Juristinnen in Deutschland. Die Zeit von 1900 bis 2003, hg. v. Deutscher Juristinnenbund (= Schriftenreihe Deutscher Juristinnenbund 1), 4. Aufl. Nomos, Baden-Baden 2003. 256 S. Ill.

 

„Recht und Wirklichkeit fallen auseinander“ (S. 22). Diese zwar nur für die Entwicklung von 1922 bis 1933 aufgestellte These (S. 22) ist auf das gesamte erste Kapitel „Juristinnen und Juristinnenbund in der historischen Entwicklung“ (S. 13-58) übertragbar. Insbesondere in der Auswertung von Lebensberichten und Statistiken liegt die rechtshistorische Leistung der Publikation, die anlässlich des 55jährigen Jubiläums des Deutschen Juristinnenbundes in der 4. Auflage erschienen ist.[1]

 

Hinweise zum Beginn der Geschichte der Juristinnen erfolgen meist in einer Aufzählung von „leeren Daten“, die sich zudem auf die Zulassung zum Studium ab 1900 und die Öffnung des Richteramtes für Frauen im Jahre 1922 beschränken.[2] Im Gegensatz dazu wird im ersten Abschnitt „Der Kampf um die Zulassung zur juristischen Ausbildung“ (S. 11-16) in den Vordergrund gestellt, dass mit der Zulassung zum Studium (erstmals in Baden ab 1900, Preußen 1908, Mecklenburg bildete 1909 das Schlußlicht im Kaiserreich) für Frauen keinesfalls der Weg zu den juristischen Berufen geöffnet wurde. Vielmehr konnte das Studium lediglich mit der Promotion abgeschlossen werden. Das erste Staatsexamen sowie der staatliche Vorbereitungsdienst mit dem abschließenden zweiten Examen blieb den Frauen weiterhin verwehrt (S. 13-15). Dennoch versuchten Frauen ihre Rechtskenntnisse zu nutzen, etwa in der bereits 1900 von Camilla Jellinek in Heidelberg errichteten „Rechtsschutzstelle für Frauen“ (S. 15) oder seit 1916 als Gerichtsschreiberinnen (S.16).

 

Eine wesentliche Änderung trat erst mit der Weimarer Republik und dem neu eingeführten Art. 128 Abs. 1 und 2 der Reichsverfassung ein: „Alle Staatsbürger ohne Unterschied sind nach Maßgabe der Gesetze und entsprechend ihrer Befähigung und ihren Leistungen zu den öffentlichen Ämtern zuzulassen. Alle Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte werden beseitigt“. Zusammen mit den Gleichberechtigungsartikel[3] verfügte man nun über ein entscheidendes Druckmittel, um das Gerichtsverfassungsgesetz und die Rechtsanwaltsordnung den veränderten verfassungsrechtlichen Verhältnissen anzupassen. Durch die Unterstützung vieler Frauenverbände, darunter auch die Vorläuferorganisation des heutigen Deutschen Juristinnenbundes (den 1914 gegründeten Deutsche Juristinnenverein) und den Einsatz insbesondere der weiblichen Abgeordneten erreichte man die entscheidenden Gesetzesveränderungen. Leider wird jedoch auch hier die Frage offen gelassen, warum trotz der vielen parlamentarischen und außerparlamentarischen Widerstände (insbesondere des Deutschen Richterbundes und des Deutschen Anwaltvereins) das Gesetz tatsächlich geändert wurde.[4] Zudem werden zwar die Bemühungen zur gewünschten Gesetzesveränderung ausführlich geschildert (S. 17-21), das Ergebnis[5] jedoch nicht erwähnt.

 

Die folgenden Ausführungen zur „Verdrängung der Frauen aus den juristischen Berufen“ (S. 22-33) in der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Zeit bieten durch die Auswertung vieler Statistiken reichhaltiges Informationsmaterial. Gleiches gilt für die Entwicklung der Juristinnen in der Deutschen Demokratischen Republik nach 1945 (S. 44-58), wodurch die 1998 erschienene 3. Auflage ergänzt wurde. Nicht ersichtlich ist, warum diese Übersicht einen ausführlichen Abschnitt über die Stellung der Frau in der DDR im Allgemeinen beinhaltet (S. 48-52). Der Versuch der Verknüpfung mittels der Überschrift „DDR-Juristinnen sind DDR-Frauen“ vermag nicht zu überzeugen, da gleiches für das Frauenbild anderer Epochen und insbesondere bei der Frauenpolitik und Frauensichtweise der Nationalsozialisten gilt.

 

Die Ausführungen zur Entwicklung nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland stellen leider einen Bruch mit der bisher allgemein gehaltenen und gelungenen Darstellung der Geschichte der Juristinnen in Deutschland dar. So beziehen sich diese Ausführungen lediglich auf die Mitglieder des Deutschen Juristinnenbundes und die Aktivitäten der Organisation selber. Lässt der Abschnitt „Die Entwicklungen des Juristinnenbundes nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland" (S. 35-44) dies noch erwarten, enttäuscht der Hauptteil des Buches „Juristinnen und Rechtspolitik“ (S. 59-190). Zwar werden hier alle frauenpolitisch relevanten Themen im Privatrecht, Strafrecht und öffentlichen Recht dargestellt. Jedoch erschöpft sich dieses Kapitel in der detaillierten Ausführung der Arbeiten und Erfolge des Deutschen Juristinnenbundes. Wünschenswert wäre hier zum einen zumindest ergänzend eine allgemeine Darstellung der Juristinnen in Deutschland wie im vorangegangenen Kapitel.[6] Zum anderen wird außen vor gelassen, dass Frauen sich in der Rechtspolitik auch auf anderen Feldern betätigen und betätigt haben, wie beispielsweise im deutschen oder europäischen Parlament oder in anderen Frauen- oder Juristenverbänden.

 

In formaler Hinsicht erschwert der Aufbau der Publikation insbesondere eine wissenschaftliche Nutzung. So sind die Literaturangaben in den Text eingegliedert und es gibt kein zusammenfassendes Literaturverzeichnis. Auch Hinweise auf grundlegende Literatur wie beispielsweise das bereits erwähnte Werk von Beate Schwanecke zur Weimarer Republik oder die Publikation von Barbara Böttger[7] zum Abschnitt über den „Gleichheitssatz im Grundgesetz von 1949“ (S. 59-62) wären wünschenswert.

 

Umso gelungener ist jedoch das letzte Kapitel mit den „Lebensbildern“ (S. 191-248) elf engagierter Juristinnen. Von der ersten Richterin am Bundesverfassungsgericht, Erna Scheffler (S. 197-202), über die Rechtsanwältin und Mitbegründerin des Deutschen Juristinnenbundes, Hildegard Gethmann (S. 219-226), bis zur Verfassungsrechtlerin und Verfassungsrichterin Helga Seibert (S. 245-248) werden die Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie die Hindernisse und Herausforderungen für Juristinnen in Deutschland anhand persönlicher Einzelschicksale überzeugend dargestellt, so dass das Buch dem eingangs erwähnten Ansatz von „Recht und Wirklichkeit“ treu bleibt.

 

Frankfurt am Main                                                                                         Esther Hartwich



[1] Da die 4. Auflage lediglich einige geringfügige aktuelle Änderungen im Bereich „Juristinnen und Rechtspolitik“ (insbesondere zu den Themen Häusliche Gewalt und Zuwanderung) und die Ergänzung von vier neuen „Lebensbilder“ berühmter Juristinnen enthält, scheinen das Jubiläum und interne Veränderungen beim djb (Umzug nach Bonn und der damit verbundene Wechsel in der Geschäftsstellenleitung) die hauptsächlichen Gründe für die Neuauflage zu sein. Entfallen ist allerdings im Abschnitt „Lebensbilder“ der Artikel über Magdalene Schoch, die erste habilitierte Juristin in Deutschland. Die Autorin des Artikels, Konstanze Plett, hat zu Magdalene Schoch jetzt publiziert in Suzanne Karstedt (Hrsg.), „Legal Institutions and collective memories“ (erscheint demnächst bei Hard Publishing).

[2] Vgl. etwa HRG I, S. 1699 (Gleichberechtigung).

[3] Art. 109 II: „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“.

[4] Diese Frage wurde bereits von Inge Beate Schwanecke in ihrer grundlegenden Dissertation „Die Gleichberechtigung der Frau unter der Weimarer Reichsverfassung“, Heidelberg 1977, angedeutet, S. 31.

[5] Gesetz über die Heranziehung von Frauen zum Schöffen- und Geschworenenamt vom 25. April 1922 und das Gesetz über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege vom 11. Juli 1922.

[6] So gibt es beispielsweise keine allgemeinen und zusammenhängend präsentierten Statistiken über den Anteil von Juristinnen in Justiz und Wissenschaft seit 1945. Lediglich für die Jahre 1964, 1970 und 1980 liegt eine ausgewertete Statistik über Frauen in der Justiz vor in: Margarete Fabricius-Brand, Sabine Berghahn, Kristine Sudhölter, „Juristinnen. Berichte, Fakten, Interviews“, Berlin-West 1982, S. 226-231. Für die Wissenschaft bietet Ursula Rust (Hrsg.), Juristinnen an den Hochschulen – Frauenrecht in Lehre und Forschung, Baden-Baden 1997 einige Angaben.

[7]     Barbara Böttger, Das Recht auf Gleichheit und Differenz. Elisabeth Selbert und der Kampf der Frauen um Art. 3 II Grundgesetz, Münster 1990.