Günther, Frieder, Denken vom Staat her. Die
bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970 (=
Ordnungssysteme 15). Oldenbourg, München 2004. 363 S.
Die Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts hat die fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts erreicht. Im unaufhaltsamen Historisierungsprozeß beginnt nun auch in Ansehung der bundesrepublikanischen Rechtswissenschaft die historiographische Vorhut die theoretisch-dogmatische Nachhut abzulösen. Namen wie Ernst Forsthoff, Herbert Krüger, Ulrich Scheuner oder Werner Weber stehen zwar nicht mehr im Zentrum juristischer Gegenwartsdebatten, haben aber bis heute Klang im Fach. Namentlich Forsthoffs „Der Staat der Industriegesellschaft“ (1971) und Krügers „Allgemeine Staatslehre“ (1964) umgibt die Aura des großen Titels. Schon diese Buchtitel verraten die fundamentale Staatsorientierung der zeitgenössischen Wissenschaft vom öffentlichen Recht, eben jenes Denken vom Staat her, das die von Anselm Doering-Manteuffel betreute Tübinger historische Dissertation zum Forschungsgegenstand wählt. Auch wenn Krügers Staatslehre den Staat mit der pluralistischen Gesellschaft, die ihn als „besseres Ich“, gefestigte Einheit und Instanz der Nicht-Identifikation erst aus sich hervorzubringen habe, vermittelt (S. 268) und Forsthoffs Werk unübersehbar resignative Züge hinsichtlich der Zukunft der Staatlichkeit trägt (S. 138), steht der Staat doch im Zentrum der Denkbewegung, als Ausgangs-, Flucht- und Haltepunkt sowie als Verlustposten. Die selbst im Kreis der eingeschworenen Etatisten bemerkbare Verunsicherung und Fortentwicklung im Staatsdenken gibt der vorliegenden Studie Anlaß, die Veränderungen des Staatsverständnisses in der deutschen Staatsrechtslehre im Zeitraum von der Entstehung des Grundgesetzes bis zum Beginn der siebziger Jahre zu untersuchen. Dabei bindet der Verfasser die Entwicklungen in der Staatsrechtswissenschaft ein in gesamtgesellschaftliche und politische Transformationsprozesse, ausgelöst insbesondere durch die Westernisierung und speziell Amerikanisierung der Bundesrepublik im Zuge der Westintegration sowie das Wirtschaftswunder mit seinen rasanten Folgen auf dem ökonomisch-technologischen Sektor (S. 11).
Strukturierend für die Untersuchung wirkt die Unterscheidung zweier gruppenspezifischer Denkstile innerhalb der „allgemein“ als geschlossenes Denkkollektiv verstandenen Staatsrechtslehre (S. 17): hier die Schmitt-Schule und dort die Smend-Schule, auf die sich zwar nicht alle Staatsrechtslehrer verteilen lassen, die aber gleichwohl die maßgeblichen Pole in den innerdisziplinären Auseinandersetzungen abgeben. Die um den charismatischen Carl Schmitt gruppierte Schule kennzeichne und verbinde das grundsätzliche Bestreben, den Staat „gegen aktuelle Infragestellungen zu verteidigen“ (S. 10), verbunden mit einem schulspezifischen Dezisionismus und konfliktverschärfenden Denken vom Ausnahmezustand her (S. 124). Den wesentlich durch die liberale, tolerante und gelehrte Atmosphäre im Göttinger „Staats- und verfassungstheoretischen Seminar“ Rudolf Smends geprägten Schülerkreis charakterisiere demgegenüber ein dezidiert gesellschaftsbezogenes pluralistisches Denken, das den noch beim Weimarer Smend anzutreffenden antipluralistischen Etatismus habe verblassen lassen (S. 10 und 42). Hinzu träten ausgesprochene Reformorientierung (S. 160), Harmonismus, Interesse an der Politikwissenschaft, am westlichen Ausland und an Konfliktauflösung sowie ein normativistisches Denken von der Verfassung her, das den Staat und seine Einheit nicht mehr als vorgegeben, sondern als aufgegeben und verfassungsrechtlicher Ausprägung unterliegend betrachte (S. 166ff.).
Innerhalb der Schmitt-Schule werden für den Betrachtungszeitraum zwei Generationen unterschieden, eine ältere mit Ernst Forsthoff, Werner Weber, Theodor Maunz, Hans Peter Ipsen, Ernst Rudolf Huber und Ernst Friesenhahn, wobei gerade bei den letzten beiden die Distanzierung unübersehbar ist, sowie eine jüngere mit Roman Schnur, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Helmut Quaritsch, Helmut Rumpf und dem Scheuner-Schüler Joseph H. Kaiser, dazwischen als Bindeglied Hans Schneider (S. 145), wobei in beiden Generationen nicht allein akademische Filiation, sondern vor allem das Bekenntnis zu Schmitt über die Zugehörigkeit entscheidet. Während Teile der ersten Generation sich zunächst als die „aktiven Feinde des Grundgesetzes“ verstanden (S. 84) und sich erst etwa seit 1952 mit der neuen Verfassungslage arrangierten (S. 115), agierten die Jungen von Anfang an auf dem Boden der gegebenen Verfassungsordnung und versuchten, den schuleigenen Traditionsbestand theoretisch und interpretativ hierein zu vermitteln (S. 127ff.). Insbesondere die massive Ausgrenzung gegenüber Schmitt und seinen Jüngern in den fünfziger Jahren, die namentlich Walter Mallmann als Redakteur und Herausgeber des „Archivs des öffentlichen Rechts“ exekutierte, hätte 1962 zur Gründung der Zeitschrift „Der Staat“ geführt. Berichtet wird über den bis in die 50er Jahre zurückreichenden Vorlauf, die Titelwahl und Programmatik sowie erste Kritik und konzeptionelle Auseinandersetzungen (S. 72, 118 und 225 ff.). Zu den Protagonisten der Smend-Schule rechnen u. a. Horst Ehmke, Peter v. Oertzen, Wilhelm Hennis, Henning Zwirner (S. 159), Konrad Hesse, der wiederum Peter Häberle und Friedrich Müller hervorbrachte, der von Smend promovierte, allerdings bei Heinrich Triepel habilitierte, überaus einflußreiche Ulrich Scheuner sowie Herbert Krüger, der sich der Schmitt-Schule angenähert habe und wie Scheuner als Etatist verbucht wird (S. 180).
In den fünfziger Jahren des Wiederaufbaus hätte die Staatsrechtslehre noch überwiegend an ihrem traditionellen Etatismus festgehalten und den Staat als „substanzhafte homogene Einheit“ begriffen (S. 198), wohl aber in der zweiten Hälfte schon erhebliche Zweifel gehegt, ob ihr dogmatisches Instrumentarium noch zeitgerecht sei (S. 209). Scheuner habe in diesen Jahren die „völlige Stille“ und „Ausfallerscheinungen“ in der Wissenschaft beklagt (S. 215). Zugleich sei diese Zeit die Gärungsphase der Smend-Schule gewesen, die dann in den sechziger Jahren den „Umbruch“ herbeiführte (S. 163). In den „roaring sixties“ sei dann der Durchbruch des gewandelten Staatsverständnisses erfolgt, wobei die erste Hälfte der sechziger Jahre als Umbruchphase firmierte (S. 26), die zweite dagegen den Siegeszug markiert. Die erste Generation der Schmitt-Schule habe sich zunehmend ins Abseits manövriert (S. 264), die zweite jedoch habe sich als anpassungsfähig erwiesen (S. 272), wenngleich die Grundpositionen wie häufig auch die Standpunkte in staatsrechtlichen Einzelfragen kontrovers blieben. Auch von Auflösungserscheinungen der Schmitt-Schule ist die Rede (S. 312). Was der Verfasser hier als ideologischen Ballast etikettiert und zur Glaubenssache erklärt, betrifft jedoch tiefgreifende Differenzen in Grundfragen, die er selbst auflistet, etwa ob der Staat eine von der Gesellschaft abgelöste Herrschaftsorganisation oder eine gesellschaftliche Funktion bezeichnet, ob der Staat der Verfassung vorausliegt oder ihr folgt, ob die Verfassung Grund- oder Rahmenordnung ist (S. 318f.). Sein Fazit, daß das Denken vom Staat her hier „an ein Ende gekommen“ sei (S. 321), relativert sein Hinweis auf „gewisse Indizien“ für eine etatistische Renaissance seit Ende der achtziger Jahre (S. 324). Einen Teil der Akteure zeigt die Arbeit am Ende altersmilde, verständnisvoll und versöhnlich (S. 325f.), ausgenommen Carl Schmitt, der keine „Verwischung“ wünschte (S. 217), im übrigen darüber erbittert war, daß er „heute von jedem Anfänger zur Rechenschaft gezogen werde“ (S. 239). Trotz des Klimawandels in der Zunft und des Bestrebens der Jüngeren, über die Schulgrenzen hinweg in eine „rein wissenschaftliche Auseinandersetzung“ einzutreten (S. 219), wurde der Ton nicht harmonistisch, wie die vom Verfasser aus einschlägigen Nachlässen herangezogenen, teilweise hoch spannenden Briefe innerhalb der Schulen und zwischen den Lagern belegen. Die gut geschriebene Studie vermittelt gerade durch die ausgebreiteten Archivalien zeitgenössische Atmosphäre.
Jena Walter Pauly