsrecht an, dessen Reform das gesamte 20. Jahrhundert beschäftigt hat. Die Verfasserin geht mit Recht von dem Entwurf einer deutschen Schadensordnung, der vom schuldrechtlichen Hauptausschuss und anschließend vom schadensersatzrechtlichen Ausschuss der Akademie für Deutsches Recht aufgestellt worden war, aus, weil diese Vorlage die bisher eingreifendsten Reformvorschläge zum Deliktsrecht unterbreitet hat. Den Schwerpunkt der Untersuchungen bilden vier Leitthemen, nämlich die Formulierung eines allgemeinen deliktischen Haftungstatbestandes, die Beibehaltung bzw. Abschwächung des dem BGB-Deliktsrecht zugrunde liegenden Verschuldensprinzips, die Schaffung einer vom Verschulden absehenden Billigkeitsnorm sowie eine Reduktionsklausel und die Reform der Gehilfenhaftung (vgl. S. 21). Die Verfasserin untersucht zunächst die Arbeiten des schuldrechtlichen Hauptausschusses der Akademie für Deutsches Recht und dessen zusammen mit einem maßgeblich von Nipperdey beeinflussten Entwurf 1940 veröffentlichte Denkschrift, die Reaktion auf diesen Entwurf und anschließend die Revision und Erweiterung des Entwurfs in einer neuen Vorlage von 1942. Beide Entwurfsfassungen gehen von einer deliktsrechtlichen Generalklausel aus. Während die Fassung von 1940 auf die Rechtswidrigkeit im Sinne eines Erfolgsunrechts abstellte, ließ die Fassung von 1942 die zentrale Rolle der Rechtswidrigkeit fallen und stellte auf die „vorsätzliche oder fahrlässige, einer ,Rechtsvorschrift zuwider’ erfolgende Schädigung“ (S. 136) ab. Den Charakter einer am allgemeinen Normenschutz und nicht mehr am individuellen Rechts- und Rechtsgüterschutz orientierten Bestimmung hielt die Neufassung jedoch bei. Neu gegenüber 1940 war, dass ein Verschulden des Schädigers stets zu vermuten war. Die im Entwurf von 1940 unzureichend geregelte Haftung für Gehilfen war im neuen Entwurf rechtstechnisch vereinfacht und für Betriebe, die „eigenartige Gefahren“ mit sich brachten, als Gefährdungshaftung ausgestaltet. Für diese war im Entwurf von 1942 als zweite Säule des Deliktsrechts ein eigener allgemeiner Gefährdungshaftungs-Tatbestand vorgesehen (§ 39). Die Billigkeitshaftung (fehlendes Verschulden; Milderung der Haftung, sog. Reduktionsklausel) wurde im neuen Entwurf gegenüber 1940 eher eingeschränkt (Kannbestimmung statt Mussbestimmung) unter Wegfall des Hinweises auf das „gesunde Volksempfinden“. Allen Entwürfen liegt die „Tendenz einer Haftungserweiterung“ zugrunde. Die Verfasserin stellt fest, dass das Haftungsrecht von 1940/42 nicht mehr ausschließlich auf den Schutz des Individuums und dessen Rechte und Rechtsgüter konzentriert gewesen sei: „Nicht Rechte und Rechtsgüter waren Anknüpfungspunkt deliktischer Haftung; ein Verstoß gegen Handlungs- und Verhaltensgebote, Rechts- und Verhaltenspflichten sollte eine Haftungsverpflichtung begründen“ (S. 283). Da zudem noch die Grundregeln des künftigen Volksgesetzbuches zur Auslegung des Deliktsrechts heranzuziehen waren, barg das neue Haftungssystem „aus heutiger Sicht ein gezielt ungleich einsetzbares und die Rechtssicherheit beeinträchtigendes Gefahrenpotential“ (S. 142).

 

Im folgenden Abschnitt behandelt die Verfasserin den Entwurf der Schadensordnung „im Kontext von Rechtspraxis und Rechtswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ (S. 143ff.). Ein Vergleich mit der Konzeption des Deliktsrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch ergibt zunächst, dass alle zentralen Leitthemen von 1940/42 bereits bei der Entstehung des BGB zur Diskussion standen (insbesondere die Vorschläge des Redaktors v. Kübel; Billigkeitsklausel, Einschränkung des Verschuldensprinzips; Gehilfenhaftung). Die Rechtsprechung nahm am Deliktsrecht mannigfache Korrekturen vor (extensive Auslegung des „sonstigen Rechts“, Ausweitung des § 826; Beweislastumkehrungen und prima-facie-Beweis; Umgehung des § 831 BGB durch die Anerkennung der c.i.c.). Die rechtspolitischen Forderungen zur Reform des Deliktsrechts tendierten bis 1940 noch nicht zu einer deliktsrechtlichen Generalklausel, dessen Fassung durch Nipperdey Affinitäten zur Rechtswidrigkeitslehre von Larenz und Welzel aufweist. Nach der Publikation des Entwurfs von 1940 wurde die Generalnorm, abgesehen von ihrer konkreten Ausgestaltung, von den meisten Kritikern akzeptiert. Eine gegenüber § 829 BGB erweiterte Billigkeitsklausel war schon 1926 vom Deutschen Juristentag gefordert worden, wobei insbesondere über eine Reduktionsklausel Einigkeit herrschte, während zur Ausweitung der Gehilfenhaftung keine einheitlichen Vorschläge vorlagen.

 

Im Abschnitt über den Entwurf von 1940/42 im Kontext der rechtspolitischen Diskussion nach 1945 behandelt die Verfasserin den Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des zivilrechtlichen Persönlichkeits- und Ehrenschutzes (1959), den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung schadensersatzrechtlicher Vorschriften (1967), die Gutachtenvorschläge von v. Bar, Hochloh und Kötz von 1981 sowie das 2. Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften von 2002. Der Entwurf von 1959 sah einen umfassenden Schutz der „Persönlichkeit“ vor, während der Entwurf von 1967 partielle Änderungen (u. a. Schutz der Ehre und der Persönlichkeit; Reduktionsklausel, Angleichung des § 831 an § 278 BGB) vorschlug. Wohl in „bewusster Reaktion auf die Unrechtslehren des Nationalsozialismus“ sah man von einer allgemeinen Generalklausel ab. Allerdings erlebte die Rechtswidrigkeitslehre Nipperdeys mit einem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 4. 3. 1957 (BGHZ 24, 27) zum Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens) ein kurzes Comeback; sie konnte sich jedoch nicht durchsetzen. 1967 brachte Nipperdey seine Konzeption von 1940 noch einmal vergeblich zur Sprache. Die Gutachter von 1981, die einer neuen Juristengeneration angehörten, setzten sich erstmals nach 1945 detailliert mit dem Reformentwurf von 1940 (derjenige von 1942 wurde erst 1988 veröffentlicht) auseinander. Es verwundert deshalb nicht, dass der Entwurf von Bars bei seinen Vorschlägen zur Kodifikation der Verkehrspflichten „deutliche Parallelen zu dem Nipperdeyschen Deliktsrechtskonzept“ aufwies (S. 251). Auch weitere Parallelitäten und Affinitäten zu den Entwürfen aus den Jahren 1940/42 lassen sich feststellen (Ausweitung der Gefährdungshaftung; Gehilfenhaftung; Schmerzensgeldanspruch auch bei Gefährdungshaftung; Reduktionsklausel; Einbeziehung der „sittlichen Verpflichtung“ in § 844 Abs. 2 [bereits 1942 vorgeschlagen]). Allerdings lehnten auch die Reformer von 1981 eine deliktische Generalklausel als der deutschen Rechtstradition nicht entsprechend ab. Verwirklicht ist von diesen Vorschlägen bisher lediglich die Ausweitung des Schmerzensgeldanspruchs auf die Gefährdungshaftung.

 

Insgesamt spielten und spielen auch noch heute die Regelungsaspekte der „Schadensordnung“ von 1940/42 eine wichtige Rolle. Würde der Entwurf von 1940 (oder besser noch die Fassung von 1942) Gesetz, so müsste, so die Verfasserin abschließend, der Verweis auf die „anerkannten Grundsätze des völkischen Zusammenlebens“ beseitigt und die Gesetzesfassung insgesamt sprachlich überarbeitet werden: „Als gefährlich erwiese sich das Nipperdeysche System auf der Grundlage unserer heutigen, verfassungsrechtlich gewährleisteten freiheitlich-demokratischen und rechtsstaatlichen Grundordnung dann allerdings nicht mehr, da die Ausgestaltung und Auslegung der Rechtsordnung insgesamt entscheidend vom jeweiligen politischen Umfeld beeinflusst und dirigiert werden...“ (S. 286). Das Werk Mohnhaupt-Wolfs verdeutlicht, dass es heute, fast 60 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes, keiner besonderen Rechtsfertigung mehr bedarf für eine detaillierte Beschäftigung mit der rechtspolitischen Diskussion der Jahre von 1933 bis 1945 im Rahmen einer das gesamte 20. Jahrhundert umfassenden Rechtsgeschichte. Die NS-Zeit braucht und darf nicht ausgeklammert werden, da diese Diskussion, ungeachtet der ideologischen Implikationen, zahlreiche, auch Epochen übergreifende Elemente enthält, die sich nicht ausschließlich auf das nationalsozialistische Gedankengut reduzieren lassen. Das Werk der Verfasserin verbindet beide Aspekte insbesondere in der detaillierten Analyse der Protokolle der Akademieausschüsse und deren Entwürfe, ergänzt durch die breite Einbeziehung der Entwicklung vor 1933 und nach 1945. Der Verfasserin ist zuzustimmen, dass eine „offene“ deliktische Generalklausel zu stark verstaatlichten politischen Systemen passt (S. 281); allerdings ist, wie die Verfasserin später meint, eine solche Klausel bei gefestigten „ethischen Überzeugungen“ (S. 286) nicht schädlich, wie etwa der naturrechtlich beeinflusste Deliktstatbestand des Art. 1382 Code civil zeigt. Kontinuität zwischen der NS-Zeit und der Zeit nach 1945 dürfte in der rechtspolitischen Diskussion auch dann vorliegen, wenn der politische Kontext sich geändert hat (beispielsweise für den Schutz der Persönlichkeit; vgl. hierzu A. Bürge in: R. Marti [Hrsg.], Grenzkultur – Mischkultur? Saarbrücken 2000, S. 381f.; kritisch hierzu die Verfasserin, S. 216). Insgesamt leistet das gut lesbare Werk Mohnhaupt-Wolfs einen gewichtigen Beitrag zur neuesten Dogmengeschichte des Deliktsrechts. Zugleich zeigt das Werk auf, wie man sinnvoller Weise mit der NS-Rechtsgeschichte umgehen und diese in die deutsche Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts ohne Vernachlässigung der ideologischen Implikationen des „Dritten Reichs“ integrieren kann.

 

Kiel

Werner Schubert