Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hg. v. Merten, Detlef/Papier, Hans-Jürgen. Bd. 1 Entwicklung und Grundlagen. C. F. Müller, Heidelberg 2004. XXVIII, 1062 S.
Fünfzig Jahre nach Erscheinen des
ersten Bandes des u. a. von Hans Carl Nipperdey, Ulrich Scheuner und Karl
August Bettermann herausgegebenen sieben Bände umfassenden „Handbuchs der
Theorie und Praxis der Grundrechte“ legen die Herausgeber Detlev Merten und Hans-Jürgen
Papier in Zusammenarbeit mit vielen anderen Staatsrechtlern und mit
Unterstützung der Thyssen-Stiftung den ersten Band eines auf neun Bände
konzipierten „Handbuchs der Grundrechte in Deutschland und Europa“ vor.
Behandelt werden sollen: Entwicklung und Grundlagen (Bd. I), Grundrechte in
Deutschland, Allgemeine Lehren und Einzelgrundrechte (Bd. II bis V),
Europäische und internationale Grund- und Menschenrechte (Bd. VI), sowie die
Grundrechte in den einzelnen Staaten Europas (Bd. VII bis IX). Das Handbuch
wendet sich vor allem an die staatsrechtliche Theorie und Praxis; es soll als
Nachschlagewerk für den gegenwärtigen Stand und die Entwicklung der Grundrechte
und ihrer Dogmatik dienen und zugleich grundrechtliche Wechselwirkungen
verdeutlichen.
Band I „Entwicklungen und
Grundlagen“ (Redaktion D. Merten) ist in zwei Abschnitte unterteilt. Im ersten
Teil wird die Entwicklung der Grundrechte (I. Idee und geschichtliche
Entwicklung und II. geistesgeschichtliche Strömungen) behandelt. Der zweite
Teil ist den Grundlagen der Grundrechte (I. Methodik, II. Strukturen und III.
Voraussetzung, Sicherung und Durchsetzung) gewidmet. Hier sind vor allem
diejenigen Kapitel von Interesse, die sich mit den historischen Bezügen
befassen. Dazu gehört der gesamte erste Teil des Bandes.
Das 1. große Kapitel des ersten
Teils ist mit „I. Idee und geschichtliche Entwicklung“ überschrieben. In dessen
§ 1 befasst sich K. Stern mit den Ideen der Menschen- und Grundrechte. Er geht
den historischen Wurzeln und geistesgeschichtlichen Grundlagen der
Menschenrechte und Grundrechte und ihrer Inhalte bis in die Gegenwart nach. In
§ 2 („Von der Aufklärung bis zum Vormärz“) zeichnet T. Würtenberger die
Entwicklung der Grundrechte in dieser Zeit nach. Er betont u. a. die Bedeutung
des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794 „als eine Art
von Verfassung für den preußischen Staat“, in der „die rechtsstaatlichen
Errungenschaften“ der preußischen Reform- und Rechtspolitik festgehalten worden
sind. Über die Qualifizierung der den Bürgern in den Art. 16 und 18 Deutschen
Bundesakte zugesicherten Rechte mag man streiten (§ 2 Rn. 18). Würtenberger
geht den Ursprüngen einer Grundrechtstheorie und dem Entstehen eines
Grundrechtsverständnisses im Vormärz nach. So entsteht unter Einbeziehung schon
der Rechtsprechung des Reichskammergerichts in der 2. Hälfte des 18.
Jahrhunderts eine eindrucksvolle komprimierte Geschichte der Grundrechte für
einen Zeitabschnitt. In einem weiteren Unterkapitel (§ 3) widmet sich J.-D.
Kühne der Grundrechtsentwicklung von 1848 bis 1914. Er betont das weit
gespannte Konzept und die Funktionen der Frankfurter Grundrechte und erläutert
deren Modernisierungsgehalt. Die Rückschritte und Rückschnitte in der
Reaktionszeit und ein Blick auf die Entwicklung in den Nachbarländern lassen
europäische Interdependenzen erkennen. In dem von H. Dreier verfassten
Unterkapitel „Die Zwischenkriegszeit“ (§ 4) stehen die Grundrechte in der
Weimarer Reichsverfassung im Vordergrund der Betrachtung. Die im Vergleich mit
dem Grundgesetz geringe Wirkkraft der Grundrechte wird vor allem mit den
Gesetzesvorbehalten erklärt. Mit Nachdruck wendet sich Dreier gegen die
„Irrigkeit der verbreiteten These“, bei den Grundrechten der Weimarer
Reichsverfassung habe es sich lediglich um Programmsätze, nicht aber um
unmittelbar geltendes Recht gehandelt. Mit dankenswerter Klarheit hebt er die
Rolle etlicher seinerzeit führender Vertreter des Staatsrechts (u. a. C.
Schmitt und E. R. Huber) bei der „Grundrechtsvernichtung“ in der Zeit des
beginnenden Nationalsozialismus hervor.
Das nächste Unterkapitel „Von der
Spaltung zur Einigung Europas“ (§ 5) beginnt mit dem Jahre 1945. E. Klein
charakterisiert die Auseinanderentwicklung in der Konzeption und der Sicherung
der Grundrechte im Europa der Nachkriegszeit; der Riss ging schließlich mitten
durch Deutschland. Klein betont als entscheidendes Element in der
Grundrechtsentwicklung in Deutschland die universelle und regionale Einbindung
und die hierdurch ermöglichte Wechselwirkung zwischen nationaler und internationaler
Ebene. Unter dem Titel „Grundrechte am Beginn des 21. Jahrhunderts“ (§ 6)
definiert H. H. Klein den aktuellen Grundrechtsbestand unter Einbeziehung der
Landesverfassungen mit ihren unterschiedlichen Grundrechtskatalogen und weist
auf die Lückenlosigkeit des Grundrechtsschutzes hin. Seine Grundrechtskritik
wendet sich gegen den Rechtswegestaat mit der Gefahr des gleitenden Übergangs
„vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen
Jurisdiktionsstaat.“ Auf das schwieriger gewordene Verhältnis des
Grundrechtsschutzes durch Gemeinschaftsrecht einerseits und durch die
europäische Menschenrechtskonvention andererseits wird hingewiesen. Zu dem
Problemfeld „Wechselwirkungen zwischen deutschen und ausländischen
Verfassungen“ (§ 7) trägt P. Häberle eine komprimierte vergleichende
Entwicklungsgeschichte des Verfassungsstaates bei; er weist auf die
Schwierigkeiten hin, die Rezeptionswege der großen Texte, Theorien und Judikate
in ihrer Kausalität im einzelnen nachzuweisen.
Auch der 2. Abschnitt des ersten
Teils des Bandes unter dem Titel „Geistesgeschichtliche Strömungen“ ist für den
Verfassungshistoriker ergiebig. Die Grundrechte und ihre Entwicklung werden aus
der Sicht der katholischen Kirche (§ 8, H. Schambeck) und der protestantischen
Kirche (§ 9, G. Robbers) nachvollzogen. Schambeck betont die metaphysische
Begründung der Menschenwürde durch das Christentum. Robbers merkt an, dass die
Menschenrechte heute ein Zentrum der protestantischen Ethik bilden und das
protestantische Denken in erheblichem Maße einen Beitrag zur Entwicklung der
Idee der Menschenrechte geleistet habe. Unter dem Untertitel „Grundrechte und
Liberalismus“ beschäftigen sich E. Schmidt-Jortzig mit „Grundrechte und
Liberalismus“ (§ 10), O. Depenheuer mit „Grundrechte und Konservativismus“ (§
11) und U. Volkmann mit „Grundrechte und Sozialismus“ (§ 12). Hier wird der
Einfluss der gesellschaftlichen Wandlungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
auf und die Bedeutung der politischen Strömungen für die Grundrechtsentwicklung
deutlich. Besonderes Interesse verdient das Unterkapitel „Grundrechte und
Sozialismus“, in dem Volkmann bis auf den Frühsozialismus zurückgeht. Er
gelangt zu dem Ergebnis, dass sich das Grundrechtssystem nicht zuletzt infolge
der sozialistischen Grundrechtskritik in vielen Teilen von seinen
ursprünglichen liberalen Prämissen entfernt und im Laufe der Zeit eine spürbar
soziale Einfärbung angenommen habe.
In dem Unterabschnitt
„Grundrechte in totalitären Theorien“ wird mit den Themen „Grundrechtstheorie
im Marxismus-Leninismus“ (G. Brunner, § 13) und „Grundrechtstheorien in der
Zeit des Nationalsozialismus und Faschismus“ (W. Pauly, § 14) ein wichtiges
Kapitel juristischer Zeitgeschichte ausgebreitet. Im erstgenannten Kapitel wird
die Entwicklung der Grundrechtstheorie von Marx über Leninismus, Stalinismus,
Poststalinismus bis zu den neuen Verfassungen der östlichen Staaten Europas
nachgezeichnet. In dem Kapitel über Faschismus und Nationalsozialismus werden
auch Italien und Spanien in die Erörterung einbezogen; der Schwerpunkt liegt
allerdings auf der deutschen Entwicklung. Hier wird der Beitrag, den führende
deutsche Staatsrechtler, wie C. Schmitt, O. Kollreutter und E. R. Huber, bei
der Pervertierung der Rechtsordnung gespielt haben, nicht ausgespart. Pauly
charakterisiert die Geschichte der Grundrechte und ihrer theoretischen
Erörterung in dieser Zeit als „Verfallsgeschichte“; einen wesentlichen
Bestandteil dieser Negativbilanz bildet die „angestrebte Deklassierung jedweder
Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“.
Der zweite Teil des Bandes ist
mit dem Titel „Grundlagen der Grundrechte“ überschrieben und umfasst die
Unterkapitel I. Methodik und Interpretation, II. Strukturen und III.
Voraussetzungen, Sicherung und Durchsetzung. Hier finden sich nur noch
vereinzelt historische Bezüge, wie z. B. bei B.-O. Bryde („Programmatik und
Normativität der Grundrechte“) und bei T. Stein („Grundrechte im
Ausnahmezustand“), der einen komprimierten Überblick über die Entwicklung des
Notstandsrechts in Deutschland gibt. Für den Verfassungshistoriker ist der
zweite Teil des Bandes, wenn man von den letztgenannten Kapiteln einmal
absieht, also von geringerem Interesse.
Ausführliche Register erleichtern
den Zugang zu den im Ersten Band behandelten Themen.
Mit dem ersten
Teil des vorliegenden Bandes ist ein für die Verfassungsgeschichte wichtiges
Werk über die Entwicklung der Grundrechte entstanden. Auch wenn die wichtige
Literatur zu Einzelaspekten nicht immer ausgeschöpft worden ist, besteht der
Wert des Werkes u. a. darin, dass verschiedene Autoren aus ihrer Sicht die
Thematik behandeln. So entsteht ein facettenreiches Bild der
Grundrechtsentwicklung, das es bisher in dieser Art noch nicht gab. Auch die
juristische Zeitgeschichte erfährt eine wesentliche Bereicherung.
Hagen Ulrich
Eisenhardt