Huonker,
Thomas, Diagnose: „moralisch defekt“. Kastration, Sterilisation und Rassehygiene
im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890-1970. Orell Füssli
Verlag, Zürich 2003. 286 S., Ill.
Das bereits in der F.A.Z. wohlwollend besprochene Buch des Zürcher Historikers Thomas Huonker bietet einem nicht populärwissenschaftlich interessierten Leserkreis nur wenige neue Aspekte aus der (Rechts-)Geschichte der modernen nordatlantischen Eugenik. Die Tatsache, dass die Schweiz – und hier insbesondere die psychiatrische Universitätsklinik Burghölzli – eine mit ihrem ersten wirklich bedeutenden Psychiater August Forel einsetzende und von Eugen Bleuler fortgesetzte Vorreiterrolle in der europäischen Eugenikdebatte eingenommen hat, ist bislang keineswegs unerforscht. Auch das geistes- und naturwissenschaftliche Argumentationsreservoir, auf das sich schon Forel stützen konnte (Charles Darwin, Ernst Haeckel und Friedrich Nietzsche), ist in der Literatur seit langem bekannt. Jedoch ist das bei Huonker flüssig erzählt und auf die wesentlichen Zentralgesichtspunkte beschränkt.
So wird – erneut
– deutlich: es war die moderne west- und mitteleuropäische Psychiatrie, die, gestützt
auf die Vererbungslehre, der nordatlantischen Sterilisationsgesetzgebung und
-praxis und der deutschen Krankenmordpraxis das theoretische Rüstzeug
verschaffte und auch selbst kräftig Hand mit anlegte. Die Schweizer Psychiater
hatten und haben dabei den deutschen nur eines voraus: sie selbst kamen nie in
die Verlegenheit, selbst am Gashahn von Tötungsanstalten wie Hadamar, Grafeneck
oder Bernburg stehen zu können/wollen/müssen. Die von Huonker (wieder)
gelieferten Belege über die theoretische Ausrichtung auch vieler Schweizer Psychiater
zur Geisteskrankeneuthanasie unterscheiden sich von der sonstigen europäischen
und deutschen Kakophonie[1]
nicht.
Für den Rechtshistoriker bietet die Schrift darüber hinaus vor allem eines: Moderne, eugenisch motivierte Initiativen des Gesetzgebers zur Unfruchtbarmachung Geisteskranker (wozu bekanntlich nach Forels und Bleulers Ansicht auch die „geborenen Verbrecher“ und die „moralisch Schwachsinnigen“ gehörten) hat die Schweiz anders als (in dieser Reihenfolge:) mehrere Bundesstaaten der Vereinigten Staaten, Dänemark, Deutschland und andere Staaten nicht unternommen. Nur das Kanton Waadt rang sich zu einem Sterilisationsgesetz durch. Das bedeutete aber für die sonstige kantonale Praxis herzlich wenig: Huonker zeigt auf, wie insbesondere in Zürich und Bern ein lokales informelles System der Verflechtung zwischen Psychiatrie und Vormundschaftswesen über Jahrzehnte in großem Stile ohne gesetzliche Grundlage eugenisch motiviert sterilisieren und kastrieren konnte, die Eheschließungsfreiheit nach eugenischem Gutdünken beschränken und Schweizer Bürger dem deutschen T-4-Mordprogramm überlassen konnte.
Diese Praxis, auch das macht Huonker dem Arztrechtler hinreichend deutlich, konnte sich nicht durchgängig darauf berufen, dass der ärztliche Eingriff indiziert (wenn auch meist eugenisch indiziert) und von der Einwilligung der Patientin (in der Mehrzahl wurden Frauen sterilisiert) bzw. des Patienten gedeckt war. Denn diese Einwilligung war in vielen Fällen erzwungen: Die Betreffenden wurden einfach vor die Alternative Sterilisation – Anstaltsunterbringung oder vor die nicht weniger zwanghafte Alternative Sterilisation – Eheeinspruch gestellt. Auch hierbei arbeiteten städtische Behörden (Amtsvormünder, Wohlfahrtsfürsorger) und Psychiatrie gedeihlich, d. h. im Sinne der Verhinderung minderwertigen Nachwuchses, zusammen.
Hierzu liefert die Schrift einige durchaus anschauliche Fallgeschichten, die Huonker in den stadtzürcherischen Archiven recherchieren konnte und die sich der Rechtstatsachenforschung zuschreiben lassen. Aus diesen Rekonstruktionen wird vor allem eines deutlich: Männer machen Geschichte und Recht (bzw. Unrecht) – es sind die Namen von Eugen Bleuler, Charlot Strasser, Hans Wolfgang Maier, Robert Schneider und anderen, an denen Huonker seine Erörterungen ausrichtet. Institutionelle Strukturen oder gesetzliche, verordnungsmäßige oder verwaltungsinterne Vorgaben stehen nicht im Vordergrund des Interesses, sondern werden nur beiläufig mitbehandelt.
Damit sind bereits die Schwachstellen der Arbeit angesprochen. Über eine logische Systematik scheint sich der Verfasser herzlich wenig Sorgen gemacht zu haben. Wiederholungen sind mehrfach über den gesamten Text verstreut. Die beiden Schlusskapitel haben keinen erkennbaren thematischen Bezug, sondern liefern wohlfeile Psychiatriekritik in genere. Es gibt auch handgreifliche Fehler: So hält der Autor Karl Binding ebenso wie Alfred Hoche für einen deutschen Psychiater (offensichtlich hat Huonker die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens nicht in der Hand gehabt, sonst hätte ihm dieser Lapsus doch auffallen müssen).
Darüber hinaus legt Huonker seine rechtstatsächliche Basis nicht offen. An keiner Stelle des Buches findet sich eine Beschreibung der verwendeten Archivalien, Huonker macht nicht einmal den Versuch, seine Recherchen auf statistische Füße zu stellen. Im Gegenteil: bei seinen Aussagen zum Ausmaß der gesetzlich nicht abgesicherten Sterilisationspraxis stützt sich der Autor auf die Sekundärliteratur. Ein deutliches Manko ist auch, dass die Arbeit schon im Titel und später auch im Text vielfach suggeriert, die eugenisch motivierte, nicht gesetzlich gebundene Sterilisationspraxis habe bis 1970 (dem Ende von Huonkers Untersuchungszeitraum) angedauert. Wenn das wirklich so ist (was nicht bestritten werden soll), dann fehlen ab 1945 jedenfalls Nachweise in einem Ausmaß, das sich statistisch mit dem bis dorthin zusammengetragenen vergleichen ließe.Die an einen breiten Leserkreis gerichtete Schrift Thomas Huonkers macht wie viele andere, thematisch verwandte Arbeiten betroffen – betroffen wegen der ausgebreiteten Einzelschicksale. Über diese Betroffenheit hinaus bleibt der rechtliche und auch der historische Ertrag aber doch eher schmal.
Leipzig Adrian
Schmidt-Recla