Hocks,
Stefan, Gerichtsgeheimnis und Begründungszwang. Zur Publizität der
Entscheidungsgründe im Ancien Régime und im frühen 19. Jahrhundert (=
Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, Rechtsprechung.
Materialien und Studien 17). Klostermann, Frankfurt am Main 2002. XII, 209 S.
Bei der vorliegenden Monographie handelt es sich um eine von Regina Ogorek betreute Frankfurter rechtshistorische Dissertation. Zentrales Forschungsanliegen des Verfassers ist nicht so sehr die historische Rekonstruktion der Einführung einer gerichtlichen Begründungspflicht, sondern vielmehr, der Frage nachzugehen, warum die Gerichte erst seit etwa 200 Jahren verpflichtet sind, ihren Entscheidungen schriftliche Begründungen beizufügen. Die tiefe Verwurzelung der Überzeugung hinsichtlich der Sachrichtigkeit einer solchen Regelung steht in offenkundigem Gegensatz zum überraschenden Befund des Verfassers, dass es zu einer solchen Regelung offenbar erst am Ende des Ancien Régime gekommen ist. Der Verfasser fasst seine wesentlichen Ergebnisse mit den Worten zusammen (S.189): „Nicht die Kontrolle der Justiz von außen, nicht der von den Prozessparteien an sie herangetragene Wunsch nach Partizipation des mündigen ‚Rechtsprechungsbürgers’ (etwa im Zuge der Aufklärung) hat eine positive Haltung von Juristen gegenüber einer schriftlichen Kommunikation ihrer Entscheidungsmotive über lange Zeit dominiert: Es war das Interesse der Entscheidungsträger selbst, das in verschiedenen Weisen die Außendarstellung der Entscheidungsgründe befördert hat.“ Der Konkretisierung und der Verdeutlichung dieser These gilt die gesamte Untersuchung. Diese beginnt mit der lebhaften Schilderung eines Einzelfalls. Anfang 1610 konnte die Juristenfakultät zu Jena zum ersten Mal in einem Gutachten feststellen, Fakultätsjuristen, die von örtlichen Schöffenrichtern im Wege der Aktenversendung um eine verbindliche Entscheidung gebeten würden, sollten auf Anforderung eine Begründung ihrer Ansicht nachreichen. Ausgehend von der Analyse dieses Gutachtens (S. 35ff.), stellt der Verfasser in ausführlicher Weise den Meinungs- und Streitstand zu dieser Frage in der deutschen gemeinrechtlichen Literatur und Entscheidungspraxis des 17. und 18.Jahrhunderts dar. Er wertet im einzelnen nicht nur Fakultätsgutachten und Entscheidungssammlungen, sondern vor allem die unzähligen Stellungnahmen in der damaligen Dissertations- und Disputationsliteratur an den deutschen Universitäten im Alten Reich aus. „Gesucht werden soll“ – schreibt er (S. 11) – „nach Erklärungen, weshalb die Entscheidungsmotive den Parteien verweigert oder vielleicht auch bereitwillig präsentiert wurden. In den Mittelpunkt rücken daher Vorbehalte, Erwartungen und Ansprüche gegenüber solch öffentlich zugänglichen Begründungstexten.“ „Im Verlauf der Untersuchung“ – schreibt er fort – „stellte sich jedoch heraus, dass sich zur richterlichen Begründungspflicht in deutlicher Mehrheit Rechtsprofessoren und hohe Richter zu Wort gemeldet haben, eine Personengruppe also, die mit der Frage nach der verordneten Publizität von Entscheidungsgründen eine sie selbst treffende Verpflichtung diskutierte.“ Die Ablehnung der damaligen Gerichte, rundweg Begründungen gegenüber den Parteien öffentlich zu machen, wird nach Ansicht des Verfassers dadurch erklärbar, dass die Prozessparteien, vor allem ihre Anwälte, als streitsüchtig galten, und deshalb die Mitglieder der Richterkollegen um ihre Autorität fürchteten. „Die Kommunikation über Recht, erst recht unter Anwesenden“ – fasst der Verfasser zusammen (S.83) – „[wurde] als risikoreich betrachtet. Nur bei der Aktenversendung fielen die meisten der Vorbehalte weg. Der Ortsrichter, der eine fremde Entscheidung verkündete und fremde Gründe referierte, war der Kritik seiner Abnehmer nicht so offen ausgesetzt und hatte die endlosen Wortgefechte weniger zu befürchten.“ Insoweit wird hier der andere Argumentationsstrang sichtbar, welcher bereits in dem erwähnten Fakultätsgutachten aus Jena thematisiert wurde: die Offenbarung von Gründen kann die Streitparteien beruhigen und die Autorität des Gerichts festigen. Unter dem Druck der Bindung des Richters an das positive Recht, die nach einer Einhaltungskontrolle verlangte, wurde Ende des 18.Jahrhunderts die Idee der Sachgemäßheit einer Offenbarung der Urteilsgründe zwingend. Die Richter merkten – so der Verfasser -, dass die Veröffentlichung der Entscheidungsgründe sie argumentativ erheblich entlastete gegenüber den Parteien und der Öffentlichkeit. Die Begründungspflicht habe zugleich den Anspruch auf Argumentation und juristische Methode bei der Urteilsfindung erhöht und insoweit Ende des 18. Jahrhunderts auch die Juristenausbildung beeinflusst. Diesem Funktionenwandel ist der zweite Teil der Untersuchung gewidmet (S. 85ff.): „Neue Richter und neue Parteien: Vom privaten Zweifel zum öffentlichen Vertrau’n“. Damit führt die Arbeit zum Ausgang des 18. und in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, wo die Begründungspflicht von Urteilen einen gesetzlichen Niederschlag und durch die systematische Veröffentlichung von Rechtsprechungssammlungen eine endgültige Absicherung erfuhr.
Am Ende der Lektüre ist der Leser von der These des Verfassers voll überzeugt. Dieser stellt seine Analyse in einem lebendigen Stil dar. Durch Darstellung, Wortwahl und Platzierung der zeitgenössischen Zitate gestaltet der Verfasser seine Ausführungen in ganz eindringlicher, manchmal vielleicht ein wenig zu plakativer Weise. Die Arbeit hat übrigens bereits eine sehr positive Stellungnahme Gerd Roelleckes in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 2002 erfahren. Auch der Rezensent hat aus der Lektüre viel gelernt. In mancher Hinsicht bleibt jedoch der Gesamteindruck ambivalent. Der allgemeine Anspruch aus dem Titel, in welchem von „Publizität der Entscheidungsgründe im Ancien Régime und im frühen 19.Jahrhundert“ die Rede ist, reduziert sich auf eine Untersuchung des Problems in den deutschsprachigen Territorien des 17. bis Anfang des 19.Jahrhunderts. Völlig ausgeklammert bleibt eine Einordnung der Urteilsbegründung und der Urteilstechnik im gesamteuropäischen Raum. Dies ist umso bedauerlicher, weil die gemeinrechtlichen Juristen dieser Zeit aus einem allgemein europäischen Hintergrund argumentierten. Urteilsgründe waren übrigens im 16.-17. Jahrhundert den italienischen Gerichtshöfen der Rotae („motiva sunt pars sententiae“) und manchen spanischen Gerichtshöfen, etwa in Katalanien bis zur „Nueva Planta“ Anfang des 18. Jahrhunderts, durchaus geläufig. Da die Arbeit am Frankfurter Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte entstanden ist, hätte man wohl auch eine solche europäische Einordnung des Problems erwarten dürfen. Wenn er z. B. von Gaetano Filangieri spricht und von seiner Schrift von 1774 (S. 151ff.), beschränkt sich der Verfasser bezeichnenderweise auf die Zitierung der deutschsprachigen Übersetzung der „Gedächtnisschrift von D. Thomasi auf den Richter Gaetano Filangieri“ übersetzt von Friedrich Münther (Ansbach 1790). Dass zur neapolitanischen Aufklärung und zu der damaligen Reformdebatte bei der Reform der Justizverfassung Mitte des 18. Jahrhunderts in Neapel eine reichhaltige, auch italienische Sekundärliteratur existiert, wird in keinerlei Weise bemerkt. Auch die entsprechenden Reformen im deutschen Verfahrensrecht Anfang des 19.Jahrhunderts sind nur verständlich vor dem Hintergrund der prozessrechtlichen Vorschriften des französischen Code de procédure civile. Wenn sich etwa im Frühjahr 1816 die Landstände in Kurhessen mit der Forderung an ihren Landesherrn wandten, die Richter zu einer Mitteilung der Entscheidungsgründe zu verpflichten (siehe S. 85ff.), so wird dies alles nur dadurch verständlich, dass Teile der kurhessischen Territorien einige Jahre im Königreich Westfalen das französische Prozessrecht und die darin verankerte Verpflichtung, Zivilurteile zu begründen, kennen gelernt hatten. Noch nicht einmal in Fußnoten wird auf eine solche Entwicklung verwiesen: Die Perspektive des Verfassers bleibt in jeder Hinsicht auf die deutschen Quellen und auf den innerdeutschen Diskurs und das innerdeutsche Schrifttum beschränkt. Der Verfasser betont nach Ansicht des Rezensenten auch übermäßig den Gegensatz zwischen der Binnenargumentation des Richterkollegiums im Rahmen einer Aktenrelation und eines Votums und der Technik der Urteilsbegründung. Ein Blick auf die gemeinrechtliche Tradition würde zeigen können, dass ein Gegensatz zwischen diesen beiden Aspekten der Urteilsfindung eigentlich nicht besteht (insoweit missverständlich die Zitierung des Rezensenten auf S. 128, Fn. 380). Damit wäre auch deutlicher zu verstehen, warum etwa in der spanischen und italienischen Tradition Urteile so ganz anders aufgesetzt und begründet werden. Der Verfasser scheint zwar einige ältere Arbeiten des Rezensenten hierzu zu kennen, erwähnt jedoch bezeichnenderweise gerade die jüngeren, welche sich mit einer solchen gesamteuropäischen Perspektive befassen, nicht (siehe F. Ranieri, Styles judiciaires dans l’histoire européene: Modèles divergents ou tradition communes?, in: R. Jacob (ed.), Le juge et le jugement dans les traditions juridiques européennes. Études d’histoire comparée, Paris L.G.D.J. (Droit et société 17) 1996, S. 181-195; F. Ranieri, Das Reichskammergericht und der gemeinrechtliche Ursprung der deutschen zivilrechtlichen Argumentationstechnik, in: ZEuP 1997, S. 718-734). Der Verfasser hat unbestreitbare Verdienste bei der Offenlegung mancher Momente der deutschsprachigen Diskussion zu unserem Thema. Es bliebe allerdings weiterhin wünschenswert, dass einmal die zentrale Frage der richterlichen Arbeit und des richterlichen Selbstverständnisses auch in einem gesamteuropäischen Blickwinkel erforscht würde.
Saarbrücken Filippo
Ranieri