Kiesewetter, Andreas, Die Anfänge der Regierung König
Karls II. von Anjou (1278-1295). Das Königreich Neapel, die Grafschaft Provence
und der Mittelmeerraum zu Ausgang des 13. Jahrhunderts (= Historische Studien
451). Matthiesen, Husum 1999. 650 S., 2 Kart.
Mit vorliegender Monographie, bei der es sich um die gekürzte Fassung
seiner Würzburger, von Peter Herde betreuten Dissertation handelt, hat Andreas
Kiesewetter ein altes Forschungsdesiderat erfüllt und dem am wenigsten
bekannten Angiovinen auf sizilischem Thron eine detaillierte, tiefgreifende
Studie gewidmet. Der Verfasser hat sich dabei weder von der ungünstigen
Quellenlage noch von dem hauptursächlich darauf hinzuführenden Umstand
abschrecken lassen, daß es an wirklich fundierten Vorarbeiten fehlt. Mag vor
der kriegsbedingten Vernichtung der im Staatsarchiv von Neapel aufbewahrten
Register im September 1943 die schier erdrückende Masse an größtenteils
ungesichtetem Urkundenmaterial entmutigend gewirkt haben, so erschwert jetzt
die für die Regierungszeit Karls II. wenig fortgeschrittene Rekonstruktion der
zerstörten Bestände eine intensivere Forschung. Kiesewetter hat sich,
ungeachtet dieser Widrigkeiten und in Auswertung umfangreicher Dokumentensammlungen
italienischer und französischer Archive, des argonesischen Kronarchivs in
Barcelona sowie des Vatikanischen Archivs und von Gelehrtennachlässen an die
Aufgabe gewagt, aus der Fülle der herangezogenen Zeitzeugnisse die
Informationen herauszufiltern, die es ihm dann erlaubten, die Politik des
Herrschers im Kontext seiner an Ereignissen wie an herausragenden
Persönlichkeiten nicht armen Epoche nachzuzeichnen und zu bewerten.
Äußere Faktoren wie ein fast unüberschaubarer Bestand an Quellen und die
Notwendigkeit, in einer ausführlichen Gesamtschau überhaupt erst einmal eine
Wissensgrundlage zu schaffen, haben ebenso den Entschluß des Verfassers, seine
Untersuchungen nicht auf die gesamte Regierungszeit Karls II. auszudehnen,
herbeigeführt, wie historische Fakten: Die Ernennung 1278 zum Statthalter in
der Provence, die dem jungen Fürsten zum ersten Mal selbständiges Handeln
ermöglichte, und der Friede von Anagni im Jahre 1295, der dem jahrelang durch
den Konflikt mit Aragon in seinen Entscheidungen gehemmten König erlaubte, nun
selbst politische Initiativen zu ergreifen, überzeugen als Eckdaten einer in
sich abgeschlossenen Herrschaftsepoche.
Unter Ausschöpfung der für die Kindheit und frühe Jugend des am 18.
November 1253 geborenen zweiten Sohnes des Begründers des angiovinischen
Reiches nur spärlichen, erst mit der Wahrnehmung zunächst noch eher nomineller,
dann tatsächlicher Vikariate im Königreich Sizilien im Zeitraum von 1271 bis
1278 dann reicheren Informationen zeichnet Kiesewetter, sie stets in den
historischen Gesamtkontext einbettend, die ersten politischen Handlungen des
jungen Karl von Salerno während seines vierjährigen Wirkens in der Provence
nach, die noch ganz den diplomatischen und militärischen Plänen seines Vaters
hinsichtlich einer Machterweiterung seines Hauses im Arelat und auf dem Balkan
untergeordnet waren. Die ersten wirklich bedeutenden Maßnahmen des Fürsten auf
sizilischem Boden während seiner Statthalterschaft in den Jahren 1283 und 1284
standen bereits unter dem für die weitere Zukunft richtungsweisenden Diktat der
Gegebenheiten, die die Sizilische Vesper geschaffen hatte: Der Kampf gegen
immer neue Verschwörungen sowie eine marodierende Soldateska; die auf die
Eindämmung der Rebellion und den Erhalt der Oboedienz von Festlandsizilien
abzielenden, die Stände stärkenden, die königliche Zentralgewalt schwächenden
Reformen, die ihren Niederschlag in den im März 1283 in San Martino von der
Ständeversammlung verabschiedeten siebenundvierzig Capitula (als Anhang S. 557-578 ediert) fanden; die Kriegsrüstungen
und Militäroperationen. Die detailliert geschilderten bewaffneten Auseinadersetzungen
gegen den aragonesischen Eroberer scheiterten an Finanzierungs- und
Rekrutierungsproblemen, an Versorgungsschwierigkeiten, unzureichender Küstensicherung
wie an strategischen Unzulänglichkeiten und gipfelten in der folgenschweren
Niederlage im Seegefecht in der Bucht von Neapel am 5. Juni 1284 und der
Gefangennahme des angiovinischen Thronfolgers. Es folgten langwierige, über die
Freilassung des ursprünglich zum Tode Verurteilten hinaus geführte, erst 1295
zu Ende gebrachten Verhandlungen, in denen nicht nur der Papst, der
französische und englische König aktiv wurden, sondern in die auch scharfe
Rivalitäten im Hause Aragon selbst hineinspielten.
Virtuos rekonstruiert und analysiert Kiesewetter die vielfältig
verschlungenen, hochkomplizierten Vorgänge, die von Beginn an überlagert wurden
von einem französisch-kastilischen Konflikt, massiven, wiederholtes päpstliches
Eingreifen bedingenden kurialen Interessen, englischen Bemühungen um eine
Mediation und Versuchen, eine militärische Lösung zu erzwingen. Langwierige,
sich oftmals an Details festfahrende Negotiationen mündeten von den 1285 in
Cefalù ausgehandelten, bezüglich der Herrschaft über das sizilische Reich
bereits den Status quo sanktionierenden, von Honorius IV. jedoch annullierten
Bedingungen, über die 1287 geschlossenen Präliminarien von Oloron-Sainte-Marie
und den sich anschließenden Vereinbarungen von Canfranc, die die
Voraussetzungen für die Freilassung des am 29. Mai 1289 in Rieti von Nicolaus
IV. gekrönten Gefangenen schufen, schließlich 1295 in einen in Anagni
unterzeichneten Vertrag, der zwar die Rückkehr der von König Karl gestellten
Geiseln regelte und eine Ehebündnis vereinbarte, aber noch keinen Frieden
schuf. Erst weitere Waffengänge sollten 1302 zu einem stabilisierend wirkenden
Abkommen führen. Anschaulich arbeitet der Verfasser aus der Fülle des
Quellenmaterials diese diplomatische Entwicklung, heraus und ordnet sie in die
allgemeinen inneren und äußeren Verflechtungen der Politik Karls des Lahmen
ein.
Darüber hinaus liefert er ein präzises Bild der ganz unter der Lösung der
sizilischen Frage stehenden Beziehungen Karls II. zu Aragon und seiner
vielfältigen außenpolitischen Aktivitäten, die auf eine Kompensierung des
Verlusts von Inselsizilien sowie der lehnsabhängigen vorgelagerten Eilande und
der damit verbundenen Schwächung der angiovinischen Machtstellung abzielten. So
griff Karl II. wiederholt in lehnsrechtlichen Fragen in den Fürstentümern
Achaia und Epeiros ein, um den von seinem Vorgänger begründeten Einfluß auf dem
Balkan zu wahren, hielt den Anspruch seines Hauses auf das Königreich Jerusalem
aufrecht, verhandelte mit dem deutsch römischen König Rudolf von Habsburg über den
Weg eines Ehebündnisses zwischen ihren Kindern um eine angiovinische Position
im Arelat, versuchte, wieder in Piemont Fuß zu fassen und betrieb als Gemahl
einer Arpádin, der Tochter König Stephans V., die Nachfolge erst seines Sohnes
Karl Martell, dann nach dessen Tod im Jahre 1295, des Enkels Karl Robert in
Ungarn gegen den kurzzeitig erfolgreichen Prätendenten Andreas III., den
Venezianer. Die vorteilhaftesten Kontakte, wie hier nachgewiesen wird, pflegte
der Herrscher, obwohl er keine der Papsterhebungen zu beeinflussen vermochte,
zur Kurie und wußte sich dauerhaft die päpstliche Unterstützung für seine
außenpolitischen Konzeptionen zu sichern.
Ebenso viel Aufmerksamkeit widmet Kiesewetter den innenpolitischen
Maßnahmen im Königreich Sizilien: Begnadigung der Rebellen, Rückgang des
französischen Elements, Ausstattung von Lehnsträgern mit Domanialgut,
Fortentwicklung der Stände, Neudefinierung der Hofämter - im Anhang findet der
Leser ein Verzeichnis der in den Jahren 1289 bis 1295 im Königreich wirkenden
Justitiare, Sekreten und Magistri
portulani. Dann wendet er sich mit der gleichen Akribie den von Karl II.
angeordneten Umstrukturierungen in der Grafschaft Provence zu: Gesetze zum
Schutz des Adels, von dem der König sich aktive Unterstützung erhoffte, vor dem
aufstrebenden Stadtpatriziat; Ämterkontrolle und Steuerreformen. Alle diese
durchgeführten Veränderungen hatten, wie Kiesewetter ausführt, in erster Linie
der Herrschaftssicherung zu dienen, wobei eine Stärkung der zentrifugalen
Kräfte in Kauf genommen wurde. Unter diesem Aspekt ist auch das von Landflucht
und der Gefährdung des See- und Getreidehandels geschwächte Wirtschafts- und
das gleichfalls von den Kriegseinwirkungen schwer gezeichnete Finanzwesen zu
betrachten. Durch eine Reihe im Anhang abgedruckter Tabellen den Sachverhalt
veranschaulichend, zeigt Kiesewetter die Versuche des Königs auf, durch
Anleihen bei ausländischen Herrschern, Sozietäten, Bankiers und Privatpersonen
die durch den Krieg völlig zerrütteten Staatsfinanzen zu sanieren, deren
Defizit aufgrund der horrend hohen Militärausgaben und Kriegsschäden selbst
durch ein neues, Konfiskationen und höchste Bußgeldleistungen festschreibendes
Strafrecht nicht hatte verringert werden können. Als Ergebnis seiner auf die
Zeit Roberts von Anjou ausgedehnten fiskalischen Untersuchungen gelingt es
dabei dem Verfasser, entgegen der gesamten bisherigen Forschung eine deutlich
niedrigere Einnahme aus der Erhebung der Subventio
generalis auszumachen.
Daneben wird der von breitester Förderung gekennzeichneten Kirchenpolitik
sowie der Stellung religiöser Minderheiten, denen übrigens in der Provence
größere Toleranz gewährt wurde als im Regno, eine Studie gewidmet. Einige
wenige Bemerkungen erfolgen zu der praktisch unbedeutenden Kultur unter der
Herrschaft eines - außerhalb von Herrscherpflichten und dynastischen Interessen
- wenig profanen Dingen hingewandten Monarchen. Das letzte, eine
Zusammenfassung gleichsam ersetzende Kapitel versucht, zu biographischen
Aussagen zu kommen, weist auf die weiterhin ungelöste Frage, nach dem
tatsächlichen Anteil des Königs, dem Einfluß und dem Wirken seiner Ratgeber hin
und zieht als Fazit, daß der auch in den Zeitzeugnissen und selbst in der
üblichen höfischen Panegyrik farblos erscheinende Herrscher ein homo incognitus bleibt. „Grundsätzlich
halte ich es für unmöglich, daß der Historiker der Moderne die Gedankenwelt
eines mittelalterlichen Menschen und damit die Maxime seines Handelns voll
begreifen kann“ (S. 13), resignierte der Verfasser zu früh. Den Umstand, daß
von der Antike bis zur Neuzeit die politischen Motivationen und ihre Umsetzung
letztendlich doch stets die gleichen geblieben sind, einmal ebenso außer acht
gelassen wie die Tatsache, daß auch Philipp IV. der Schöne in der
zeitgenössischen Historiographie nur als schemenhafte Gestalt auftaucht, bleibt
die Feststellung, daß Kiesewetter selbst die Grundlage für eine Bewertung des
Herrschers und über diese Funktion auch des Menschen Karl von Neapel geschaffen
hat. Allein schon die Auswahl der Ratgeber und Amtsträger sowie der ihnen
gewährte Spielraum zeugen vom staatsmännischen Sachverstand des Königs und
legen charakterliche Strukturen frei. Die vom Verfasser so exakt
nachgezeichneten politischen Handlungen des Angiovinen lassen Beharrlichkeit,
Entscheidungskraft, Realitätssinn, die Fähigkeit, sich Zeitzwängen zu beugen
und dabei die oftmals stark eingeschränkten Ressourcen voll auszuschöpfen,
erkennen. Bei seinem Tod hat Karl II. ein stärkeres Reich hinterlassen als sein
Vorgänger, der mit eiserner Hand regierte und doch die Sizilische Vesper herauf
beschwor, gegen deren Folgen der Sohn während seiner ganzen Herrschaft
anzukämpfen hatte. Ein geschmälertes Erbe hatte er übernommen, ein
konsolidiertes, viele Möglichkeiten eröffnendes weitergegeben. Eine ausführlichere
Beurteilung des homo incognitus steht
folglich noch aus.
Diese Reflexionen wollen - zumal sie über den behandelten Zeitraum
ausgreifen - keineswegs die Verdienste dieser weit über das Niveau einer
Dissertation hinausragenden, wahrhaft monumentalen Gesamtdarstellung - die für
die Publikation gekappten Nebenstränge sind separat als Aufsätze erschienen -
auch nur im geringsten schmälern. Andreas Kiesewetter hat ein in jeder
Beziehung Maßstäbe setzendes Standardwerk geschaffen, das nicht nur durch seine
beeindruckende Kompetenz, den Reichtum an verwertetem Quellenmaterial unter
breiter Einbeziehung der vornehmlich italienischen Sekundärliteratur und die
bestechenden Analysen überzeugt, sondern auch durch den flüssigen Schreibstil,
der den Leser zuweilen vergessen läßt, wieviel Arbeit in diesen Ausführungen
steckt.
Saarbrücken Petra
Roscheck