Kißener, Michael, Zwischen Diktatur und Demokratie. Badische Richter 1919-1952 (= Karlsruher Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 7. UVK, Konstanz 2003. 373 S.
Die Studie ist die erweiterte Fassung der von Rudolf Lill
angeregten, im Jahre 2000 der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften
der Universität Karlsruhe vorgelegten Habilitationsschrift des als Leiter der
Forschungsstelle Widerstand gegen den Nationalsozialismus im deutschen
Südwesten des Instituts für Geschichte der Universität Karlsruhe und seit 2003 als
Zeitgeschichtler in Mainz tätigen Verfassers. Sie will auf der Datengrundlage
der (541 im Personenregister alphabetisch mit jeweils höchster Dienststufe von
1933 bis 1945 und nach 1945 aufgeführten,) in Baden (Oberlandesgericht
Karlsruhe, Landgerichte Konstanz, Freiburg im Breisgau, Offenburg, Karlsruhe,
Mannheim, Heidelberg und Mosbach sowie rund 60 Amtsgerichte) zwischen 1933 und
1945 in richterlichen Funktionen amtierenden Juristen möglichst präzis das
berufliche und politische Verhalten über die politischen Systembrüche des 20.
Jahrhunderts hinweg verfolgen. Dabei werden Aufbau und Erhalt des
demokratischen Rechtsstaates der Weimarer Republik, Befürwortung und Widerstand
im nationalsozialistischen Unrechtsstaat und Aufbau der Nachkriegsdemokratie im
sich anbietenden chronologischen Nacheinander erfasst.
Die ausführliche Einleitung beginnt mit einem die vielfache,
um nicht zu sagen allgemeine, Abneigung, zum Teil Geringschätzung der Juristen
in Deutschland belegenden Zitat des Jahres 1900. Obwohl wenig später mit Hans
Hattenhauer der Beitrag der deutschen Justiz zur Stabilisierung der Weimarer
Republik 1918/1919 durch unbeirrte Fortsetzung ihrer Tätigkeit hervorgehoben
wird, überwiegt die negative Beurteilung auch in der Folge. Die dabei
erkennbaren methodischen Defizite versucht der Verfasser zu beheben.
Ausgehend von den Grundlagen und Traditionen richterlicher
Tätigkeit in Baden (badische Liberalität der Richter, Bürgernähe der Gerichte)
behandelt der Verfasser in seinem zweiten Kapitel die badische Justiz in der
Weimarer Republik. Er bescheinigt ihr trotz aller Schwierigkeiten erhebliche
Erfolge in dem Bemühen, diesen Zweig der Staatstätigkeit in den Dienst des
demokratischen Rechtsstaates zu stellen. Er zieht daher die Beschreibung des
Vorgangs als notwenigen Wandlungsprozess mit natürlichen Reibungsverlusten vor,
wobei die Kürze der verfügbaren Zeit von 14 Jahren die vollständige Erreichung
des Ziels ausschloss.
Für den Nationalsozialismus, in dem am 9. März 1933 der vom
Reichsinnenminister zum Reichskommissar ernennte Gauleiter der NSDAP Baden die
Regierungsgewalt übernommen hatte, erwies sich nach den gründlichen Untersuchungen
des Verfassers die Aufgabe der Umformung der Justiz zu einem willfährigen
Instrument als nach den Demokratisierungserfolgen der vorangegangen Zeit
keineswegs leicht, zumal sich unter den Richtern nur wenige politisch
zuverlässige Parteigenossen befanden (, bis 1945 aber doch immerhin rund zwei
Drittel die Parteimitgliedschaft erwarben und ein Drittel als politisch
zuverlässig gelten konnte). Zwar ermöglichte die fristlose Entlassung
jüdischstämmiger Angehöriger des höheren Justizdienstes (24) die Besetzung
wichtiger Schlüsselstellen mit bewährten Kämpfern, doch erwies sich eine
politische Säuberung der Richterschaft letztlich als undurchführbar und wurde
die Mehrzahl der politikfreien oder zumindest politikfernen Prozesse weitgehend
so abgewickelt wie vor 1933. Den Grund für die hohe, in vielfältigen Formen
auftretende Widerständigkeit, die ein Mitmachen und Stillhalten nicht
ausschloss, sieht er in den liberal-rechtsstaatlichen Traditionen.
!945 blieb das Personal weitgehend gleich (40 Prozent der
nationalsozialistischen Richter konnten zturückkehren), so dass der Verfasser
für die Richterschaft in ihrer Gesamtheit zu dem Ergebnis gelangt, dass sich
über die Systembrüche hinweg eigentlich nicht viel geändert hat. Bei genauem
Hinsehen findet er aber gleichwohl Brüche in den Führungsstrukturen, sich
wandelnde Richterleitbilder und Kontinuitäten zwischen Weimarer Republik und
demokratischem Neubeginn nach 1945. Insgesamt betont er am Ende seiner
gelungenen Untersuchung trotz einer gewissen Sonderrolle Badens überzeugend,
dass auch Juristen nur in ihrer Zeit stehen und die Veränderung von
Einstellungen, Denkhaltungen und Gewohnheiten nur allmählich gelingen kann.
Innsbruck Gerhard
Köbler