Heinemann, Rebecca, Familie zwischen Tradition und
Emanzipation. Katholische und sozialdemokratische Familienkonzeptionen in der
Weimarer Republik (= Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte
11). Oldenbourg, München 2004. 349 S.
Kernthema der Untersuchungen von Heinemann ist die Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Familienmodell im außerordentlich stabilen katholischen und sozialdemokratischen Milieu der Weimarer Zeit, die beide in Konkurrenz und im Austausch miteinander standen. Die Thematik ist auch für den Rechtshistoriker, der sich mit der Praxis des Familienrechts und mit dessen in Aussicht genommenen Reformen befasst, von großem Interesse. Tiefgreifende institutionelle und kulturelle Unterschiede bestimmten die Frage, auf welche normativen Grundlagen die Familie beruhe, welche Funktionen ihr zukämen und durch welche Maßnahmen sie zu fördern sei. Die Verfasserin arbeitet zunächst die destabilisierenden Einflüsse des Krieges auf das Familienleben (u. a. Selbständigkeitserfahrungen der Frau; Jugendverwahrlosung; Fehlen des Vaters; staatliche Unterstützungsleistungen) heraus (S. 21ff.), mit denen andererseits eine Hochschätzung der Familie korrespondierte. Zu dieser Zeit wurde erstmals der Begriff „Familienpolitik“ gebräuchlich. Die Fortschritte im Bereich familienpolitisch relevanter Felder der Sozialgesetzgebung förderten das „Bewusstsein für die Notwendigkeit weiterer familienpolitischer Maßnahmen und staatlicher Eingriffe in den familialen Raum“ (S. 65). Es verwundert deshalb nicht, dass die Familie (einschließlich der unehelichen Kinder) in den Schutzbereich der Weimarer Reichsverfassung aufgenommen wurde (Art. 119 [Schutz der Ehe und Förderung der Familie], Art. 120 [Erziehungspflicht und Erziehungsrecht der Eltern] und Art. 121 [Gleiche Bedingungen für die unehelichen wie für die legitimen Kinder]). Die recht spät erfolgte Aufnahme der Art. 119 und 120 in die Verfassung durch den Verfassungsausschuss der Nationalversammlung geht im wesentlichen auf Anträge des Zentrumsabgeordneten Konrad Beyerle zurück, die christlich-naturrechtlich geprägt waren, während der Nichtehelichenartikel erst vom Plenum auf Antrag der SPD und der DDP beschlossen wurde. Wenn auch der konservative Ursprung des Gedankens, Ehe und Familie Verfassungsrang zu verleihen, im Vordergrund stand, so enthielten die drei Artikel auch emanzipatorische Elemente, welche die Möglichkeiten zu einer Reform der Gesetzgebung offen ließen.
Dieser stand jedoch der katholische, vom Zentrum weitgehend übernommene Familienbegriff entgegen. Die Familie war als eine metaphysische und überstaatliche Ordnung gegen willkürliche staatliche Eingriffe zu schützen, was im Einklang mit dem Prinzip der Privatautonomie des bürgerlich-patriarchalischen, im Bürgerlichen Gesetzbuch kodifizierten Familienmodells übereinstimmte. Als kleinste Gemeinschaftsform bildete die Familie die „Keimzelle des Staates“ und die Grundlage einer gesellschaftlichen Erneuerung (S. 126ff.), wobei Individuum, Familie und Staat wechselseitig aufeinander bezogen und gegenseitig auf einander angewiesen waren. Demgegenüber lag dem sozialdemokratischen Familienbegriff ein personalistisch-individualistisches Verständnis der Familie zugrunde, das gleichzeitig der vehement zurückgewiesenen kommunistischen Familienauffassung widersprach (S. 144ff.). In der Sozialdemokratie kristallisierte sich ein „neues Idealbild der ,sozialdemokratischen Familie’ heraus, bei dem die Beziehungen zwischen den Ehegatten durch ein gleichberechtigtes Verhältnis bestimmt waren und die Forderung nach der Achtung vor dem Kind als dem ,Träger der werdenden [sozialistischen] Gesellschaft’ realisiert war“ (S. 144). In dem Abschnitt: „Bankrott der bürgerlichen Familie?“ (S. 151ff.) beschreibt die Verfasserin den Diskurs über die Ehe (sakramentales Eheverständnis auf katholischer Seite; Kritik an der „Zwangsehe“ bei der SPD) und über die „Nichtehelichenfrage“. Die katholische Position zielte bei vorsichtigen Überlegungen einer Nichtehelichenrechtsreform auf den Schutz der legitimen Ehe, während die Sozialdemokraten die Gleichstellung des unehelichen mit den ehelichen Kindern forderte und die gesellschaftliche Anerkennung der ledigen Mutterschaft betrieb. Diese weltanschauliche Kluft zwischen der SPD und dem Zentrum verhinderte 1929/30 eine Reform des Ehescheidungs- und des Nichtehelichenrechts, die erst 1938 bzw. 1969 zustande kam.
Im letzten Teil behandelt die Verfasserin die bevölkerungspolitische Diskussion („Zugriff auf die Familie“; S. 213ff.). Nach einem Überblick über die Bevölkerungsentwicklung und den Wandel der Familienstruktur seit der Jahrhundertwende geht sie ausführlich auf Friedrich Burgdörfer (von 1929-1939 Abteilungsleiter im Statistischen Reichsamt; anschließend Präsident des Bayr. Statist. Landesamts) ein, der die Familienstatistik begründete, die Aufschluss über die Zahl der bestandenen Ehen und die Zahl der aus ihr hervorgegangenen Kinder geben sollte. Wie für den 1919 gegründeten Reichsbund der Kinderreichen (S. 232ff.) war die „Bevölkerungsfrage“ für Burgdörfer nur als „Familienfrage“ zu lösen (Verbesserung des Mutterschutzes; Familienlohn; Kinderzulagen; Familienwahlrecht; Steuerfreibeträge usw.). Gegenüber den völkisch-national eingestellten Bevölkerungspolitikern stellte für die katholische Kirche die Familie „eine selbständige Größe eigenen Rechts“ dar, „was ihre Existenz und ihren Zweck, die Fortpflanzung“, betraf (S. 296). Überspannte Gemeinschaftsvorstellungen wurden ebenso zurückgewiesen wie Eheverbote und sonstige Zwangsmaßnahmen. Die Enzyklika Casti connubii von Pius XI. lehnte 1930 die Sterilisation als unzulässigen Eingriff in die Integrität des Menschen scharf ab. In diesem Zusammenhang geht die Verfasserin auch ausführlich auf die z. T. abweichende Position des katholischen Theologen und Eugenikers Hermann Muckermann (Abteilungsleiter am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik seit 1927) ein. Demgegenüber standen die Sozialdemokraten einer Familienplanung (Geburtenkontrolle) und Eheberatung positiv gegenüber. Während Alfred Grotjan als Parteisprecher der SPD bis 1925 für Gesundheits- und Bevölkerungsfragen pronatalistische Ziele verfolgte und eine quantitative Bevölkerungspolitik befürwortete, hob die Mehrheit der Sozialdemokraten seit Mitte der 20er Jahre die positiven Folgen des Rückgangs der Geburtenzahlen hervor. Die SPD befürwortete eine breit wirksame Eugenik als Förderung der Volksgesundheit. Unter Ablehnung von Zwangsmaßnahmen war die SPD die erste politische Partei, welche „auch negative Eugenik politisch diskursfähig“ gemacht hat (S. 288). Abschließend stellt die Verfasserin allerdings sehr knapp die Verschärfung der Bevölkerungsfrage in der Endphase der Weimarer Republik dar (S. 289ff.). Die „Schlussbetrachtung“ (S. 233-297) fasst die Ergebnisse der Untersuchungen, allerdings nicht immer hinreichend aussagekräftig, zusammen; das nützliche Personenregister (S. 347ff.) schließt das Werk ab.
Die Untersuchungen der Verf. verdeutlichen, dass die familienpolitische Diskussion und die Reformbestrebungen der Weimarer Zeit auf familienpolitischem Gebiet erst vor dem Hintergrund der weltanschaulichen Positionen insbesondere des Zentrums bzw. der katholischen Kirche und der SPD voll verständlich sind. In diesem Zusammenhang besticht vor allem die Analyse der verfassungspolitischen Diskussion über den Schutz der Familie in der Weimarer Nationalversammlung. Weiterführend sind auch die Abschnitte über den katholischen und sozialdemokratischen Familienbegriff sowie über den Diskurs zur Ehe- und Unehelichenfrage. Dagegen ist entsprechend der Gesamtanlage des Werkes die Darstellung der Reformversuche im Ehescheidungs- und Nichtehelichenrecht sehr knapp ausgefallen. Ähnliches gilt auch für das eugenische Programm der SPD (vgl. S. 288). Insgesamt liegt mit dem Werk von Heinemann eine auch für die Geschichte des Familienrechts im 20. Jahrhundert nützliche Untersuchung, insbesondere auch im Hinblick auf die Familienrechtsgeschichte der frühen Bundesrepublik, vor.
Kiel |
Werner Schubert |