Jenks, Susanne, Die Bürgschaft im mittelalterlichen englischen Strafrecht (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 161). Klostermann, Frankfurt am Main 2003. XII, 471 S.

 

Spätestens seit dem wegweisenden Aufsatz Franz Beyerles vom „Ursprung der Bürgschaft“ (1927) wissen wir, welche zentrale Rolle dieses Rechtsinstitut in der germanischen Gesellschaft des frühen Mittelalters gespielt hat. Es war Teil eines ganzen Systems von Einstandspflichten der Familien, Sippen und Genossen. Das galt in besonderem Maße für die angelsächsische Gesellschaft, die man sich gleichsam in Bürgschaftsverhältnisse gegliedert und geordnet vorstellen kann. Wie die Verfasserin in ihrer Berliner phil. Dissertation am Beispiel des englischen Strafverfahrensrechts zeigen kann, hat sich in England diese Tradition bis in das späte Mittelalter und vermutlich noch darüber hinaus bewahrt.

 

Ziel der Dissertation ist eine Darstellung der Geschichte „der englischen Strafprozeßbürgschaft in ihrer gesamten Breite vom 12. bis 15. Jahrhundert“. Dabei geht es der Verfasserin weniger um sozialgeschichtliche Aspekte der Bürgschaftsgewährung, sondern hauptsächlich darum, durch eine Analyse der Gestellungsbürgschaften die Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten der bis dahin weitgehend als identisch angesehenen Bürgschaftsarten „Bail“ und „Mainprise“ herauszuarbeiten.

 

Die Verfasserin stellt ihre Untersuchung auf eine breite Grundlage sowohl edierter als auch bisher nicht veröffentlichter Quellen. Dazu gehören u. a. verschiedene Rechtstraktate, Year Books und Abridgments, Statuten, Anordnungen und parlamentarische Petitionen, Statuten, Formelsammlungen (Registers of Writs) sowie vor allem die für das Mittelalter fast vollständig erhaltenen Akten der King’s Bench mit ca. 5000 Fällen.

 

Insgesamt versucht die Verfasserin zunächst einmal Ordnung in das Wirrwarr einer Fülle von Prozeßbürgschaften zu bringen, was ihr mit der von ihr angewandten Methode nur bedingt gelingt. Zwar ist es durchaus einleuchtend, die Gliederung des umfänglichen Stoffes „am Verlauf des Strafverfahrens“ auszurichten. Das setzte allerdings voraus, daß es nur eine Art dieses Verfahrens gegeben hat. Tatsächlich handelt es sich aber um viele Arten und Varianten von Strafverfahren mit jeweils eigenen Grundsätzen, so beispielsweise um das Handhaftverfahren, das Rügeverfahren, um Prozesse, die mit einer „Privatklage“ eröffnet wurden und insoweit mit dem kontinentalen Akkusationsprozeß vergleichbar sind; ferner um Strafprozesse, die entweder von Amts wegen eingeleitet oder, nachdem der Kläger die Verfolgung seiner Sache aufgegeben hatte, ex officio weitergeführt wurden und daher Ähnlichkeiten mit einem Inquisitionsprozeß aufweisen sowie schließlich erstinstanzliche und zweitinstanzliche Strafprozesse. Unklar bleibt auch, wie sich in dieses Geflecht von Prozeßarten das von der Verfasserin erwähnte Versäumnisverfahren (S. 224) fügt. Außerdem fragt man sich, ob das englische Recht anders als in Deutschland schon im 12. Jahrhundert strikt zwischen Zivil- und Strafverfahren unterschieden hatte, zumal man erfährt, daß es offenbar eine leider nicht näher erörterte Entwicklung von der Erfolgshaftung zur Schuldhaftung gegeben habe, und daß es in der nicht näher erläuterten sog. „Trespass-Klage“ um Schadensersatz, also einen zivilrechtlichen Anspruch gegangen sei.

 

Statt nun die Bürgschaften i. S. von Sicherheitsleistungen (Kaution) jeweils auf diese unterschiedlichen Strafverfahren zu beziehen, damit man sie insgesamt auf dem Hintergrund des historischen englischen Strafprozeßrechts einordnen und beurteilen kann, bringt die Verfasserin mit den Hauptgliederungspunkten ihrer Arbeit „Die Bürgschaft der Prozeßparteien vor Prozeßbeginn“, „Bürgschaft der Prozeßparteien während des Verfahrens“ und „Bürgschaft zwischen bzw. nach Prozessen“ nicht die gewünschte juristische Klarheit in die Materie. Dies um so mehr, als die Frage nach dem Beginn, dem Fortgang und dem Ende eines Prozesses im Hinblick auf die unterschiedlichen Verfahrensarten nicht einheitlich beantwortet werden kann. So zählt die Verfasserin nicht ohne weiteres nachvollziehbar zu den Bürgschaften „nach Abschluß eines Verfahrens“ auch solche, die Personen zu leisten hatten, gegen die „keine formelle Anklage“ erhoben worden war (S. 299). Als Beispiel wird der Fall einer wegen eines Eigentumsdelikts beschuldigten Frau geschildert, die vor Gericht gebracht worden war, ohne daß sich jemand zu einer Klage meldete und die nun nach Stellung von Bürgen aus der Haft entlassen wurde. Kaum einleuchtend wird zudem unter das Hauptkapitel „Bürgschaft für das Erscheinen des Beklagten vor Gericht“ das Unterkapitel „Bürgschaft nach dem Ende des Hauptverfahrens“ subsumiert.

 

Außerdem hat sich die Verfasserin mit der Fachsprache des Prozeßrechts nicht genügend vertraut gemacht. Insoweit ist schon der Titel der Arbeit ungenau, denn es geht nicht um die Bürgschaft im materiellen Strafrecht, sondern im Strafverfahrensrecht, das die Verfasserin zusätzlich und irritierend am Ende ihrer Arbeit in dem besonderen Kapitel „Die Bürgschaft im Strafverfahren“ erörtert. Ferner werden die Begriffe Klage und Anklage undifferenziert verwendet sowie von einem „Freispruch durch Ordal“ oder mißverständlich von einem Ordal als „Endurteil“ gesprochen u. a. m.

 

Ohne Zweifel wird der Arbeit dadurch unmittelbare Anschauung und Lebendigkeit verschafft, daß die Verfasserin immer wieder die Quellen selbst sprechen läßt. Leider bleiben auf diese Weise viele englische und lateinische Termini technici unerörtert, wie überhaupt längere Originalzitate eingehender hätten interpretiert werden sollen.

 

Abgesehen von diesen Schwächen handelt es sich um eine durchaus wertvolle, ungewöhnlich fleißige, inhaltsreiche und von außergewöhnlichen Detailkenntnissen zeugende Dissertation. Dies gilt um so mehr, als die Verfasserin trotz ihrer etwas unglücklichen Hauptgliederung erkennt und berücksichtigt, daß für die Beurteilung der von ihr in allen Einzelheiten beschriebenen Prozeßbürgschaften die „Klageart (Privat- und Kronzeugenklagen, ad sectam regis geführte Prozesse sowie Rügen)“ durchaus eine Rolle spielt. Darüber hinaus kann sie zeigen, daß für die Art und den Umfang der Bürgschaften die Gattung der Verbrechen und die „Verteidigungsstrategie der Bürgensteller“ maßgebend gewesen sind. In fast allen Fällen sollte mit der vom Kläger/Ankläger und vom Beschuldigten zu leistenden Bürgschaft hauptsächlich die Durchführung des Prozesses gewährleistet werden. Insoweit war die vom Kläger/Ankläger zu leistende Bürgschaft nicht nur – ähnlich wie beim gemeinrechtlichen Kalumnieneid – eine Bekräftigung für die Ernsthaftigkeit seiner Anschuldigung, sondern sollte in erster Linie auch eine Garantie für sein Erscheinen zum Gerichtstermin bieten. Letzteres galt insbesondere auch für den eines Verbrechens beschuldigten Täter; und war dieser bereits festgenommen worden, so konnte er mit der Bürgenstellung seine Entlassung aus der Haft erreichen. In bestimmten Fällen – so z. B., wenn jemand im Rügeverfahren eines Eigentumsdelikts bezichtigt wurde – mußten von dem Betroffenen Bürgen gestellt werden, die nicht nur für sein Erscheinen vor Gericht, sondern auch sub pena für sein Wohlverhalten verantwortlich sein sollten. Bürgen für Wohlverhalten mußten ebenfalls von einem begnadigten Täter gestellt werden. Insgesamt untersucht die Verfasserin eine Fülle von Bürgschaftsfällen, darunter die Bürgschaftsgewährung durch einen Sheriff oder auf besonderen Befehl des Königs, die sog. Attachment-Bürgschaft, die Bürgschaft im Ächtungs- und Beweisverfahren, die Bürgschaft für Mittäter, die Bürgschaft bis zur Vorlage eines „Indictments“ oder die sog. Präventivbürgschaft (Surety of Peace), um nur einige zu nennen. Darüber hinaus befaßt sich die Verfasserin mit den Aufgaben und der Zahl der jeweils aufzubringenden Bürgen, deren Beziehungen zu den Bürgenstellern, deren Herkunft, deren Art der Haftung und setzt sich u. a. mit dem Problem auseinander, warum auch Mittäter oder sogar Genossen des Anklägers/Klägers als Bürgen akzeptiert wurden. Den Grund für die großzügige Gewährung von Bürgschaften sieht sie in erster Linie weniger darin, daß, wie allgemein angenommen, dem Staat die notwendige Zwangsgewalt fehlte, um die Strafverfahren durchzusetzen. Vielmehr sei es zum einen darum gegangen, daß der König im Falle der Nichterfüllung einer Bürgschaft von der dann zu zahlenden Geldbuße profitierte, und zum anderen habe „die Wertschätzung der persönlichen Freiheit der Untertanen durch die königlichen Richter“ eine maßgebliche Rolle gespielt. Insgesamt sei aber die Bürgschaft, indem sie „den reibungslosen Ablauf eines gerichtlichen Verfahrens“ oder, wie im Falle der Surety of Peace, künftiges Wohlverhalten sichern sollte, ein „Instrumentarium des Friedens“ gewesen.

 

Über diese allgemeinem Erkenntnisse hinaus gelingt der Verfasserin eine durchaus überzeugende und auf das einschlägige Quellenmaterial gestützte Differenzierung von „Bail“ (frz. „bailler“ = übergeben) und „Mainprise“ (zusammengesetzt aus „main“ und „prise“, d. h. „Hand ergreifen“, „Hand nehmen“). Die Bail-Bürgschaft konnte ausschließlich vom König gewährt werden. Dabei wurde dem Bürgen, der für die Anwesenheit des Angeklagten am Verhandlungstag zu sorgen hatte, das Recht gewährt, den Ausgebürgten bis zur Verhandlung selbst zu inhaftieren. Anders nach Auffassung der Verfasserin bei „Mainprise“: Hier hatten die Sheriffs zwar selbst das Recht zur Inhaftierung; sie konnten aber dieses Recht nicht ohne besonderen Befehl des Königs an die Bürgen übertragen. Somit mußten die Bürgen für die Anwesenheit des Beschuldigten vor Gericht sorgen, ohne daß ihnen ein Inhaftierungsrecht gegen den Ausgebürgten zugestanden hätte.

 

Sieht man einmal von der etwas ungeschickten Strukturierung der Dissertation ab, so handelt es sich um eine überaus kenntnisreiche, gründliche und gediegene Arbeit, mit der die Forschung auf dem Gebiete der mittelalterlichen englischen Prozeßbürgschaft ein bedeutendes Stück vorangekommen ist. Sie fordert zu einem Vergleich nicht nur mit Prozeßbürgschaften im deutschen Verfahrensrechts, sondern auch mit Sicherheitsleistungen in Verfahren anderer europäischer Rechtskreise heraus. Nicht zuletzt hat die Verfasserin mit ihrer eine Fülle von Einzelinformationen enthaltenden Arbeit ein zuverlässiges Nachschlagewerk vorgelegt, das seines gleichen sucht.

 

Göttingen                                                                                                       Wolfgang Sellert